Nur kein Wort Deutsch

Jean Winkler sieht für seine 92 Jahre sehr gut aus, er hat nur ein Problem: Er erinnert sich zu gut. Der letzte Überlebende des Massakers von Stein: eine Begegnung in Bourges, Frankreich.

Es ist der 6. April 1945. Françoise kennt das Datum aus der kurzen handgeschriebenen Dokumentation ihres Vaters. Im Jahr 1946 hat er mit Füllfeder auf acht Seiten seine Erlebnisse ab seiner Verschickung in die „Ostmark“ im Februar 1943 festgehalten. Das Papier hat längst einen gelblich braunen Stich bekommen, das Blau ist verblasst, aber so viel Zeit kann gar nicht vergehen, dass Jean diese Jahre vergessen könnte.

Er sieht für seine 92 Jahre sehr gut aus, er hat nur ein Problem, er erinnert sich zu gut. Je älter er wird, desto schlimmer wird es. Jean ist vielleicht der letzte Überlebende des Massakers im Zuchthaus Stein am 6. April 1945. Vor 20 Jahren hat er seiner Tochter Françoise, einer Lehrerin für Chemie und Physik, zum ersten Mal seine Geschichte erzählt, vorher gab es nur viele kleine anlassbezogene Bruchstücke. Selbst das erste und einzige Puzzlestück in diesem Bild mit vielen Leerstellen, an das sich Françoise erinnern kann, ist unbestimmt. Beim Zahnarzt sei sie mit ihrem Vater gewesen, und der habe ihn gefragt, warum er so wenig Zähne habe. Da hat ihr Vater geantwortet: Die hat mir ein Russe ausgeschlagen. Mehr auch nicht. Seit Jahren versucht Françoise diese Leerstellen zu füllen. Sie hat die Dokumente in einer Mappe gesammelt, das Kernstück dieser Sammlung sind die Briefe, die Jean an seine Eltern in Paris geschickt hat.

Die Chronologie umfasst Namen und Adressen und viele Unbekannte. Was bedeutet Strasshof, Maria Lanzendorf, Elisabethpromenade, Gefängnis Margaretenstraße, Stein? In den Briefen schreibt Jean immer wiederkehrend, dass es ihm gut geht, einmal kommt der Hinweis, dass er sogar zugenommen habe. Nur wenige Briefe sind an der Zensur vorbei an die Absender gegangen. Die Zensurbehörde, das ist ein quer über die Seite gesetzter Strich, fast scheint es so, als ob die Macht des Terrors und der Gewalt stärker verblassen müsste als die Fakten. Würden wir nur die Briefe kennen, wer könnte daraus schließen, wie es wirklich um den 21-Jährigen bestellt war. Es geht ihm gut, er bekommt zu essen, bei aller Ungewissheit steht am Ende aber eine Zahl: 38 Kilo hat er gewogen, als er befreit wurde. Jean war in keinem Konzentrationslager, er war Zwangsarbeiter und später Häftling in Stein.

Die Striche des Zensors, quer über die Seite gesetzt, verblassen stärker als das geschriebene Wort. Die Zeit der Zensoren ist längst abgelaufen, und dennoch sind die Spuren noch lesbar, auf den Briefen und im Leben der letzten Überlebenden. Die Macht des Zensors konnte nichts ausrichten gegen geheime Botschaften der Solidarität. In einem Brief hat Jean quer in die linke Ecke geschrieben: „ça boum“ („es bewegt sich“), den Slogan der Widerstandskämpfer. Wie sollte das ein Zensor wissen?

„Ich verteidige mich“

Und in einem Brief steht am Ende keine positive Nachricht. Mit krakeliger Schrift klein geschrieben, steht der beunruhigende Satz, dass er sein Augenlicht verloren habe, aber auch hier ein Zusatz: „je me défends“ („Ich verteidige mich“).

Jean muss ein Kämpfer gewesen sein, bereits mit 20 Jahren hat er in der Flugzeugfabrik St. Cloud Aufstände organisiert. Widerstand gegen die Deutschen gab es seitens der Arbeiter, aber auch beim Besitzer des Werkes. Die Deutschen wollten, dass Marcel Dassault als „wirtschaftlich wertvoller Jude“ sein Wissen für sie zur Verfügung stellt. Dassault weigerte sich und kam dafür ins Konzentrationslager Buchenwald. Die Verschickung in die „Ostmark“ war eine Strafmaßnahme gegen den widerständigen Jean. Im Werk Dassault hat Jean auch nach seiner Befreiung gearbeitet, er war auch dann Mitglied der kommunistischen Partei und der Gewerkschaft. Dass sich auch seine Kinder politisch betätigen, das war ihm nicht recht, er hatte Angst um sie und fürchtete, dass ihnen ein ähnliches Schicksal drohen könnte. Seine Tochter Françoise hat sich an den Rat des Vaters nicht gehalten, sie hat für das Linksbündnis kandidiert und war sechs Jahre als Abgeordnete im Regionalparlament.

Heute lebt Jean im Herzen Frankreichs, in Bourges. Einem historischen Ort, an der Demarkationslinie zwischen dem besetzten Frankreich und dem freien Frankreich. In Bourges gibt es seit 2010 ein beeindruckendes Museum über die Geschichte mit einem angeschlossenen Archiv. Geschichte hat eine besondere Bedeutung, wie sonst könnte hier ein so großzügig gestaltetes Museum und Archiv stehen? Wer reist, stellt immer wieder Vergleiche an, unwillkürlich fällt mir dabei das Dokumentationsarchiv in Wien ein. Die räumliche und finanzielle Situation ist wohl nicht vergleichbar. 12 points go to Bourges. Doch auch im selbstbewussten Frankreich gibt es weiße Flecken. Das Schicksal von Jean Winkler gehört dazu, denn Jean wird man vergeblich auf der Liste der Opfer des Verbandes der Résistance und der Deportierten finden. In dieser Liste werden nur Französinnen und Franzosen geführt, die im Land Widerstand geleistet haben, wer im besetzten Deutschland oder in der „Ostmark“ gearbeitet und dort Widerstand geleistet hat und inhaftiert wurde, gehört nicht dazu.

Spät aber doch gab es die Möglichkeit einer Wiedergutmachung für diese Gruppe von französischer Seite und auch von Österreich. Françoise hat die Formulare für ihren Vater ausgefüllt. Das Ansuchen wurde positiv beurteilt und Jean Winkler ein Geldbetrag zugesprochen, doch Jean ist ein Dickkopf und hat sich geweigert, das Geld anzunehmen: Er habe das nicht für Geld getan.

Françoise kennt die Alpträume des Vaters, die an kein Datum geknüpft sind, aber im vergangenen April wurde alles wieder lebendig. Françoise hat wieder einen Versuch unternommen, mehr über die Geschichte ihres Vaters herauszufinden, und im Internet gesucht. Am 6. April abends erhielt ich ein E-Mail mit dem Hinweis, dass leider auf meiner Website die Informationen nur auf Deutsch zu finden seien. Gibt es den Roman „April in Stein“ auch in französischer Übersetzung? Nach einer kurzen E-Mail-Konversation stand der Besuch in Bourges fest. Valerie, meine Tochter, die ein Jahr in Paris gelebt und gearbeitet hat, würde übersetzen, Gerhard Pazderka, mit dem ich schon den Film über Hadersdorf machen konnte, filmen. Zwei Tage vor der Abfahrt teilte mir Françoise mit, ihr Vater weigere sich, uns zu sehen. Wir fliegen trotzdem, wir wollen es wissen, vielleicht haben wir Glück. Als uns Françoise im Hotel abholt, meint sie nur, ihr Vater bleibe dabei, er wolle uns nicht sehen, er habe Alpträume genug. Wir spazieren durch das malerische Städtchen Bourges. Die politische Geschichte von Jean, seines Widerstandes und seiner Haft zwischen Fachwerkhäusern. Ein erstes Kennenlernen mit der Geschichte der Familie Winkler. Im Schatten der Kathedrale zeigt Françoise uns ihre Mappe, liest Passagen aus den Briefen vor. Und zeigt uns auch den Originalbericht, den ihr Vater geschrieben hat.

Nach einem Besuch im Museum werden wir in ihr Haus in La Celle, 40 Kilometer von Bourges, fahren, um mit ihr ein Interview zu führen. Die drei Katzen sind über uns Eindringliche im kleinen Haus, einem umgebauten Weinkeller, nicht begeistert. Das Schnurren macht sich als Hintergrundgeräusch nicht besonders gut, und so müssen sie für eineinhalb Stunden vor der Tür bleiben. Ein idyllischer Flecken, die Rotschwänzchen wippen auf der Steinmauer. Und: 50 Prozent des kleinen Ortes stimmen mittlerweile schon für den Front National . . .

Jean geht nicht mehr viel aus dem Haus, so wird er mit dieser Realität nicht konfrontiert, Jean lebt in und für seinen Garten. Françoise meint: Das sei eben die Krise und die Angst. Nach dem Interview ruft Françoise ihren Vater an. Er erwartet uns, wir können ihm hallo sagen. Er hat aber nur eine Bedingung: kein deutsches Wort. Nach fünf Minuten Fahrt parken wir vor dem Haus. Wir werden Jean in seinem Haus sehen und nicht nur via Google-Streetview. Als der Kamerawagen durch den Ort fuhr, um die Häuser internettauglich festzuhalten, war Jean gerade in der Glasveranda. Wer genau schaut, sieht ihn. In den vergangenen Tagen hatte ich mich schon fast damit abgefunden, Jean nicht zu begegnen. Das Google-Foto seines Hauses mit dem lebendigen Schatten wäre ein Symbol gewesen.

Jean kommt uns entgegen, Händeschütteln, im Hintergrund läuft das Fernsehgerät. Er berichtet, dass er 16 Enkelkinder habe, das Haus habe er so groß gebaut, damit alle Platz hätten, jetzt sei es bei den Familienfeiern fast zu klein. Von seiner Zelle in Stein habe er Richtung Berg geschaut, und manchmal seien dort die Menschen hinaufgeklettert, hätten Nachrichten für die Gefangenen hinuntergerufen.

Jeden Monat in einer anderen Zelle

In seiner Zelle waren ein Pole, ein Kroate, ein Tscheche. Eine Verständigung mit den Gefangenen sei fast nicht möglich gewesen. Ein Sprachenmischmasch. Jeden Monat wurde Jean in eine andere Zelle verlegt, er arbeitete an Tarnnetzen, wurde zum Bombenentschärfen nach Wien geschickt, arbeitete in den Gustloff-Werken in der Nähe des Zuchthauses.

Als sich die Tore des Gefängnisses am 6.April 1945 öffneten, sei er rund einen Tag marschiert und habe mit zwei anderen Franzosen aus Stein bei einem Bauern Zuflucht gefunden. Ein Franzose habe ihn gerettet, er habe nichts mehr behalten, keinen Schluck Wasser, keine Milch, bis der Franzose ihm Pferdeblut zu trinken gegeben habe.

Als Jean diese Geschichte erzählt, hat er Tränen in den Augen, dass er den Namen seines Retters, der ein französischer Kriegsgefangener war, nicht kennt, das quält ihn bis heute. Für ihn heißt er „Banane“, denn er hatte eine eigentümliche Frisur mit einer Tolle als Haarschopf. Dann sei er in ein Wehrmachtsfahrzeug eingebrochen und habe eine Landkarte gestohlen, er wollte zu Fuß nach Hause gehen. Nicht nur die Tatsache, dass es sich bei dieser Landkarte um eine Spezialkarte für Flieger handelte, ließ ihn von seinem Vorhaben absehen. Am 18.Mai 1945 erreichte er Linz, eine Woche später flog er nach Paris zurück.

Françoise bedeutet uns, nicht weiterzufragen, sie kennt ihren Vater, wir verabschieden uns. Wir werden Jean nicht mehr fragen können, wie er in Wien in Kontakt zu den kommunistischen Widerstandskämpfern kam, wie er gefoltert wurde, wie sich diese Szene im April abgespielt hat, als Jean gemeinsam mit einem Zellengenossen gegen einen SS-Mann kämpfte und sie siegreich blieben, wie es war, als sie in den Hof kamen und sahen, wie die SS Granaten und Flammenwerfer einsetzte, wie die Zivilisten auf der Straße sie beschimpften und angriffen, wie sie trotzdem entkommen konnten. Dies wird für immer ungeklärt bleiben. Wir haben versucht das Schweigen des Schmerzes zu brechen, und wir haben Hände geschüttelt: 17 Minuten und kein Wort Deutsch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2015)

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