Zwischen Grexit und Charybdis

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Der Kurs des griechischen Kahns wurde von schrillen Zurufen begleitet. An den Ufern hatte sich eine lautstarke Elite der Ökonomen versammelt. Nicht nur deren Widersprüchlichkeit könnte das Vertrauen in ihre Kompetenz arg beschädigt haben. Warum es kam, wie es nicht kommen musste: Hinweise zur griechischen Tragödie.

Bittere Ironie der europäischen Geschichte: Der Staat, auf dessen Boden vor fast zweieinhalbtausend Jahren zum ersten Mal ein ideales Staatswesen ersonnen wurde, ist an den inneren und äußeren Bedingungen von heute gescheitert. Die griechische Polis, das Urmodell der Öffentlichkeit und Freiheit, kann mit Mitteln der heutigen Politik das Elend unschuldiger Bürger nicht verhindern. Das Land, das dem Kontinent seinen Namen gegeben hat, wurde vom ehrwürdigen Ahnen zum deprimierenden Notfall.

„Theoretisch hat die Platonische Utopie offenbar viel bessere Chancen, menschliche Angelegenheiten ein für allemal zu ordnen und zur Ruhe zu bringen. Sie bietet vor allem den Vorteil, dass die Bürger alle zusammen wie ein Mann handeln würden, womit prinzipiell die Möglichkeiten des Parteihaders und Bürgerkriegs ausgeschlossen sind“ (Hannah Arendt, „Vita activa“). Theoretisch! Bei der Aufnahme Griechenlands hat unter anderem die Berufung auf das geistige Erbe der Antike übersehen lassen, dass makroökonomische Kriterien damit nichts zu tun haben.

Die Verwirrung über den verhängnisvollen Hergang der griechischen Tragödie könnte nicht größer sein. Auf Jahre hinaus ist die Zukunft durch materielle, vor allem aber ideelle und menschliche Schäden vorbelastet. Aber noch spricht nicht viel dafür, dass nun endlich längerfristige Perspektiven den Vorrang bekommen vor Dogmatismus und Engstirnigkeit, vor Fälligkeitsterminen und Zinsrelationen. Es wäre zu hoffen, im Interesse Griechenlands und Europas.

Rasch bei der Hand ist, die unfasslichen Abläufe mit bösartigen Verschwörungen zu erklären. Andere lassen sich auf die in Europa noch immer schlummernden nationalen Ressentiments ein. Vorwurf in Richtung Akropolis: „Faulheit“, „unverantwortliche Sorglosigkeit“, „Schlamperei“, „Undankbarkeit“. Bittere Wut zurück an die Spree: „Rechthaber“, „buchhalterischer Kleingeist“, „Sparfanatiker“, „rücksichtslos“, „menschenverachtend“ – und auch „Nazi-Tyrannen“. Politiker, vor allem aber Medien, keineswegs nur ganz extreme, sind sich nicht zu gut, solche Vorurteile zu bedienen und den billigen Beifall des Publikums einzufahren.

Und die Experten? In Platons „Politeia“ orientiert sich – Interpretation durch Hannah Arendt – der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten an dem zwischen Experten und Laien. Die Regierenden verfügen über Expertise. In der aktuellen Wirklichkeit des Kampfes um den „Grexit“ beschimpften sich „die Experten“ in offenen Briefen und neunmalklugen Blogs gehässiger denn je: „monströse Torheit“, „Inkompetenz“, „kriminelles Kaputtsparen“ aus den USA in Richtung Deutschland, aber auch beidseits des Atlantiks zwischen den Lagern der „Keynesianer“ und der „Austerianer“.

Unrealistisch zu wünschen, die Experten mögen bitte mit einer Stimme sprechen und sich tunlichst an objektive Fakten halten. In der Realität, mit der es Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu tun haben, gelten weder unverrückbare Naturgesetze noch reproduzierbare Messungen unter Laborbedingungen. Alles ist in Fluss, und wenig ist konkret zu messen. Daher ersetzt ideologische Voreingenommenheit, wofür bestenfalls unvollständige Evidenz vorliegt, und macht sich daraus ein subjektiv plausibles Gesamtbild.

Die Ökonomie, die traditionell vorgibt, zu messen und zu rechnen, ist für verdeckte Vorurteile besonders anfällig. Als Beleg werden unsystematische Episoden und zeit-, orts- und situationsabhängige Erfahrungen angeführt. Eine Nachprüfung dieser meist bruchstückhaften Empirie ist – insofern ähnlich wie in Naturwissenschaften – aufwendig und undankbar. Daher entfällt sie meist. Nicht wenige Ökonomen unterliegen der Versuchung, sich mit unzulänglicher Empirie zu begnügen, um eigene Vorurteile, politische Opportunität oder Ansehen als Experte nicht durch das Eingeständnis „Das ist auch für mich ein Rätsel“ zu erschüttern.

Anfang der Neunzigerjahre untersuchten zwei italienische Ökonomen, Francesco Giavazzi und Marco Pagano, zeitgeschichtlich abgeschlossene Episoden des Abbaus von Staatsdefiziten in einzelnen europäischen Staaten. Bis dahin erwartete das gängige Lehrbuch, dass Sparen des Staates auf die Volkswirtschaft kontraktiv wirkt. Gibt es Situationen, in welchen entgegen diesen konventionellen Erwartungen Einsparungen des Staates die Konjunktur nicht dämpfen, sondern umgekehrt sogar stimulieren?

Die ungewohnte Annahme einer „expansiven Konsolidierung der Staatsfinanzen“ nannten die Autoren die „deutsche Hypothese“, weil der deutsche Sachverständigenrat so argumentiert hatte: Das Sparen des Staates – Austerität – stimuliere die Ausgabenneigung der privaten Haushalte und Unternehmen, weil sie darin in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler ein Indiz für künftig niedrigere Steuern sähen. Eine solche „nicht-keynesianische“ Reaktion der Bürger hätte in der Tat fundamentale Bedeutung für die Wahl budgetpolitischer Strategien. Gefunden wurden immerhin einige wenige Fälle, die die Möglichkeit „expansiver Budgeteinsparungen“ zu bestätigen schienen.

Unter Makroökonomen brach, wie sich denken lässt, eine heftige Diskussion über diese Analyse aus. In einer so wichtigen Frage zog sie zahlreiche weitere empirische Überprüfungen nach sich. Die Theorie wurde dadurch präzisiert und insgesamt verbessert: Eine Einschränkung der öffentlichen Ausgaben hat demnach direkt unvermeidlich kontraktive Effekte. Aber die könnten unter spezifischen Konstellationen wirtschaftlicher oder politischer Rahmenbedingungen in der zweiten Runde durch „nicht-keynesianische“ Effekte ausgeglichen werden. Der Gesamteffekt hängt von vielen Umständen ab: von der augenblicklichen konjunkturellen Dynamik, von der Bedeutung des Außenhandels und von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft, von Wechselkursen und der Höhe der Zinsen, natürlich auch vom relativen Umfang der Budgetkürzungen und davon, ob der Staat eher Ausgaben senkt als Steuern erhöht. Natürlich hängt alles von der Größe und Dynamik der schon vorhandenen Schulden ab und davon, ob vielleicht Dritte (siehe Kärnten!) für die Schulden haften. Im Einzelfall spielt die Glaubwürdigkeit der Politik für Bevölkerung und Kapitalmärkte eine entscheidende Rolle. Mit einem neu-österreichischen Wort: Die Wahl der budgetpolitischen Strategie ist „situationselastisch“ zu treffen.

Jüngst hat eine sorgfältige Untersuchung des Internationalen Währungsfonds Hinweise dafür erbracht, dass „keynesianische“ Effekte, also kontraktive Wirkungen einer gesamteuropäischen Sparpolitik, doch gewichtiger und weniger harmlos sind, als die europäische Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahren annehmen wollte. „Nicht-keynesianische Effekte“ sind jedenfalls nicht die Regel.

Solche alles andere als simplen Zusammenhänge und Konstellationen bilden auch einen Hintergrund für die Auseinandersetzungen über die Sanierung der griechischen Staatsfinanzen. Vielleicht ist es mir gelungen, die komplexe Entscheidungssituation nicht nur der griechischen Regierung, sondern auch der europäischen Partner verständlich zu machen.

Stellenweise wurde gegen die Verantwortlichen für die Währungsunion der Vorwurf erhoben, sie hätten die drohende Gefahr für Griechenland und für den Euro nicht rechtzeitig erkannt. Die Technokraten in der EU-Kommission und in der Europäischen Zentralbank hätten die fortschreitende Überschuldung Griechenlands übersehen oder seien darüber getäuscht worden. Das ist nicht ganz richtig: Die jährlichen Prüfungen der Budgetpolitik Griechenlands, die dem Euro-Rat vorgelegt und veröffentlicht worden waren, hatten lange vor der internationale Finanzkrise 2008 mit ausreichend deutlichen Worten auf die unhaltbar hohe Verschuldung hingewiesen und rasche Maßnahmen zu deren Eindämmung gefordert.

Weder führte das aber zu ausreichenden Korrekturen durch die damals verantwortlichen griechischen Regierungen noch zu einem energischen Einschreiten der EU-Politik. Die griechischen Parlamentswahlen im Herbst 2009 brachten die Opposition an die Macht. Die sah sich nach einem „Kassasturz“ genötigt, die Angaben für das zu erwartende Staatsdefizit von ohnehin zu hohen 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf nicht weniger als 12,7 Prozent hinaufzukorrigieren. Es hatte sich herausgestellt, dass die amtliche griechische Statistik, veranlasst von der vorhergehenden Regierung und unter kundiger und provisionsschwerer Anleitung durch große Investmenthäuser der Wall Street, die amtlichen Daten manipuliert hatten.

Die Nachricht ließ keinen Zweifel mehr am Ernst der Situation. Die Bonität des griechischen Staates stürzte ab. Griechenland konnte ein so enormes Staatsdefizit nur noch zu untragbar hohen Zinsen für Kredite finanzieren. Ab dem Frühjahr 2010 hätte der Staat fällige Rückzahlungen nicht mehr bedienen können. Beistand der Partner in der Währungsunion musste in Anspruch genommen werden. Deren Bedingungen wurden von der sogenannten Troika konkretisiert, die dabei zum Gottseibeiuns der Griechen avancierte. Zusammen mit Beamten der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank wurden wegen der dort größeren Erfahrungen mit solchen Rettungsaktionen auch Experten des Währungsfonds aus Washington nach Athen abgeordnet.

Dringend notwendige Erleichterungen für den griechischen Staat wurden in zeitlicher Erstreckung der Tilgung und Senkung der Zinssätze sowie in einem ersten Schuldenverzicht gewährt. Unter drei Bedingungen: Zusage eines scharfen und von der Troika überwachten budgetären Sparprogramms, rasche Inangriffnahme struktureller Reformen in dem byzantinischen Staatsapparat und Auflage eines raschen Verkaufs von Staatsvermögen.

Es sind nicht diese Grundelemente der damals oktroyierten Strategie an sich, die so verheerende Folgen hatten. Auch ein für die hellenische Republik gnädigerer Plan einer dauerhaften Sanierung hätte diese Elemente unvermeidlich enthalten müssen. Den Weg ins Unglück steckte aber ein verheerendes Konglomerat von Illusionen ab.

Für ein so weitreichendes Reformunterfangen war allein schon der extreme Zeitdruck der Verhandlungen ruinös. Gewiss sind Ungeduld und Zugeknöpftheit der Partner verständlich, die selbst in der Rezession steckten und hohe Staatsdefizite hinzunehmen hatten. Vor allem aber hat die ins neoliberale Weltbild passende Ideologie „nicht-keynesianischer Effekte“ – der Einfluss der „deutschen Ansicht“ (Giavazzi-Pagano) – eine entscheidende Rolle gespielt. Das förderte fatal überspannte Erwartungen auf schon bald eintretende positive Wirkungen der „Sanierung“. Wunschdenken über eine vermeintlich wieder in Gang kommende Erholung Europas aus der Krise 2008/2009 passte dazu. Der unvermeidliche Zeitbedarf für das Wirksamwerden von Reformen im ineffizienten Staatsapparat, in dem Klientelismus und Korruption blühten, wurde krass unterschätzt. Solche Konzepte benötigen auch in einem moderneren Staat Zeit. Auch die Vorgaben für den raschen Verkauf und für den Erlös von Staatsvermögen waren unrealistisch, bedenkt man, dass der Verkäufer mit dem Rücken zur Wand stand: eine wunderbare Gelegenheit für „Schnäppchen“, aber auch Auslöser für erbitterten Widerstand.

Schreiende soziale Unausgewogenheit der Programme muss politische Reibungsverluste beim Versuch der Durchsetzung hervorrufen, die einzukalkulieren gewesen wären. Eine schmale Bevölkerungsschicht, die sich seit Menschengedenken auf Kosten des Staates bereichert hatte, konnte sich rasch mit ihrem Vermögen aus dem Staub machen, während der bescheidene Wohlstand der großen Mehrheit der Bevölkerung massiv beschnitten werden sollte. Dies blockiert die Bereitschaft, eine nationale Notsituation solidarisch zu tragen. Auch nüchterne Technokraten – und deren Chefs in Frankfurt, Brüssel und Washington – hätten den Optimismus als unheilvolle Illusion erkennen müssen.

Nicht einen Spar- und Reformkurs vorzuschreiben war also grundsätzlich falsch; aber auf eine ideologisch genährte Verheißung einer wundersam raschen Überwindung der Krise zu setzen war fatal. Unter den kurzfristig gegebenen Verhältnissen bewirkte der den Gläubigernationen genehme Zweckoptimismus unerfüllbar harte Bedingungen und den unnötig tiefen Absturz der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft. Ein seither um sich greifender und immer schneller sich drehender Mahlstrom setzte sich in Gang: würgende Schuldenlast, Rückzahlungstermine, Drohpotenziale und Abhängigkeit, Gnadengesuche, weiterer Schuldenerlass, Hilfsprogramme, akute Ansteckungsgefahr für andere Euro-Länder und Bedrohung des Euro. Unter dieser technischen Oberfläche taten sich soziale Abgründe auf und politische Destabilisierung, die das Einhalten der Bedingungen vollends unmöglich machten. Der schuldlosen Bevölkerung ist nicht zu verdenken, dass sie dazu schließlich Óchi sagte.

Im Mythos muss der listenreiche Odysseus sein Schiff zwischen den tödlichen Zähnen der Skylla und dem alles verschlingenden Sog der Charybdis hindurchsteuern. Unbeirrt auf geradem Kurs gelingt ihm das, nicht ohne Verluste an seiner Mannschaft. Sein Urenkel Tsipras, kaum weniger listig als der Ahne, steuerte einen Zickzackkurs zwischen der Skylla eines Grexit und der Charybdis der Selbstaufgabe, hin und her gerissen von Ideologie, unhaltbaren Versprechungen und den Mächten des Faktischen. Damit brachte er die widerwillig an Bord Dienst tuende Crew Schäuble, Merkel und Hollande, zwischen denen ohnehin tiefe Auffassungsunterschiede schwelen, völlig durcheinander. Ob der moderne Odysseus aber so sein Ithaka erreichen kann, ist sehr zweifelhaft. Nicht nur in Griechenland, sondern auch in Europa müssten Wunder geschehen.

Weder neoliberale Dogmen noch klassenkämpferische Ideologien kennen Kategorien wie Glaubwürdigkeit, Prestige, Mitgefühl und Vertrauen. Die Standardmodelle wissen nichts über Gier und Launen der Spekulation und nichts über Zorn, Hoffnung und Verzweiflung von Völkern. Sie verstauen die politische, soziale und psychologische Szenerie makroökonomischer Entscheidungen in Blackboxes, in welchen entweder eine „unsichtbare Hand“ wirkt, oder, ebenso unwirklich, edle soziale Wohlmeinung.

Der Kurs des griechischen Kahns wurde von schrillen Zurufen begleitet. An den Ufern hatte sich eine lautstarke Elite der Ökonomen versammelt. Nicht nur deren Widersprüchlichkeit, sondern auch wenig vornehme Beschimpfungen könnten Ansehen und Vertrauen in die Kompetenz der Experten arg beschädigt haben. In der Welt des 21.Jahrhunderts scheinen die dogmatischen Standpunkte zumindest nicht hilfreich. Weder die Handschaltung der Budget- und der Beschäftigungspolitik noch die Automatik des Marktes funktionieren befriedigend.

Trotz dieser Beobachtungen brechen die ideologischen Kontrahenten ihren verbissenen und fruchtlosen Streit über Staats- oder Marktversagen nicht ab. Auch Religionskriege gehören ja leider noch immer nicht der Vergangenheit an. Angesichts einer enorm unübersichtlichen Situation versagen beide, Politik und Markt, noch dazu in schicksalhafter Tateinheit – und nicht nur im Fall Griechenland. Offenbar ist die Welt in eine Epoche eingetreten, für die Nassim Taleb mit großem Erfolg seine „Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ („Antifragilität“, 2012) anbietet.

Der unbeirrte Rückgriff auf politische Ideologien, die sich schon im vergangenen Jahrhundert verheerend manifestiert haben, kann die tiefen Entwicklungsrisse in der modernen Gesellschaft nicht begreifen. Auch die fachliche und institutionelle Auffächerung der Wissenschaft wird ihnen nicht gerecht. Die Probleme sind „undiszipliniert“. Spezialisierung in der Wissenschaft soll als unerlässliche Möglichkeit, genauere Einsichten zu erreichen, nicht geleugnet werden. Sie hat aber die Fähigkeit der modernen Gesellschaft und besonders der Experten, größere und kohärente Bilder der gesellschaftlichen Situation und Perspektiven zu gewinnen, beeinträchtigt. Erst das verspricht größere, kohärente Bilder der gesellschaftlichen Situation. Übersichtskarten großer Regionen einer Welt der Möglichkeiten fehlen als Orientierung. Ihre Kartografie wird wie auf alten Atlanten oft den Hinweis „Terra incognita“ tragen müssen.

Das Fahrwasser, in das die Welt und Europa geraten sind, hat weit mehr als zwei oder drei Dimensionen. Akzeptiert man das Faktum außerordentlicher Komplexität, ist daraus die Bereitschaft zu Kompromissen abzuleiten. Die nächsten Schritte sind weniger auf „Richtigkeit“ als auf „Gangbarkeit“ zu prüfen. Der Begriff des Pragmatismus kommt dem nahe. Wer in Mitteleuropa zu Hause ist, weiß, dass sich eine solche Haltung dem Verdacht der Beliebigkeit aussetzt. Aber auch in dieser Weltgegend ist die Gesellschaft in der Postmoderne angekommen.

Der Sturm einer wohl säkularen Krise hat auf der Baustelle eines europäischen Hauses nicht nur finanzielle Verwüstungen angerichtet. Die Bewohner komfortabler Wohnungen konnten wenigstens ihre Fenster schließen. Sie sind aber um ihren materiellen Wohlstand tief besorgt. Die noch in weniger ausgebauten Teilen des Bauwerks leben, wurden von mehr als bloß Unbehagen erfasst. Sie gerieten in Not. Die Verantwortlichen für den Weiterbau werden von beiden Seiten bedrängt. Der Raum für Bewegung in der Politik verengte sich. Nicht nur deren Finanzierung. Böse Verengungen zeigen sich auch bei Solidarität und Mitmenschlichkeit, da und dort sogar erschreckender.

Die Griechenland-Probleme wurden am vergangenen Sonntag natürlich nicht gelöst. Es sind sogar einige neue aufgetaucht. Europa wird sie nicht mit ein paar Federstrichen los. Aber zum ratlosen Umherirren der Politik treten nun da und dort Nachdenken und Initiativen, die sich fragen: „Was bedeutet mir das Schicksal der Griechen, was bedeutet mir Europa?“ Und manche finden darauf persönlich Antworten, die eher beglückende Hoffnung geben auf ein gedeihliches Zusammenleben im gemeinsamen Haus als die Fesselung der Politik. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2015)

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