Die Piraten von Livorno

„Expedition Europa“: auf der Suche nach Italiens Online-Demokraten.

In einer der großen Volkswirtschaften der Welt läuft ein Experiment: Eine Partei, die ein Viertel der Parlamentssitze besetzt, behauptet, ihr Programm mittels Mitgliederabstimmungen im Internet festzulegen. Die Partei heißt „Bewegung Fünf Sterne“. Ihr Führer, der Komiker Beppe Grillo, brüllt seit einem Jahrzehnt „Gehts in Oasch“ herum. Beinahe unsichtbar ist der zweite Mann, der Internetunternehmer Gianroberto Casaleggio. In seinem Film „Gaia“ sagt der feingliedrige Vegetarier den Dritten Weltkrieg voraus. Eine Milliarde Menschen bleibt übrig, danach aber wird alles gut. Staaten und Religionen verschwinden, Google bleibt, und ab 2054 gibt es nur noch gleichberechtigt partizipierende Bürger des einen weltweiten Web. Ich will die Anfänge dieser Internetdemokratie sehen.

Das ist nicht ganz leicht. Nirgends kommt man so schwer ins Netz wie in Italien, die WLAN-Versorgung ist unterm Hund. Auch haben die „Fünf Sterne“ keine Parteilokale, die man aufsuchen könnte. Sitzungen werden über die US-Website „Meetup“ organisiert, für Nichtmitglieder sind die Treffpunkte uneinsehbar. Nur für die venetische Kleinstadt Quinto di Treviso ist eine Adresse angegeben, ein kuscheliger Telefonshop für afrikanische Kunden. Der italienische Inhaber, Wähler der „Fünf Sterne“, lacht: „Das Meetup war vergangenes Jahr.“

Über Casaleggios Buch „Web ergo sum“ komme ich auf Livorno. In jener Hafenstadt suchte Casaleggio den Komiker 2004 nach einer Show auf. Grillo schreibt: „Alles war klar, er war ein Wahnsinniger. Er war befallen von dem neuen Wahnsinn, demzufolge sich alles dank Netz zum Besseren wendet.“ Ein Jahr nach dem Start zählte Grillos Blog zu den zehn erfolgreichsten der Welt – und im erzroten Livorno regieren die „Fünf Sterne“.

Nichts, eine ganze Stunde lang

Ich ans Tyrrhenische Meer. Die Geburtsstadt der italienischen KP empfängt mich mit schäbigen Leitplanken. Kaum eine halbe Stunde von Formalitäten, und schon surfe ich im neuen WLAN der Gemeinde. Verwirrt schwanke ich zwischen 5stellelivorno.it und livorno5stelle.it. Die einen werfen den anderen vor, nicht von Grillo genehmigt zu sein.

Am prächtigen Rathaus hängt eine Regenbogenfahne. Ich marschiere zu den Klubräumen, werde eingelassen. „Darf ich sehen, wie Ihre Onlinedemokratie funktioniert?“ Zwei schlanke Herren antworten: „Sehr gern!“ Ich frage Alessandro und Giuseppe, ob ihnen mein Besuch auch keinen Ärger einbringt; immerhin wurde schon ein Viertel der Parlamentsabgeordneten ausgeschlossen. Ich bin nicht von der italienischen Presse, mich fürchten sie weniger. Sie prahlen: „Im Freihafen Livorno haben alle Zuflucht gefunden, Piraten, Huren.“ – „Sind Sie Piraten?“ – „Si, si.“

Gemeinderat Giuseppe erzählt, dass er in internen Vorwahlen Kandidat wurde. Na ja, an der Vorwahl hätten nur 150 Mitglieder teilgenommen, „so 20 waren für mich“. Bei 160.000 Einwohnern nicht gerade eine Volksfront. Sie beschreiben mir die Prozedur: Zunächst bekommt das Mitglied eine Mail von Beppes Blog, dieser ruft die Abstimmung aus. Mitgliedschaft bei Meetup und Facebook wird vorausgesetzt. Die Abstimmung selbst findet wiederum auf dem Portal Airesis statt. „Darf ich schauen?“ – „Sicher.“ Ich starre auf den Bildschirm. Die Liste mit den Vorschlägen, über die üblicherweise 48 Stunden lang abgestimmt wird, lässt sich nicht öffnen. Da plaudern wir halt so über die Abstimmungsthemen: „Am populärsten war die Forderung nach Gratis-Öffis.“ Ich sitze sicher eine Stunde bei Giuseppe und Alessandro, Airesis bleibt aufgehängt. Vielleicht habe ich auch die falschen „Fünf Sterne“ zwecks Internetdemokratie besucht. In diesem Fall bitte ich die echten um Nachsicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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