Ein Bahnhof ohne Züge

Ich bin früher gerne und oft in die Nationalbibliothek gegangen. Ich habe den Lesesaal geliebt. Nie quälte mich Zwielicht, es herrschte unbedingte Stille, das Personal kompetent und freundlich, die meisten Plätze besetzt mit lesenden Menschen. Was davon geblieben ist? Erregung eines Leidenden.

Natürlich werden vielleicht einige, Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die Meinung vertreten, Bücher zu lesen sei ein alter Hut, Schnee von gestern, wozu Bücher sammeln und den an ihnen haftenden Staub einatmen, es gibt eh das Internet; Hauptsache es stehen ausreichend Anschlüsse für alle möglichen Formen tragbarer Computer zur Verfügung, für null Euro, bitte sehr.

In der Früh bei Bibliotheksöffnung reiten sie ein, schlendern lässig, die diversen tragbaren IT-Geräte unterm Arm, zur Buchausgabe, deponieren einen Ausweis, nehmen den Epoxidharz-Stab, extrem retro und der letzte seiner Art, in Empfang, betreten gemütlich und angeregt plaudernd (still zu sein ist eine vorsintflutliche, längst ausgestorbene Tugend) den Lesesaal, stöpseln ihr Gerät ein – und ab in die Stadt auf ein gediegenes Frühstück.

Ich bin früher gerne und viel in die Nationalbibliothek gegangen. Ich habe den Lesesaal mit den grünen Leselampen und den zugezogenen Vorhängen geliebt. Nie quälte mich Zwielicht, es herrschte unbedingte Stille, das Personal – kompetent und freundlich, vorherrschend die Aushebung und Bereitstellung von Büchern, jeder Winkel erfüllt von ihrem Geruch, die Räume untermalt von einer gewissen gediegenen Schlampigkeit. Die meisten Plätze besetzt mit lesenden Menschen, der eine oder die andere hatte schon einen Laptop dabei, aber als Arbeitsinstrument, Energieversorgung vom Akku, nicht aus einer Bibliothekssteckdose. In allen Servicebereichen herrschte eine gewisse Großzügigkeit.

Und noch etwas: Ich arbeitete damals über die römische Basilika S. Sebastiano fuori le Mura und hatte im Augustinerlesesaal, seit Jahrhunderten Aufbewahrungsort der alten, in der Regel lateinisch verfassten Literatur, eine sensationelle Trefferquote. Auch die sogenannte christliche Archäologie, die Ende des 19. Jahrhunderts in Rom aufblühte, beziehbar nunmehr im Haupthaus am Heldenplatz, war bestens repräsentiert. Nebenbei bemerkt befanden sich kunstgeschichtliche Werke im leicht mit einem Aufzug erreichbaren Tiefspeicher, weil die Albertina wegen Umbaus geschlossen war. Heute ist dieses Material in die Albertina abgewandert, was zu einer sehr mühseligen Zweiteilung geführt hat.

Als ich zehn Jahre später eine Einleitung zu meiner Studie über den heiligen Sebastian schreiben wollte, hatte sich alles verändert. Die Themen „Heilige und Medizin“, „Heilige und Pilgerreisen“, „Heilige und ihre Darstellung in der Kunst“ boomten, und zwar hauptsächlich im englischen Sprachraum. Die Sichtung der neuesten Literatur erbrachte für die zehn Jahre, in denen mein Werk, das bis heute keinen Verleger gefunden hat, in der Schublade schlummerte, Unmengen an Neuerscheinungen und Quellenpublikationen. Ich betrat also wieder die Nationalbibliothek, aber die Trefferquote war so schlecht, dass mir schlecht wurde. Was war geschehen?

Heutzutage betrete ich durch die Sicherheitsschleusen, die jeden und jede abweisen, der/die keinen gültigen Plastikkartenausweis hat, das, jawohl, so ist es, mit Getränke-, Kaffee- und Fressautomaten vollgestellte, den Charme der Lounge eines Selbstbedienungshotels verströmende Bibliotheks-Entree am Heldenplatz, wo es in der Tat zugeht wie in einer Bahnhofswartehalle: auf dem Boden leere Wurstsemmelpapierln, Plastikflaschen, die wenigen Mistkübel überquellend, ununterbrochenes Handyläuten, in Fauteuil-Rondos laute Unterhaltungsfetzen. Daran vorbei zur Buchausgabe, heute mehr denn je zum Lachen. In den gut 300 Regalfächern stecken wohl Ausweise, aber nur wenige weiß hervorleuchtende Bücherzettel. Eine Zeit lang war es so, dass man den Lesesaal betreten, aber keinen freien Platz vorgefunden hat, dafür aber von einer Batterie an eingestöpselten IT-Geräten, den Platzhaltern, begrüßt wurde. Bücher waren auf den Lesetischen kaum zu sehen. Der Lesesaal hatte die Funktion eines Internetcafés übernommen, sehr beliebt, weil gratis.

Apropos Lesesaal. Die grünen Leselampen sind längst entfernt, grässliches Zwielicht quält meine leidenden Augen. Im Sommer ist es heiß, im Winter pfeift der Wind durch, zu hören ist das klassische Sausen, begleitet von einem nun auch schon ein paar Jährchen durch den Lesesaal flutschenden Aufzugsgeräusch, mit seinem ständigen Stop-and-go-Getöse schwer an den Nerven eines um Konzentration kämpfenden Lesers zerrend.

Apropos Leser: Mittlerweile sind die IT-Geräte abgesiedelt. Wohin? Ich weiß es nicht. Freie Plätze zuhauf, weil sich der Abzug der Freunde und Freundinnen des Internetcafé-Betriebsklimas nicht durch Hereinlocken neuer Leser kompensieren lässt. Trotz der Erweiterung der Öffnungszeiten. Das einst freundliche Personal ist heute gefrustet, in sich gekehrt, verrichtet, wie man meinen möchte, Dienst nach Vorschrift. Es wird ihnen nicht leicht gemacht. Bei der Erneuerung meines Bibliotheksausweises wurde mir die Entlehnberechtigung entzogen, von einem Magister Soundso, der irgendwo in einem Kammerl hockt und Menschen kontrolliert, die er nie im Leben zu Gesicht bekommt. Aber was soll's, es gäbe sowieso nichts mehr zu entlehnen, weil die Nationalbibliothek den Erwerb fremdsprachiger Literatur mehr oder weniger eingestellt hat. Die Trefferquote bei meinem neuen Thema, einer Überblicksdarstellung der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, nähert sich nämlich der großen Null.

Und sage jetzt keiner: Es gibt doch das Internet! Wirklich auf die Palme gebracht hat mich eine nur scheinbare Kleinigkeit. Womit ich beim Kapitel Fernleihe angelangt wäre. Da die Literatur in Wien nicht mehr greifbar ist, muss ich immer öfter auf die Fernleihe ausweichen. Das war früher eine eigene Stelle, besetzt mit zwei äußerst kompetenten Damen, bei denen man unter ihrer Mithilfe Scheine ausgefüllt hat und sofort Bescheid wusste, dort und dort gibt es den Text, ja, mit dieser Institution arbeiten wir zusammen, Kostenpunkt sowieso. Diese Stelle und das gesamte Prozedere wurden abgeschafft und ins Internet verlagert. Fernleihe nur mehr möglich über ein Internetfenster der Nationalbibliothek.

Grundsätzlich habe ich mit dem Internet kein Problem. Wenn ich aber dann die Auskunft erhalte, über Fernleihe bestellte Texte seien nach Eintreffen bei der Buchausgabe und nur dort zu bezahlen und entgegenzunehmen, fühle ich mich gefrotzelt: Diese Regelung bedeutet für mich mindestens eineinhalb Stunden Anreise hin zu einer Institution, die mich erst durch zweifelhafte Wahrnehmung ihrer Aufgaben zum Ausweichen auf die Fernleihe zwingt, um mich dann auch noch zu umständlicher An- und Abreise zu nötigen.

Das wollte ich einmal zum Thema Nationalbibliothek gesagt haben. ■


Peter Zakravsky, Jahrgang 1952, Dr. phil., lebt als freier Journalist in Groß-Enzersdorf bei Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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