Wer Patronen ins Feuer wirft

THEMENBILD / WAHLEN IN KAeRNTEN / LAeNDERPORTRAeT: ZWEISPRACHIGE ORTSTAFEL
THEMENBILD / WAHLEN IN KAeRNTEN / LAeNDERPORTRAeT: ZWEISPRACHIGE ORTSTAFEL(c) APA/GERT EGGENBERGER
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Vier Jahre ist es her, da wurde der große Ortstafelfriede zu Kärnten geschlossen. Was hat sich seither in meiner einstigen Heimat verändert? Und wie steht es heute um meine Muttersprache, das Slowenische? Ein Lokalaugenschein.

Im Jahre 2011 haben der damalige Kärntner Landeshauptmann und die drei Vertreter der Kärntner Slowenen mit Zustimmung der Bundesregierung in einem Memorandum eine Übereinkunft ausgearbeitet, worin für die Aufstellung von zweisprachigen Ortsaufschriften knapp 15 Prozent der mehr als 1100 slowenischen Ortsnamen in Kärnten ausgewählt wurden. In diesen 163 Orten stehen jetzt zweisprachige Ortsbezeichnungen – im Dörfchen meiner Kindheit klein und hinter Bäumen versteckt. Vereinzelt gibt es auch zweisprachige Wegweiser. Ich hätte lieber alle im Jahre 1972 beschlossenen und widerrechtlich entfernten zweisprachigen Aufschriften aufgestellt gesehen, denn damit wäre der sogenannte Ortstafelsturm nicht nachträglich mit einem Verfassungsgesetz gutgeheißen worden.

Wie steht es nun um meine Muttersprache, was hat sich in meiner einstigen Heimat geändert? Vieles und doch wenig. Die Orte meiner Kindheit stimmen mit meiner Erinnerung längst nicht mehr überein, Altes ist verschwunden, das Neue wächst immer rasanter: Wege, Straßen, Häuser, Dörfer. Den weitläufigen, geheimnisvollen Wald meiner Jugendzeit, die Dobrowa, wird bald eine für die Koralmbahn errichtete Hochleistungsstrecke der ÖBB zerschneiden und dabei meinen Schulweg nach St. Michael/Šmihel für immer versperren. Auf der Saualm suche ich lange vergeblich nach jener Hube, von der ich vor 60 Jahren einen Sommer lang täglich die frische Kuhmilch ins Tal habe fahren dürfen. Die alten, für Pferdefuhrwerke angelegten Wege sind inzwischen aufgelassen worden – und wer weiß, vielleicht lebt diese Almwirtschaft nur noch in meiner Erinnerung weiter.

In Diex wird entrümpelt. Die Bauern verstellen mir mit ihren mit Sperrmüll beladenen Traktoranhängern die Zufahrt zum Gemeindeamt. Einige Männer verstummen, als ich an ihnen vorbeikomme. Haben sie slowenisch geredet, wie noch vor 60 Jahren? Mit dem Verzicht auf den slowenischen Namen verliert der Ort ein altes Kulturgut, meine ich zum jungen, kürzlich neu gewählten Bürgermeister; er lächelt.

Auf meine spontane Frage, ob er denn bereit wäre, zusätzlich auch den alten slowenischen Ortsnamen „Djekše“ anzubringen, antwortet der freundliche Gemeindevorsteher entschlossen: „Nein! Wir wollen hier in Ruhe leben.“ Dieser Name sei nicht slowenisch, er komme aus dem Französischen, meint er. Doch innerhalb der Mauern um die alte, zweitürmige Wehrkirche überraschen mich neben dem Kirchenportal die Verlautbarungen der Pfarrgemeinde Diex/ Djekše auch in slowenischer Sprache. Ein Kulturverein und ein Bildungshaus laden in beiden Sprachen zu Veranstaltungen ein. Also lebt hier die slowenische Sprache noch, die Männer haben es mir nur nicht zeigen wollen.

Gerne hätte ich ihren Dialekt gehört, das Sprachverbot ist doch bereits seit 70 Jahren aufgehoben. Haben sie sich dafür geschämt? Im Tal erfahre ich später, dass es nördlich der Drau keinen slowenischen Schulunterricht gibt und Eltern ihre Kinder auf eigene Kosten in die zweisprachige Volksschule nach Klagenfurt bringen, wenn sie ihnen eine Bildung auch in ihrer Muttersprache ermöglichen wollen. So kann Diex in Ruhe leben. An den Gräbern finde ich auch einige slowenische Aufschriften. In der dem heiligen Martin geweihten Kirche sind die Bilder des Kreuzweges aus dem Jahre 1886 in altem Slowenisch untertitelt. An der historischen Wehrmauer ist eine große Gedenktafel für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten angebracht, mehr als drei Dutzend Männer haben ihre Leben in fremden Ländern lassen müssen. „Ist das nicht ein Irrsinn, lauter junge Leute. Hat das sein müssen?“, fragt mich eine vorbeikommende ältere Frau mit Gießkanne. Ja, ein Irrsinn, der in der Welt doch täglich geschieht, pflichte ich ihr bei.

Ich erwähne die slowenischen Grabaufschriften, und sie meint, dass sie noch Slowenisch könne, aber ihre Kinder sprechen es nicht mehr.

Am Hof meines einstigen Arbeitgebers in St. Stefan beginnt ein Geschoß aus dem Kärntner Abwehrkampf nach fast 100 Jahren zu wirken: Der Verputz um das in der Mauer steckende Schrapnell zeigt Sprünge. Auf der dem Hof zugewandten Seite eines Bildstockes segnet Christus die Kärntner Volksabstimmung von 1920; Abwehrkampf und Volksabstimmung haben hier noch ihre eigene Symbolkraft behalten. Niemand ist zu sehen, ich zünde für die Verstorbenen an ihrem Grab am angrenzenden Friedhof eine Kerze an.

Im Ortsteil Sankt Ruprecht der Bezirkshauptstadt Völkermarkt erlebe ich eine weitere Überraschung. Sind mir bisher an den Gräbern der deutschen Soldaten die roten Rosen besonders aufgefallen, so überwältigt mich hier jetzt ein Meer von blühenden Narzissen. Fleißige Hände betreuen die Gräber und machen sie zur würdigen Gedenkstätte. Und da klingen mir wieder die Worte aus Diex in den Ohren: „Ist das nicht ein Irrsinn, lauter junge Leute. Hat das sein müssen?“

Das Massengrab der auf dem Gebiet der Saualm gefallenen Partisanen wirkt ungepflegt. Auf der mit Kies bedeckten Grabfläche sprießen vereinzelt Grasbüschel, hohe Thujen verwehren von außen die Sicht. Der wuchtige Sockel wirkt ohne die 1953 abgesprengten Figuren für eine Opferschale viel zu pompös. Die neu zusammengefügten Partisanenfiguren bewachen jetzt den Perschmanhof und blicken von dort in die Karawanken, wo auch Partisanen gekämpft haben.

Zwei Jahre später hätte diese Sprengung der Republik Österreich Probleme bringen können, da sich Österreich nach Artikel 19 des Staatsvertrages verpflichtet hat, „die auf österreichischem Gebiet befindlichen Gräber von Soldaten, Kriegsgefangenen und zwangsweise nach Österreich gebrachten Staatsangehörigen der alliierten Mächte und jener der anderen vereinten Nationen, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befanden, zu achten, zu schützen und zu erhalten“. In diesem Grab ruhen laut Aufschrift „83 antifaschistische Widerstandskämpfer aus acht Staaten: Österreich, Frankreich, Italien, Jugoslawien, Polen, Sowjetunion, Großbritannien und der USA“.

Am Sockel des Denkmals lehnt ein kleiner, roter Plastikkranz: „On behalf of the People of the United Kingdom – In Remembrance“. Hier soll der Aufschrift nach auch der britische Verbindungsoffizier Hesketh Richard (Major Cahusac) ruhen.

Warum will die hiesige Bevölkerung auf ihrem Friedhof kein Partisanengrab sehen? Die Gründe der Abneigung scheinen in der mangelnden Aufarbeitung einer schrecklichen Vergangenheit zu liegen. Über das Wirken der Partisanen auf Kärntner Gebiet sind von Fachleuten zahlreiche Publikationen erschienen, die Wahrheit sollte allen längst bekannt sein.

Als Siebenjähriger habe ich das Ende des Krieges nur am Himmel über der Dobrowa erlebt. Besonders intensiv haben sich mir das Duell zweier Jagdflugzeuge im Blickfeld über der Saualm, der Beschuss eines Militärtransportzuges aus Bordkanonen keine 50 Meter neben mir, die Fallschirmabsprünge britischer Soldaten aus einem brennenden Flugzeug und das Dröhnen der Bomberstaffeln über unseren Köpfen eingeprägt. Ich habe nur einen einzigen deutschen Soldaten erlebt. Er ist abgehetzt, ohne Waffe und Dienstgradabzeichen aus dem Wald gekommen, hat mich um Trinkwasser gebeten und um die Richtung nach Klagenfurt gefragt. Hat er es dorthin geschafft, oder blühen jetzt auf seinem Grab Narzissen?

Jene Kämpfer der „Osvobodilna Fronta“ aus Jugoslawien, die einige Zeit das Jauntal besetzt hatten, habe ich nie gesehen, aber sie sind mir trotzdem in schlechtester Erinnerung geblieben. Ich habe das Pferd am Zügel führen müssen, mit welchem die am Rinkolacher Feld verstreuten, aufgedunsenen, ekelhaft stinkenden Rinderkadaver in eine Schottergrube geschleift wurden. Ohne die Gefahr zu kennen, habe ich Patronen, die sie in der Landschaft haufenweise hinterlassen haben, wie Kastanien ins Lagerfeuer geworfen. Einige Kinder sind dabei getötet worden. Meinem Vater haben sie die Wohnung ausgeräumt und ihn zur Scheinerschießung auf einen Misthaufen gestellt. Als Kommunisten sind sie auch Gegner meiner katholischen Erzieher gewesen – ich habe also keinen Grund, für sie zu sprechen. Doch kann ich nicht über ihren Einsatzes zur Befreiung Kärntens von der faschistischen Diktatur urteilen, wenn ich sie nur als Banditen und Mörder sehe – so viel Toleranz muss sein.

Erst 60 Jahre nach dem Krieg habe ich mit einem ehemaligen Kärntner Partisanen sprechen können. Ich wollte vom inzwischen verstorbenen Lipej Kolenik wissen, warum er in der „Osvobodilna Fronta“, der jugoslawischen Befreiungsfront, gekämpft hat. Er hat mir gesagt, dass es in Kärnten keine andere Möglichkeit eines organisierten, bewaffneten Widerstandes gegeben habe. Auf meine Frage, ob er für den Anschluss des slowenisch besiedelten Kärntner Gebietes an Jugoslawien oder gar für ein kommunistisches Kärnten gekämpft habe, hat er mir milde lächelnd geantwortet, er habe nicht für Jugoslawien und als Katholik schon gar nicht für den Kommunismus gekämpft, sondern gegen Hitler und die Wehrmacht. Mit dem Einsatz seines Lebens hat er verhindern wollen, dass seine Heimat bei einem faschistischen Deutschland verbleibt, es war ja nicht absehbar, wie lange das Deutsche Reich bestehen würde.

Wie recht er hatte, in manchen Köpfen lebt es noch heute weiter! Er hat der Republik zur Erreichung des ersehnten Staatsvertrages bestätigt, dass er für die Befreiung Österreichs gekämpft habe. Nach seiner Heimkehr als Schwerverletzter sei er verbittert gewesen, weil der elterliche Bergbauernhof in Flammen aufgegangen und er als Invalide 13-mal in Gefängnissen gesessen sei. Die ihn verhört haben, hätten mit Kriegsende nur die Uniform gewechselt, hat er gemeint.

In Artikel 7 des Staatsvertrages wurden den Kärntner Slowenen Rechte zuerkannt, um damit ihr Überleben in der neuen Republik Österreich zu sichern und gleichzeitig Jugoslawien zu bewegen, auf Gebietsansprüche zu verzichten. Doch erst 56 Jahre danach wurde in Kärnten einem Kompromiss über topografische Aufschriften zugestimmt. Ob ohne Nachweis eines bewaffneten Widerstandes der Staatsvertrag zustande gekommen wäre oder nicht, bei den Kärntner Slowenen haben die Partisanen tiefe Gräben hinterlassen und sie für immer entzweit; katholischer Glaube und Kommunismus sind unvereinbar.

Die Kärntner Slowenen haben sich durch ihre Spaltung selbst geschwächt, und der Mehrheitsbevölkerung war es nur recht, im Kampf gegen den Kommunismus einen Teil der Slowenen als Verbündete gewonnen zu haben. Die Gründung einer dritten Vertretung gereicht nur der deutschen Mehrheit zum Vorteil, denn jetzt wird die Minderheit in drei Richtungen geführt. Damit nicht genug, zwei Vertretungen schwächen mit ihrer Mitgliedschaft in einer „Konsensgruppe“ weiter die Geschlossenheit der Volksgruppe. Jede Vertretung hat ihre eigenen kulturellen Organisationen und verleiht ihre eigenen Anerkennungspreise. Ohne Wiedervereinigung und gegen eine hohe Prozenthürde ist für die Volksgruppe auch die Erreichung eines Landtagssitzes unmöglich geworden, damit man dort gemeinsam ihre Interessen verteidigen könnte.

Vor einer derart geschwächten und geschrumpften Sprachgruppe scheint sich nur noch der Traditionsverein der „Kärntner Abwehrkämpfer“ zu fürchten, er fordert den Wegfall der Mittel für die Volksgruppe. Und vor diesem Verein hat anscheinend wiederum die Landesregierung Respekt, weil sie sich nicht entschließen kann, die Volksgruppe der Kärntner Slowenen in der neuen Landesverfassung mit ihrem Namen zu benennen und damit endlich den deutschsprachigen Kärntnern gleichzustellen.

In Gesprächen habe ich aber doch eine wesentliche Beruhigung der Lage feststellen können, es fallen kaum noch minderheitenfeindliche Bemerkungen, zweisprachige Ortstafeln sind kein Thema mehr. Der Kärntner Landeshauptmann pflegt bei Gelegenheit seine Reden mit immer besser werdender Aussprache auch in Slowenisch zu eröffnen. Die Anmeldungen zum slowenischen Schulunterricht steigen jährlich, obwohl ich bei Besuchen merke, dass Eltern ihren slowenischen Dialekt immer seltener an ihre Kinder weitergeben. Verkehrte Welt: Slowenische Eltern scheuen die Tradierung ihrer Muttersprache, viele deutschsprachige Eltern haben hingegen ihren Wert erkannt und melden ihre Kinder zum Slowenischunterricht an. Den Sprachunterricht wird es also noch weiter geben, aber sobald der letzte Kärntner Slowene seine Kinder deutsch erzogen hat, gibt es in Kärnten keine autochthone slowenische Minderheit mehr.

Während der Heimfahrt wird mir bewusst, dass die Ruinen der dunklen, nicht aufgearbeiteten Vergangenheit den menschlichen Beziehungen noch immer Grenzen setzen und darauf nichts gerade stehen kann. Wird es für immer so bleiben, oder wagt sich doch noch wer an die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte, damit über die vor langer Zeit entstandenen Gräben endlich Brücken führen werden? Dann werden die Kärntner Slowenen ihre jahrtausendealten Mundarten in der Öffentlichkeit nicht mehr verschämt verschweigen und die Sprache an ihre Kinder weitergeben. Die Orte werden stolz auch ihre slowenischen Namen tragen wollen. Erst dann können die Toten eines längst vergangenen Irrsinns gemeinsam betrauert werden. An allen ihren Gräbern wird es Blumen geben – und nie wieder Bomben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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