Ein Ohr, wie es wenige besitzen

Die Verlängerung in die Zukunft oder rhetorische Schlaufen mit dem Hörrohr: über die Schwerhörigkeit von Adolf Loos und dessen Inszenierung.

Adolf Loos schaut mit gesenktem Blick aus dem Bild, den Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Hand über der Ohrmuschel gewölbt. Offensichtlich horcht er: eine bemerkenswerte Geste, da Loos tatsächlich seit seiner Kindheit schwerhörig war, ein Zustand, der sich im Laufe seines Lebens stetig verschlechterte, sodass er sich im Alter, fast vollständig ertaubt, nur noch durch Sprechzettel verständigen konnte. Seltsam genug, dass Loos sein körperliches Handicap offenkundig inszeniert, anstatt es unsichtbar zu belassen. Auf anderen Portraits hat er auch noch sein relativ großes Hörgerät mit ins Bild genommen. Das Foto stammt aus einer Serie, die Trude Fleischmann 1929 fotografierte, auf einem weiteren Bild sieht man Loos wiederum in einer horchenden Geste. Diesmal hat er sein Hörrohr am Ohr angesetzt, sodass sein beweglicher, gewundener Schlauch vor dem Körper eine Schlaufe zieht, und hält seinen Trichter mit der anderen Hand ins Bildaußen. Auf einem Foto, das seine damalige Frau Claire Beck in ihrem gemeinsamen (selbst entworfenen) Wohnzimmer geschossen hat (1929), steht Loos kerzengerade vor seinem Kaminabzug, die Arme über dem Schoß zusammengeführt, und lässt den langen, an einer Stelle in sich verknoteten Metallschlauch von seiner Hand herabhängen. Die nach unten offene, u-förmige Biegung des Rohrs setzt sich in den Wellenlinien des Kamingitters fort, das hinter Loos horizontal entlangläuft.

Das schimmernde Gerät ist ein merkwürdiges Ding. Ist es nutzloser Zierrat oder rein funktional, eine Extension des Hörsinns, das Hörrohr als buchstäbliche Verlängerung des Ohrs? Loos selbst hat seinen Kampf gegen das Ornament zwar in seinen gebauten Räumen nie so absolut gesetzt, wie er häufig aufgefasst wird (und hätte übertriebenen Purismus auch prätentiös und ornamental gefunden). In seinen Schriften aber hat er diesen Kampf mit Vorliebe inszeniert und satirisch überzogen, sodass es legitim scheint, ihn auch in seiner bildlichen Selbstdarstellung zu orten. Bekanntlich hat Loos seine Thesen zu Architektur und Gebrauchsgegenstand vom menschlichen Körper abgeleitet, und seinen entsprechenden Schönheitsbegriff, der nicht kantisch, sondern zweckökonomisch begründet ist, am Beispieldes menschlichen Gesichts erläutert: „die schönsten augen, praktische, scharfe augen, und nicht kurzsichtige, blöde (?), eine nase, durch die man gut atmen kann. den schönsten mund, die schönsten zähne, zähne, mit denen man die speisen am besten zerkleinern kann.“ Die Ohren fehlen in dieser Aufzählung bezeichnenderweise, aber vielleicht hätte an ihrer Stelle auch einfach das Höhrrohr gepriesen werden können.

Angesichts von Loos starker Schwerhörigkeit ist bemerkenswert, welche Stellung die Akustik in seinem Leben einnahm. Er schrieb Musikkritiken und trat für Schönberg,Berg und Webern ein, zudem waren ein Teil seiner veröffentlichten Texte, auch „Ornament und Verbrechen“, Manuskripte ehemaliger Vorträge, bei denen er für gewöhnlich frei sprach. Wie Loos in seinem Sammelband„Ins Leere gesprochen“ erläutert, soll der geschriebene Text so nah wie möglich der gesprochenen Rede folgen: So lehnt er auch die Großschreibung von Hauptwörtern ab, weil sie phonetisch redundant ist. Die Majuskel ist nach Loos nutzloser Zierrat und Deutschtümelei, auf die die angelsächsische Grammatik der Amerikaner und Briten, modern wie diese sind, verzichtet. All das heißt aber nicht, dass Loos die literale Rede (Stichwort: Ornamentkritik als Sprachkritik) absolut gesetzt hätte oder so naiv gewesen wäre, das Sender-Empfänger-Problem zu übergehen – im Gegenteil, wozu sonst die Satire.

Auf dem Frontispiz des Essaybandes „InsLeere gesprochen“ taucht das Foto vom horchenden Loos wieder auf, hat aber in der Gegenüberstellung mit dem Buchtitel seine Bedeutung verkehrt. Anstatt auf die eigene Schwerhörigkeit verweist die horchende Hand jetzt auf das Schweigen der anderen Seite, auf fehlende Resonanz in der Öffentlichkeit. Auf seinem zweiten Essayband, „Trotzdem“ von 1931, hat Loos wiederum ein Bild von sich mit der Hand vor dem Ohr anbringen lassen. Taub zu sein oder nicht, scheinen die Montagen zu sagen, ist schlicht eine Frage dessen, ob man sich Gehör verschaffen kann.

Ganz ähnlich liest sich auch ein Essay über „die kranken Ohren Beethovens“ von 1913. Die Geschichte lautet folgendermaßen: Beethoven, seinerzeit vom Bürgertum verachtet, wird unterstellt, nur seine kranken Ohren könnten eine solche Musik verursachen. Ein Jahrhundert später wird Beethoven plötzlich auch von den Bürgern verehrt, aber warum? Haben sie „Ehrfurcht bekommen vor dem Willen des Genius? Nein, sie sind alle krank geworden. Sie haben alle die kranken Ohren Beethovens. Durch ein Jahrhundert haben die Dissonanzen des heiligen Ludwig ihre Ohren malträtiert. Das haben die Ohren nicht aushalten können. Alle anatomischen Details, alle Knöchelchen, Windungen, Trommelfell und Trompeten erhielten die krankhaften Formen, wie sie das Ohr Beethovens aufwies. Und das komische Gesicht, hinter dem die Gassenbuben spottend nachliefen, wurde dem Volk zum geistigen Antlitz der Welt“.

Die Analogie zwischen den zwei Ohrenkranken (auch Beethoven versuchte seiner fortschreitenden Taubheit mit Hörrohren abzuhelfen) liegt nahe. Aus dem Text, der mit dem Satz „es ist der Geist, der sich den Körper baut“ schließt, scheint die Hoffnung zu sprechen, dass auch im Anschluss an das Jahr 1913 ein solcher Sinnes- und Gesinnungswandel möglich sein könnte. Dabei zeigt die Geschichte der wundersamen, ja heilsamen kollektiven Degeneration durch die Ohrenkrankheit, wie wenig wörtlich bzw. wie polemisch Loos seinen eigenen Fortschrittsbegriff genommen hat, der ihm vor allem durch seine Aussagen über den Zusammenhang von Ornament, Kriminalität und Atavismus gerne vorgehalten wird. Die Geschichte der Ohrenkrankheit, die eigentlich fortschrittlich ist, der die übrige Bevölkerung erst nachkommen muss, macht aus Loos' Hörrohr ein geradezu futuristisches Instrument: ein Ohr, wie es nur wenige besitzen, eine Verlängerung in die Zukunft.

Und, keine Frage, zumindest modern ist das Gerät: Es ist zeitlos schlicht und widerspricht so der Zierwut des österreichischen Bürgertums, das gemeinhin „hörrohre mit rokokogriffen. oder gothisch. oder barock. je nach wünschen des bestellers“ will, um gegen die moderne Technik anzukommen, und das, Nietzsche zum Trotz, „nicht aus der lebensform formen schafft, sondern mit hilfe von formen lebensformen schaffen will“. Das Hörrohr von Loos verkörpert im Gegensatz geradezu das Ideal einer modernen „Gebrauchsform“, da sich sein bewegliches Mittelteil jeder Körperhaltung anpasst – zugleich können sich mit ihm, wenn nötig, auch rhetorische Schlaufen ziehen lassen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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