Eine Blume im Haar. Vielleicht.

„Expedition Europa“: Verbrüderung, rumänisch-moldawisch.

Langes Irren durch Gräser am Stadtrand von Ungheni, zumGrenzfluss runter. Ohne einen alten Unghener fände ich die berühmte Eisenbahnbrücke nicht. Allmählich höre ich eine Menge skandieren: „Ja!“ Unter der Grenzbrücke, deren Architekt in Paris einen recht bekannten Turm aufgestellt hat, sind ein paar hundert Moldawier versammelt. Einige in Trachten, einige mit Blumen, alle mit rumänischen Trikoloren.

Nach genau 25 Jahren ist wieder „Blumenbrücke“. Bis dahin voneinander isoliert, haben einander im Sommer 1990 auf der Eiffelbrücke zwei rumänischsprachige Nationen umarmt, Moldawier und Rumänen. Ich folge dem Reenactment der tränenreichen Verbrüderung am moldawischen Ufer des Prut. In Moldawien war bislang nur eine kleine Minderheit für den Anschluss an Rumänen, dank hemmungsloser Räubereien der moldawischen Elite steigt der Zuspruch. Das rumänisch-moldawische Verhältnis spiegelt das deutsch-österreichische wieder. Nur dass Österreich nicht von ukrainischen, russischen, gagausischen und bulgarischen Landstrichen zersiebt ist, die russisch sprechen und im Fall eines Anschlusses das russische Militär rufen.

Der moldawische Staat ist so lässig drauf, dass er eine Hundertschaft Polizisten ausschickt, um eine Demo für die Auflösung seiner selbst zu ermöglichen. Vor den Gleisen ein Dutzend mobiler Zollschalter, mit den neuen biometrischen Pässen dürfen Moldawier visafrei in die EU. Durch ein Megafon kommt die Ansage: „Wir gehen alle nach Iaşi.“ Was, ich soll 20 Kilometer bei Hitze zu einer Demo in eine unwirtliche Großstadt hatschen? Ein Beamter bestätigt: „Auf dieser Brücke kommen Sie nicht mehr nach Moldawien zurück.“

„Ich bin ein Feind der Sowjets“

Ich plaudere lieber herüben mit den Unionisten. Eine dürre Kopftuch-Alte will mit erhobener Marienikone passieren, macht doch mehr her als die verfluchte Biometrik. Mehrmals abgewiesen, versucht sie von hinten auf die Brücke zu klettern, über den Zaun. Später hält sie mit spitzen Fingern einen Pfirsich hoch und sucht einen bestechlichen Polizisten in der Phalanx. Irgendwann nimmt einer die Frucht. Die Alte wird aber abgeführt. Ein Alter erzählt mir mit Atemnot, dass er unter moldawischen Deportierten geboren wurde, in der sibirischen Tundra, minus 40 Grad. Er betont, dass die Russen „ein würdiges Volk“ seien, „nur ihr Staat? In meinem Dorf gab's viele Feinde.“ – „Feinde von wem? Den Sowjets?“ – „Ja“, ruft er, als hätte ich ihm das lang vermisste Wort eingeflüstert, „ich bin ein Feind der Sowjets!“

Der Großteil der Marschierer gehört gut organisierten Jugendgruppen an, fast alle aus Kischinau oder Calaraşi. Mich aber bewegt ein gebücktes, schäbig gekleidetes Mädchen. Die Maturantin aus Edineţ sagt: „Ich verlasse heute das erste Mal Moldawien.“ Sie sagt auch, sie sei mit Freunden da, ich sehe aber keinen. Ihr rechter Fuß steckt in einem Verband, der ausgelatschte Schuh hängt dran. „Hingefallen“, sagt sie und senkt den Blick. Sie kann nur auf der Ferse gehen, ihr ganzer Fuß zittert, in Wahrheit kann sie nicht einmal gerade stehen. „So wollen Sie 20 Kilometer gehen?“ Sie nickt heftig, senkt wieder den Blick. Nun, da sie die Biometrik hat, will sie in Cluj Journalismus studieren. Mir zieht es das Herz zusammen.

Am Ende stehe ich unter der Eiffelbrücke. Ich sehe die Demonstranten am rumänischen Ufer in einem Rechteck stehen, höre eine feurige Rede. Die Polizei verscheucht mich vom Fluss. Ich stelle mir die Maturantin aus Edineţ vor. Wie sie jeder Schritt schmerzt. Wie sie rumänische Erde betritt, wie sie vielleicht ein Rumäne umarmt, wie er ihr vielleicht eineBlume ins Haar steckt, das einzige Mal in ihrem Leben. Dann war die fragwürdige Demo doch für was gut. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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