Weiter. Nicht stolpern!

Wien. Schauen. Spazieren gehen. Nur scheinbar etwas wirr durch die Stadt, wieder einmal. Über Kleingeisterei, Budenrummel, Begegnungszonen und andere Kleinigkeiten.

Wien wird weiterhin zentral verhüttelt. Schauen. Spazieren gehen. Nur scheinbar etwas wirr durch die Stadt, wieder einmal. Es springt dir, wagt man es, sich dem mutig zu stellen, die feige, oft kümmerliche Politik der vergangenen Jahre entgegen, gestalterisch und ideologisch. Ja, zugegeben, Wien ist eine kleine Großstadt geworden. Es gibt weltweit sowieso nur zwei Dutzend davon, alle anderen Häufungen sind Massenquartiere.

In Wien kann man bekanntlich sicher, teuer und sauber wohnen. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe schaffen dich flugs zu ziemlich allen wichtigen Punkten. Die Verwaltung wird immer netter. Und die Mistentsorgung ist überhaupt Weltspitze. Dass man in Wien (Hauptstadtwasserkopf plus Bundesland) prozentual zur Bevölkerung gerechnet täglich die meisten Kulturevents der Welt vorfindet (von den Bühnenschlachtschiffen über die Pracht der internationalen bildenden Kunst, beide mit einem Repertoire aus etlichen Jahrhunderten, bis zu intimen Lesungen und Vernissagen), ist zwar manchmal für manche ob der Riesenkonkurrenzen ein Überlebensproblem, für Konsumenten und Staunende aber recht fein. Allein, warum dann diese wachsenden Auswüchse an Scheußlichkeiten oder Kleingeisterei, gewürzt mit Anti-Urbanismus?

Lostanzen, durch Wien, mit flotten Schnitten im schalen Bildrausch.


Dennoch, wie sehr und wie oft dich mein Auge bewundert, du sprichst mir / nicht mehr zum Herzen wie einst, weithin gebreitete Stadt. (Ferdinand von Saar, „Wiener Elegien“, 1893, aus Nr. III)


Der Budenrummel-Karlsplatz mit seinem historischen Museum, das sich fälschlicherweise Wien Museum nennt, wird mehr und mehr zum verbauten (billiger Aktionismus allerorten) oder wüsten (zwischen Künstlerhaus und vor dem Musikverein) Feld. Das Museum allerdings ist bleibend herzig. Inhaltlich: weil brave Volkshochschule und kein Museum. Räumlich: weil nur mehr skurriler Altbau, weitgehend ungeeignet für Kulturarbeit. Seit schon ungemein vielen Jahren plärrt in Abständen die politisch verantwortliche Wienkultur herum, es werde die tollsten Lösungen geben, mit herrlichen Neubauten und Kunst und Begegnungszentren und überhaupt. Es gibt kaum eine geringen Ansprüchen oder Vorschriften entsprechende Depotsituation. Seit Jahren eine Schande.

Weiter. Nicht stolpern über die bereits böse-legendären Sterne im Pflaster. Dort, wo weiterhin willkürlich über die (nicht Wiener) Musikgeschichte befunden wird, mit eingehauten Facialreliefs und zertrampelten Lebensdaten. Es blühen auch so aus dem Wiener Boden seit vielen Jahren Dutzende Wiener Schandflecke.

Der politisch verantwortlichen Wienkultur ist das ebenso wurscht wie der Zustand der Wiener Gedenkstätten, zum Beispiel für Strauss in der Praterstraße (der Kompositionsort von „An der schönen blauen Donau“, alsoder weltweit am berühmtesten gewordenen Musik) und etwa gar Schubert im neunten Bezirk (wo am Geburtshaus allein sieben Tafeln angebracht sind, kaum eine mit Schubert im Einklang, und wo man gegenüber in höchst seltsamer Form Drogenkranken hilft oder sie beliefert. Übrigens, als sich Teile des Bezirks im Vorjahr gegen solch eine Installierung im kinderreichen Wohnbezirk gewehrt haben, wurde ihnen halboffiziell beschieden: „Was wollts denn, der Schubert war ja auch nur a Süchtler.“) Weiter. An sich häufenden komischen Dachausbauten vorbei. In die österreichische Begegnungszone Nummer eins. Haha. Wir wagen uns in die Mariahilfer Straße, in das kleine, dumme, am Blühen gehaltene Ideologicon angeblich aktueller, für die weiland stöhnenden Massen eingerichteter Wien-Wellness-Kultur. Beton. Alles irgendwie schief. Glücklich begegnet hier kaum wer irgendwem.

Allein, ginge es nach der Werbe-Ikonografie für die Erweiterung solcher Zonen, dann wäre (oder würde) alles sowieso noch schlimmer. Auch gewachsene Verkehrsstraßen hätten in Betonbänder zu mutieren, wo – so wird in der Bewerbung suggeriert – am helllichten Tag verkrampfte Menschen zwischen erbärmlichen Grünrabatteln herumhängen (zu 80 Prozent junge Frauen), wo man in Kinderplastikbadetrögen die nackten Füße baumeln lässt und nichts zu tun hat, außer von Herzen froh zu sein, dass man es dieser Stadt damit einmal so richtig zeigt. Die Spießer in den Kulturkammerln der Wiener Regierungsparteien tun unsere Böden mit Beton verhausmeistern. So ist Wienkultur aktuell. Der Verkehr wird dadurch bekanntlich nicht weniger. Aber die Innenstädte sollen zu lächerlichen Zauberbergen mutieren.

Wie angenehm ist es da doch, etwa sich einen Film anzusehen, der in einer Großstadt Amerikas Ende der 1950er-Jahre spielt. Die Choreografie der Verkehrsflüsse im gestylten Blech hat da noch immer was, jedenfalls mehr als die zischenden Fahrräder in den Begegnungsglückszonen oder überhaupt auf Einbahnstraßen, Gehsteigen, unter rot leuchtenden Ampeln und so weiter.

Wir verweilen jetzt einfach, leicht erschöpft, in den Begegnungszonen für ein paar Zählminuten, setzen uns auf die Betondinger und begegnen. In Fußgängerbereichen, an heiklen Kreuzungen. Rund 80 bis 85 Prozent aller Velocipedinnen und Velocipeden halten sich nicht an Vorschriften, denn sie sind ja die Damen und Herren der Straßen mit stolzen Häuptern, deren Kultur darin besteht, fast nie den ja real existierenden Grundregeln für Fahrradausstattungen und Höflichkeiten Passanten gegenüber zur Gänze zu entsprechen. Wien ist – zum Glück – noch immer keine Radstadt, andernfalls spielten sich etwa am Ring, vordem Grauen Haus, in den eher engen Ausfallstraßen oder vor abrupt endenden Velowegen Tragödien ab.


Freilich vollzieht sich auch hier stets rascher ein Wandel der Dinge, / fast mit jeglichem Jahr schwindet ein Reiz aus dem Bild. (Ferdinand von Saar, „Wiener Elegien“, aus Nr. IV)


Zugegeben, das waren jetzt Pleonasmen im gängigen Wien-Bejammern. Aber bekanntlich werden die bei inhaltlicher Vervielfältigung nicht besser, weder im Quantifizieren noch durch ein Abheben aus dem schnöden Alltag. Weiter. Zum Beispiel in die Theater, zum Beispiel zwischen gewaltige Scheren bei Honoraren, zwischen überschüttete Opern-, Musical- oder Scheinhistörchen als Liebkinder der Wienkultur und – auf der anderen Seite – legendäre Freie, welche nicht einmal das Recht auf Fachanhörung, auf persönliches Kennenlernen der über sie richtenden, dauernd wechselnden Wienkulturjurys oder bloß auf einen Profibesuch zum Zweck einer Förderung haben.

Zum Beispiel in ein Wien als allemal brodelnder, aber scheel beäugter Hort des Kreativen an sich.

Zum Beispiel in ein Wien (eine der teuersten Städte der Welt) als einen der wenigen Orte dieser Welt (noch?), der sich das Absurde als künstlerische Disziplin in allen künstlerischen Disziplinen leistet; zumeist und wie seit Jahrhunderten ziemlich wütend bekämpft von einer politischen Wienkultur, die aktuell etwa glaubt, es sei schon politische Wienkultur in hoher Stadt-Feeling-Avantgarde, wenn man sich für fünf Minuten am Ring in einen Liegestuhl legt.

Zum Beispiel in eine zwar überlebende Stadt, die sich aber quält durch Verhüttelung von Plätzen, entstanden in peinigender Angst vor Weiten, Größen.

Zum Beispiel in die Metropole als coole City; gern eine mit professioneller Bejubelung durch lächerliche Stadtauszeichnungen der immer mächtiger werdenden Schar von Halb- und Viertelkünstlern oder eine als Trägerin von angeblichen Weltformaten aktueller Songs, von Pseudotoleranzmulatschags im peinlichsten Talmi.

Zum Beispiel in eine stolze Stadt, die es sich leistet, ihre sauteuren Festwochen vor allem dem Fremdsprachigen zu widmen, sonst aber in einer Budenrummel-Scheindemokratie, die Stadtkultur genannt wird, nur bei sich selbst punktet.

Doch – Achtung? Fremd? Sieht man in Wien denn je wirklich existierende, offene Stätten von Flüchtlingen, für Flüchtlinge?

Aber, o Schmerz! Du bist auch getrennt von den eigenen Gliedern, / in Verblendung, mit Hass wüten sie gegen das Haupt. (Ferdinand von Saar, „Wiener Elegien“, aus Nr. XVI)


Dabei kann ein schlichtes Wien-Anschauen und -Betapsen wunderbar sein. Etwa flanierend im Spätsommer auf Doderer-Spuren zwischen Bürgerhäusern, in den Schrebergartensiedlungen joggen, Ziegelindustriebauten suchen, zu den Bierstandln an Pratergewässern flüchten, winzige Ausstellungen entdecken, weit Straßenbahn fahren, im Herbst die unterschiedlichen Stadtränder abgehen . . .

Allein, gibt es denn Stadtränder? Dehnungen, ja. Ausbreitungen, vor allem in den Nordosten, auch ja. Notwendige, ja. Denn Wien besteht heute vielleicht aus den meisten unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Herkunft, weilend vor allem an Rändern und im Verborgenen. Dort hat sich Wien neu gestaltet. Es geht nicht so zu wie in Teilen von Berlin, Paris oder Manchester. Aber die drinnen eher verhüttelte Stadt wendet sich quasi von außen her retour.

Weiter spazieren. Über Straßenbänder zieht es uns hinaus, startend am gebogenen, nordwestlichen Gürtel. Denn der Nord- und Südosten, die wachsen, aber hier? Außer als Billigketten existiert kaum mehr ein Geschäft mit Wiener Waren (was sind allerdings solche?), kein Wirtshaus mit Wiener Essen (das wäre noch leichter zu benennen); Köstliches wird hier zwar manchmal serviert, in der Menge ist es langweilig und schal. Viel nur mehr türkisch Geschriebenes steht da, auch arabische Zeichen, auch Ausdrücke, die man kaum wird nachvollziehen können, obwohl slawischen Ursprungs. Die Eckbeiseln existieren vor allem als Männerfluchtorte vor der Enge der Integrationsquartiere.

Das ist also der einander befruchtende Austausch?

Halt! Schon wieder hineingefallen. In dieses verdammte Vergleicheanstellen.

Beleidigt und aggressiv geworden. Bloß weil die Wienkultur sich gelegentlich, aber immer häufiger lieber ins rot-grüne Miniglück vertschüsst?

Gehen wir also, beschämt und daher schüchterner geworden, uns dabei an den Mauern entlangdrückend, in der Früh solchen Straßenbahnlinien entlang, die alle mit einem Vierer beginnen. Mindestens jedes vierte Mädchen schleicht mit recht viel Kopftuch und noch mehr Verhüllungen durch die Straßen. Und so fort. Er rumort schon wieder und noch mehr als zuvor. Er, der Begriff von der europäischen Aufklärung. Von der wirfür uns behaupten, sie sei die größte Errungenschaft des menschlichen Geistes, gemixt mit Ethos und meinetwegen auch noch Kultur. Etwas, was dauernd ungeheuer mühsam ist. Und was die Mühe doch tausendmal wert ist.

Warum müssen dann aber wir zunächst unsere Werte zurückstecken? Hier im Kleinen bereits, auf der Spielwiese des menschlichen Geistes im Rahmen seiner Verantwortung vor sich, seiner Transzendenz, seiner täglich zu beweisenden Praxis, seines Toleranzgrenzen-Ziehens?


Geistiger Ziele Bewusstsein, der Stolz befreiender Arbeit / wehn, gleich fröstelndem Hauch, selbst um die Reize der Fraun. (Ferdinand von Saar, „Wiener Elegien“, aus Nr. III)


Die Stadt der herzigen Betonplattenpassagen (offenbar um es den ehemaligen Autoboulevards einmal und damit zum ausgleichenden Hohn so richtig zu zeigen), der permanenten Generalamnestien für die feschen Leute auf ihren feschen Fahrrädern, der laufenden Verhüttelung und Verdenkmalung auf Großplätzen vom seltsamen Heldenplatz abwärts subventioniert lieber sehr alt gewordenes Theater, brüstet sich dort und anderswo mit wiederholten Texten von anno dazumal sowie mit immer wieder neu gruppierten Gemäldehaufen als angeblich neuen, hintergründigen Museen und Galerien, kopiert und belohnt aber Betroffenheitstamtam, Genderblödsinnund verschiedene Musikfeste mit grenzwertig schlechter Musik plus deren Interpreten, die Stadt tut lieber das, als sich abermals im Zentrum der Globalisierung einer Aufklärung als Basis und Wurzel für seine Kultur heute wieder und wieder zu stellen, ja gar – hart wird es jetzt im Ausdruck! – sie, die eigene Aufklärung, als Kultur neu zu formulieren und damit zu verteidigen.


Freieste Liebe versprichst du, indessen breitspurig die Freundin / an der Seite dir stapft, reizlos verschnittenen Haars. / Diese, ich seh's, wälzt unter der wuchtigen Stirn schon die Frage, / wie man das Männergeschlecht gänzlich vom Erdball verdrängt. / Ja, hier bereitet sich vor in allen Phasen die Zukunft, / achtlos trippeln an mir ihre Vertreter vorbei: / Wahrer des ewigen Friedens, Begründer der gleichesten Gleichheit, / Weltbefreier vom Gift schnöden Mikrobengezüchts; / Maler der vierten Dimension und Entdecker der fünften, / die mit Gespenstern bereits speisen vertraulich zu Nacht.(Ferdinand von Saar, „Wiener Elegien“, aus Nr. XV)


Wird denn jetzt wieder, gespenstisch gerade in dieser Stadt, heimlich, eine Neue Musik anderer Dimensionen entwickelt, wie schon mehrfach und die Welt damit verändernd? Trotz der aktuellen Wienkultur-Banausen?

Wird denn das Theater gelegentlich zur moralischen und zur gerecht aufgeteilten Subventionierungsanstalt umgedeutet? Die Verhüttelung ausgesetzt? Das Menschenrecht vor Pseudotradition und -religion gestellt?

Allein – jetzt kommt eine wilde Coda, ein Satyrspiel, eine Live-Einschaltung: Denn apropos Tradition, apropos Aufklärung gegenüber Religion als Drohgebärde und eigentliches Volksschauspiel.

Da begegnet man doch glatt nach der eben öffentlich vorgeführter Ungleichheit der Frauen/Männer, nach Rathausplatzprotz, nach übersubventionierter Musik, also da begegnet man rund um die wenigen und wieder mehr werdenden strengen Kirchen zu Fronleichnam, beim Umgang, werktags eigentlich im produktionsvollen Frühjahr, ausgestellt und hochgehalten von verschwitzten Männern unterm wüsten Prunkornat, passend eher in einen Pop-Film, dem angeblich vor uns voll lebendigen und sichtbaren Leib und Blut Jesu Christi. Einfach so. Outdoor. In der Stadt der Aufklärung im Globalisierten. Jaja, schon gut. Auch die Transzendenz braucht Bilder und Traditionen. Aber in einer Stadt der Musik als Epiphanie, der Theater, des Absurden in einer geforderten Aufklärung . . . noch allemal solch eine Gespenster-Metaphysik, wie das sonst in keiner zugewanderten Gesellschaft, Tradition oder Kultur möglich oder erlaubt wäre? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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