Die Kinder Europas

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Die einstmals stolze Vision Europa ist dabei, zum schlingernd dem Abgrund zurollenden Euro zu verkommen. Aber halt! Gab es das denn jemals, eine Vision von Europa?

In diesen Tagen wird man das Bild nichtlos: Die einstmals stolze Vision Europa ist dabei, zum schlingernd dem Abgrund zurollenden Euro zu verkommen. Aber halt! Gab es das denn jemals, eine stolze Vision von Europa? Seinerzeit beklagte Joachim Gauck in seiner ersten großen Rede als deutscher Bundespräsident, dass Europa ein Gründermythos fehle, eine „identitätsstiftende Erzählung nach Art der Entscheidungsschlachten, die manchmal Nationalstaaten eint“. Die Kriegsmetapher befremdet. Schließlich ist in den Fünfzigerjahren die „Europäische Gemeinschaft“ ausdrücklich als Friedensinitiative und als Wirtschaftsunion ins Leben gerufen wurde.

Halten wir uns lieber von Mythen fern und vertrauen auf die Kraft der Bilder, jeder den seinen, die er dem reichen Fundus einer mehrtausendjährigen Kultur entnehmen undseiner eigenen Geschichte einfügen kann.

„Wenn ich es noch einmal tun müsste, würde ich mit der Kultur anfangen“, soll Jean Monnet, der „Vater Europas“, wie er genannt wird, gesagt haben. Verbürgt sind diese Worte nicht, aber wer ihn, Monnet, kannte, weiß, dass er sie sehr wohl gesprochen haben könnte. Ich kannteihn. Ein freundlicher Herr, sehr höflich und (für ein Kind) so gar nicht Furcht einflößend wie etwa Robert Schuman in seinerStrenge. Mein Liebling allerdings war Carlo Schmid. Das hatte seine Gründe. In die Verhandlungen um die Gründung einer Wirtschaftsunionim Paris der Fünfzigerjahre waren meine Eltern beruflich eingebunden, und so waren sie oft gemeinsam unterwegs und ich, als Einzelkind, mit von der Partie. Ich wurde stundenweise dem Chauffeur anvertraut, der mich durch Paris fuhr und gelegentlich im Auto vergaß, wenn er sich mit Kollegen in einem Bistro traf.

So auch an einem Abend, an den ich mich gut erinnere. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge, sowohl die im Quai d'Orsay als auch die im Bistro. Allein gelassen, schlief ichirgendwann im Auto ein. Ich wachte auf, als jemand ans Fenster klopfte. Erst erschrak ich,es war schon dunkel, dann erkannte ich das lächelnde Gesicht von Carlo Schmid. Er war erstaunt, mich hier allein ohne den Fahrer zu finden. „Er hat gesagt, er kommt gleich wieder“, erklärte ich ihm. Jetzt lächelte er nicht mehr, beruhigte mich aber, meine Eltern seien schon auf dem Weg zu mir. Dann öffnete er seine Aktentasche und entnahm ihr ein Päckchen, das ich aufmachen durfte. Er setzte sich zu mir ins Auto, und wir teilten uns die köstlichsten Sandwiches Europas.

Kurz darauf erschienen meine Eltern, wenig später auch der Fahrer, und während meine besorgte Mutter sich vergewisserte, dass es mir gut ging, gab es eine kurze Diskussion zwischen den Männern draußen, die für den Chauffeur nicht gut ausging. Unsere anschließende Heimreise wurde seine letzte Fahrt. Er hatte sich wohl seit einiger Zeit schon Unzuverlässigkeiten zuschulden kommen lassen. Einzelheiten habe ich vergessen.

Nicht vergessen aber habe ich mein improvisiertes Abendessen mit Carlo Schmid, und sein freundliches rundes Gesicht blieb sechs Jahrzehnte lang meinBild für den hoffnungsvollen Anfang eines neuen menschlichen Europas.

Ein starkes Bild, das man nicht so schnell vergisst. Auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne ein weißes Zirkuspony. Kinder, maskiert, kostümiert, auf erwachsen getrimmte Mitglieder einer Biedermeiergesellschaft, von gesichtslosen, in schwarze Umhänge gehüllten Erwachsenen geführte Puppen. Dazu eine kleinwüchsige Gestalt, die einen bei so viel Kleinheit überlebensgroß erscheinenden Mann aus einem Sandhaufen buddelt.

185 Jahre nach dem ersten Auftreten der bis heute rätselhaften Person Kaspar Hauser in dem mittelfränkischen Ort Ansbach – eines Halbwüchsigen, der erst gehen und sprechen lernen muss: eine der ersten Geschichten, die so etwas wie eine Sensationspresse europaweit in Gang setzt und die der geheimnisumwitterten Gestalt den Namen „Kind Europas“ einträgt – erscheint sie auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich. Das Erscheinen und die Herkunft des etwa 16-Jährigen ebenso wie sein gewaltsames Ende, angeblich durch einen Mordanschlag, sind bis heute nicht aufgeklärt. Doch schon die sensibleren unter seinen Zeitgenossen haben hier mehr gesehen als einen Kriminalfall, und auch Alvis Hermanis, vom Rand Europas, aus Lettland kommend, einer der wichtigsten Regisseure des europäischen Theaters, erzählt eine ganz andere Geschichte. Seine Frage geht über das Geheimnis Kaspar Hauser hinaus, sie zielt auf das Rätsel Mensch.

Auf der Bühne ist eine Art Laboratorium aufgebaut, alles ist unnatürlichen Bedingungen unterworfen. Es scheint der Fall eines eklatanten Missbrauchs nachgestellt. Um das zu erzählen, worum es Hermanis an Hausers Geschichte geht, müssen alle Vorzeichen der Welt, in der sie spielt, verkehrt und verkehrt und wieder verkehrt werden. Klein spielt Groß und wird doch gegängelt von den Größeren, und Groß ist Klein und spielt doch Groß, und das Pferd ist dressiert und doch so graziös, wie ein Pferd nur von Natur sein kann. In diesem Kuriositätenkabinett wankt und schwankt und krankt Kaspar Hauser. Und ist doch der einzig echte Menschin dem Panoptikum, zumindest das, was ein Mensch hätte sein können, wenn er nicht in die Hände der Biedermännchen und Biederweibchen in ihrem Biedermeierpuppenstübchen gefallen wäre.

Der gnadenlose Eifer, mit der sie ihn zu zivilisieren versuchen, erinnert fatal an die brutale Geschwindigkeit, mit der alles vernichtet wird, was das Pech hat, in einen Ameisenhaufen zu geraten. Doch die Zivilisierungsversuche an ihm sind nur teilweise erfolgreich. Immerhin: Mit der ersten Lüge, die dem unschuldigen Naturkind (mit seiner, wie berichtet wird, hingebungsvollen Liebe zu Tieren und Pflanzen und einem grenzenlosen Vertrauen zu Menschen) über die Lippen geht, ist er gesellschaftsfähig geworden. Aber es nützt ihm nichts. Denn nun können sich die, die ihm das Lügen beibrachten, in (heuchlerischer) Entrüstung von ihm abwenden. Nur wer alle Spielregeln kennt, kanndazugehören. Dorthin wird Kaspar Hauser es nie bringen. So weit wird er sich nie von seinen Anfängen entfernen, dass er zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft wird. Zu unserem Glück. – Ein berührendes Bild vom Menschenmöglichen und ein abstoßendes Bild von einer unmenschlichen Realität wird auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich vorgeführt. In Alvis Hermanis' Erzählung wird Kaspar Hauser Opfer eines Mordes, genauer: eines Missbrauchs mit Todesfolge – was immer es mit seinem Ende auch tatsächlich auf sich hatte.

„Damals wurde das Kind Europas gemordet. Heute werden die Kinder Europas gemordet“, sagte gut hundert Jahre nach dem Ende Kaspar Hausers einer, von dem noch die Rede sein wird.

So bleiben Hausers Geschick und seine Geschichte für jede Zeit und jede Gesellschaft ein Maßstab, an dem sich der Anteil an wahrer Menschlichkeit messen lässt, der in ihr lebt. Nichts an dieser Geschichte muss aktualisiert werden. Alles ist vorhanden, sobald das Kind Europas erscheint, windschief, sprachlos und wahrhaftig. Und uns den Spiegel vorhält.

Ein anderes Bild. Eine andere Bühne. Schwarz ausgeschlagen auch diese, aber in anderen Ausmaßen. Hier ist es eine ganze Stadt in Schwarz, in Trauer. Die Beerdigung des Kaisers Franz Joseph 1916.

Wir haben viele Berichte von dieser letzten Inszenierung des Habsburgerreiches. So verschieden sie auch sind – von Joseph Roth bis zu Bruno Kreisky –, keiner konnte sich dem Eindruck dieses grandiosen Spektakels entziehen, natürlich auch deshalb, weil es viel mehr war als das.

In all dem Schwarz bleibt das Auge hängen an der kleinen Gestalt im weißen Spitzenkleid mit schwarzer Schärpe, Otto von Habsburg, nunmehr Kronprinz, der Sohn Kaiser Karls, ein Kind von vier Jahren, das versucht, Schritt zu halten mit seinen Eltern. 95 Lebensjahre hat dieses Kind noch vor sich,und die meisten davon werden dem gewidmet sein, was – glaubt man der Mehrzahl der Kommentatoren – hier zu Grabe getragen wird: das alte Europa.

Auch auf dieser Bühne ein herrenloses Pferd, das Reitpferd des Kaisers, das mitgeführt wird im Zug – und so mögen sich viele Zuschauer fühlen, die zu Tausenden die Straßenränder säumen, herren- und schutzlos, mitten im blutigsten Krieg seit Menschengedenken, obwohl, objektiv gesehen, der Tod des alten Mannes in Schönbrunn nichts an ihrer Lage geändert hat – aber das Urbild, an das man sich klammerte, ist weg.

Bei manchem Trauernden wird sich vielleicht in die Rührung über den Anblick des kleinen Jungen auch Hoffnung auf die kommende Generation mischen, doch wird erdiese Hoffnung nicht erfüllen, auch wenn der Glaube an die Wiedergeburt Europas seine lebenslange Leidenschaft bleiben wird. Gut 20 Jahre später werden ohnehin alle Hoffnungen auf eine neue friedliche Zukunft Europas gänzlich zunichte.

Unter denen, die 1938 Österreich verlassen mussten, befand sich auch ein jüdischer Arzt, der ebenfalls den Begräbniszug des Kaisers miterlebt hatte. Und dessen Geist inzwischen eigenwillige Wege gegangen war: Doktor Karl König.

Nach dem Medizinstudium in Wien und eingehenden Studien der Embryologie begegnete König als ärztlicher Betreuer eines heilpädagogischen Heimes,erst in der Schweiz, dann im Osten Deutschlands,dem, was zur folgenschweren Passion seines Lebens werden sollte und was er „das Rätsel des behinderten Kindes“ nannte. In einem Studienkreis mit angehenden Medizinern undinteressierten Studenten inWien hatte er in den Dreißigerjahren die Ideeeiner Gemeinschaft entwickelt, in der behinderte Kinder eine besondere Förderung, nicht zuletzt aus dem Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen, erhalten sollten.

Überzeugt davon, dass es nicht die Gesellschaft war, an die sich behinderte Menschen anzupassen hatten, sondern dass es galt, der Gesellschaft die Werte nahezubringen, die jene ihr vorlebten, formulierte er bewusst die Vorstellung der besonderen Sozialform dieser Gemeinschaft als Widerstand gegen die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes, das sich seiner Heimat bemächtigt hatte. Er fragte sich, ob es nicht möglich sein könnte, „ein Stück der wahren europäischen Bestimmung aufzugreifen und es in ein Samenkorn zu verwandeln, sodass etwas von Europas wahrer Mission gerettet würde. Ein Stück von seiner Humanität, seiner inneren Freiheit, seiner Friedensliebe und seiner Würde. Sollten wir nicht versuchen, etwas von diesem Europa zu verwirklichen? Nicht mit Worten, sondern mit Taten zu verwirklichen? Zu dienen und nicht zu herrschen, zu helfen und nicht zu zwingen, zu lieben und nicht zu kränken.“ Und er bekräftigte diese Gedanken in seinem Tagebuch mit den Worten: „Das wird unser Auftrag sein.“

Viel musste in einem Menschen zusammenkommen, um diese Aufgabe auch erfüllen zu können. Als Jude teilte Karl König das Schicksal mit den behinderten Kindern – beide Gruppen standenauf der Opferliste der Nazis an vorderster Stelle. Er war ein Ausgegrenzter aus der Gesellschaft, in die er hineingeboren war wiedie Kinder, die er betreute: „In Österreich war ich ein Jude. In Deutschland war ich ein Österreicher. InSchottland war ich einDeutscher.“ – Bereits Anfang 1939 nimmt Karl König mit den sich nach England rettenden Freunden die Arbeit mit einer ersten Gruppe behinderter Kinder in einem Haus in Schottland auf. Die Gruppe vergrößert sich schnell und verfolgt, unbeirrt von dem sich ausbreitenden Krieg auf dem Festland und den Schreckensnachrichten von dort, ihr Ziel. Eine Gemeinschaft zu bilden mit der klaren Kulturaufgabe: aus der Begegnung mit Menschen, die in ihrem Anderssein eine ursprüngliche Menschlichkeit, ja Unschuld bewahrt haben, Impulse zu gewinnen, die zu einer Erneuerung des sozialen Gedankens in Europa führen können.

Auf Karl Königs Schreibtisch stand ein Bild Kaspar Hausers. „Damals wurde das Kind Europas gemordet. Heute werden die europäischen Kinder gemordet. Herodes beherrscht Bethlehem“, schreibt er mitten im Krieg.

Es war dieses Denken, das in den Jahren nach dem Krieg die weltweite Ausbreitung der (nach einem ihrer Standorte benannten) Camphill-Gemeinschaft beflügelte. An all diesen Orten wird bis heute versucht, abseits der Städte Dörfer zu schaffen, in denen behinderte Kinder und Erwachsene zusammen mit Therapeuten, Ärzten, Lehrern und Helfern eine ihnen heilsame Umgebung und therapeutisch wirksame Arbeit in Werkstätten, in Haus- und Landwirtschaft finden. Und auch wenn heute die damals gegründeten Institutionen sich in einer veränderten, aber nicht besseren Welt in vielem von den Gründungsidealen entfernt zu haben scheinen, leben die Gedanken Karl Königs in der Gemeinschaft weiter, in den dort betreuten Menschen und in den Jugendlichen, die es Jahr für Jahr dorthin zieht, um für einige Zeit mitzuarbeiten, getragen von dem Wunsch – nicht anders als jene jungen Menschen im Vorkriegswien –, ihren Beitrag zu einer menschlicheren Gesellschaft zu leisten.

Helsinki im November. Ein fahles Licht, aber silbrig dort, wo es auf Wasser trifft. Das Meer draußen im Nebeldunst, doch jeder Baum, den die Nässe streift, in einem glitzernden Netz von Wassertropfen, in jeder öligen Pfütze ein paar Spritzer Gold. Warm und still ist es drinnen im Ateneum, dem finnischen Nationalmuseum. Ich bin, zu dieser frühen Stunde, allein in dem kleinen runden Saal, der das Herzstück der hier ausgestellten Bilder birgt. Mein Besuch gilt einem alten Bekannten. Ich kenne ihn seit 30 Jahren.

„Der verwundete Engel“ stammt von Hugo Simberg. 1903 entstanden, gilt das Gemälde als das bekannteste Bild des Ateneums. Auch außerhalb Finnlands ist es zu einem beliebten Postkartenmotiv geworden: der Engel im weißen Gewand mit dem verletzten Flügel, von zwei Knaben auf einer Bahre durch eine einsame Landschaft getragen. Das Bild lebt von seinem ungewöhnlichen Motiv, in dem sich die gewohnten Bilder in unserem Kopf verkehren. Kein Schutzengelbezug zwischen Engel und Kindern, im Gegenteil. Der Engel bedarf der Hilfe durch die Kinder.

Menschlich ist dieser Engel, und menschlich sind die Gefühle, die sein Anblick im Betrachter auslöst: Mitleid mit der blassen, zarten Gestalt, auf einer improvisierten Bahre kauernd, die durchaus ein Werk der Kinder sein könnte, die ihn tragen, mit blutigem Kopfverband und eingerissenem Flügel, mit geschlossenen Augen und einem schon etwas zerdrückten Sträußchen weißer Blüten, wie sie daneben auf der Wiese wachsen, in der Hand.

Und menschlich sind auch die Fragen, die sich beim Anblick dieser ungleichen Gefährten aufdrängen: der lichten, weiß gekleideten bloßfüßigen Gestalt und der beiden ungeschlachten Burschen in dunklen Jacken und klobigem Schuhwerk. Was haben sie miteinander zu schaffen, was mag da geschehen sein, woher rühren die Verletzungen des Engels, was will der herausfordernde Blick, den der größere Junge direkt auf den Betrachter richtet, sagen, wohin sind die Kinder mit dem Engel unterwegs?Welch ein Bild, welch ein Stoff für wie viele Geschichten! – Die Präsentation des Werks in der Öffentlichkeit 1903 und die darauf erfolgte Aufnahme in die Akademie bedeuteten den Höhepunkt im kurzen Leben des Malers. Simberg starb 1917 im Alter von 44 Jahren. Es war das Jahr, in dem Finnland unabhängig wurde, ein blutiger Bürgerkrieg begann und der große, in Europa noch wütende Krieg mit unzähligen Toten und Verwundeten in seine Endphase ging.

Das große Bild Hugo Simbergs am Beginn des Jahrhunderts steht in einem beklemmenden Bezug zu den großen Katastrophen im weiteren Verlauf. Zugleich weist es darüber hinaus. Die besondere Last auf der Bahre macht die beiden jungen Träger zu Trägern der Hoffnung. Wenn Kinder, denen wir doch alle einen Schutzengel zur Seite wünschen, einen verwundeten Engel tragen, dann kann man ihnen auch zutrauen, Hoffnung in die Zukunft zu tragen.

Ich möchte den ernsten Blick, mit dem der größere Knabe dem Zuschauer ins Auge schaut, so verstehen. Wo die Welt aus den Fugen gerät, sich die Vorzeichen verkehren, wo der Beschützer zum Schützling wird und umgekehrt – da müssen wir unsere Sichtweise ändern.

Weg von den etablierten Zentren der Macht, die einst (im Krieg) zu zerstört waren und heute zu verdorben sind, um neue Bilder zu schaffen, neue Visionen, neue Geschichten, eine neue Realität. Hin zu den Menschen an den Rändern, deren Leben so eingeschränkt ist (weil fern der alles beherrschenden Norm eines profitorientierten Verhaltens), dass sie allein aus der „Leidenschaft der Möglichkeit“ (Kierkegaard) leben, der Quelle der Kreativität. Dorthin, wo „Werte“ nicht wertlose Wahlkampfmünzen sind. Moral kann sich nur im Handeln erweisen, Ethik nur im Tun verwirklichen, also da, wo Menschen für Menschen arbeiten – egal, ob es sich um Wirtschaft, Kultur, Politik oder was immer handelt. Von einem bestimmten Grad der Verderbtheit an ist kein anderer Widerstand gegen das, was die Politik den europäischen Bürgern zumutet, möglich. Das ist es, was junge Europäer uns vorleben (und was nicht mit „Politikverdrossenheit“ verwechselt werden darf, auch wenn es die natürlich gibt) – wie ein aufschlussreicher Bericht dieser Zeitung über Jugendliche zeigte, die im Jahr des österreichischen Beitritts zur EU geboren sind: Die europäischen Bürger sind einer Union der Menschen beigetreten, nicht einer der Märkte.

Um an den zitierten Satz von Joachim Gauck anzuknüpfen: Die Schlacht, die Europa zu schlagen hat und die den Stoff für eine Geschichte hergibt, in der sich die Bürger aller seiner Länder wiederfinden können, muss auf sozialem Feld geschlagen werden. Sie ist deshalb so schwer zu gewinnen, weil Europa sie gegen sich selbst führen muss. Was einen langen Prozess der Selbsterkenntnis, der Revision falscher Wege, der Umkehr und des Neuanfangs bedeutet. Er hat längst begonnen, abseits der Machtapparate, der Märkte, der Konzerne. Dort, wo der Einzelne Kompetenzen hat, entstehen die Geschichten, die Bilder, die Visionen, die sich verdichten, zusammenfügen zu jenen Initiativen, Aktionen, Gruppen, Gemeinschaften, die etwas von dem Gebilde ahnen lassen, das vielleicht einmal in fernerer Zeit den Begriff Europa vom Bild eines schlingernd dem Abgrund zurollenden Euro lösen wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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