Seppl oder: Der Tag wird kommen

Pfau mit Fruehlingsgefuehlen
Pfau mit Fruehlingsgefuehlendpa/dpaweb
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Und es kann anders werden nicht! Eines Nachts stieg mein zukünftiger Vater über eine Leiter zu meiner zukünftigen Mutter, um sich unverschämt auszuschütten in der jungen Frau. Der hellhörige Pfau schlug sein Rad im Augenblick des Samenergusses. Und ich? Die jüngste Prosa.

Schüttle mich, schüttle mich!, hat der Gravensteiner Apfelbaum im Garten meines Großvaters mütterlicherseits gerufen, dort, wo eines Nachts mein zukünftiger Vater neben den Ranken der dunkelblauen Weintrauben über eine Leiter gestiegen ist, um zu meiner zukünftigen Mutter zu gelangen, und sich unverschämt ausgeschüttet hat in der schönen jungen Frau, unweit vom hellhörigen Pfau, der in der Dunkelheit ein Rad schlug und raschelnd seine Federn erzittern ließ im Augenblick des Samenergusses. Aus dem Fenster und von der Leiter steigend, hat der Vater Weintrauben von den Ranken gerissen und sie auf dem Nachhauseweg am lotrechten Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes zwischen Zunge und Gaumen zerquetscht, eine blaue Weintraubenkugel nach der anderen.


Das speichelbenetzte Brotbröckchen fällt zu Boden. Hätte mich meine Mutter in dem Augenblick, als ich schon heftig keuchend nach Luft rang, nicht bei den Füßen gepackt, auf den Kopf gestellt und durchgerüttelt, wäre ich an jenem Brotbröckchen erstickt. Drei Geschwister mit frisch gepflückten Gladiolen und Astern ausdem mütterlichen Garten und mit schwarzen Nylonschleifen an den Oberarmen wären hinter meinem Kindersarg hergegangen, gefolgt von der schwarz gekleideten undSchritt für Schritt zerbrechenden Mutter, mit einem über den Schultern hängendenschwarzen Nylontrauerschleier vom Kaufhaus Samonig in Villach, gestützt vom Vater, der einen Kärntner Anzug getragen hätte mitEnzian und Edelweiß in den Knopflöchern, gepflückt beim letzten Almabtrieb seiner Stiere und Ochsen aus der Innerkrems.


Auf die faustdicke Kniebeuge beim ersten Dornenkronenschlamassel vor dem Hochaltar mit den eingefrischten Chrysanthemen,Mutters liebsten Allerheiligenblumen und Allerseelenblumen, auf die Frucht des Leibes aller unbefleckten Empfängnisse, auf das Wundversorgungsprogramm der Heiligen Jungfrau Maria schreib ich DEINEN Namen: Berühr mich mit deinem Staub, und ich zerfalle zu einem Menschen! Führe michin Versuchung und erlöse mich von dir, dem größten aller Übel! Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf, Gottesmutter süße, o Maria hilf! Während sich der Himmel an die Hölle klammert, verknotet sich der schauerliche Regenbogen und hängt den Verräter Judas an seinen farbenprächtigen Strick: „Lasst mich wenigstens mit den Beinen strampeln, das darf doch jeder, der aufgehängt wird!“


Mit einem eisigen Schneeball schlich ich ins Schlafzimmer meiner Mutter, wälzte die eiskalte Kugel in den zurückgebliebenen Blutflecken ihres Bettes, lief über die sechzehnstufige Stiege und warf den blutigen Schneeball meinem jüngeren Bruder an den Kopf. Wenn die Mutter am frühen Morgen aufstand, um in den Stall zu gehen, verließ ich das Kinderzimmer, schlüpfte in ihr noch warmes Bett und nahm ein Bad in ihrem Blut, unweit vom grünphosphoreszierenden, ander Wand hängenden Kruzifix, das ein halb blinder Heiligenkitschhändler ihr verkauft hatte und das zeit ihres Lebens nachts in ihrem Schlafzimmer leuchtete, über dem Bild ihrer an Kummer früh verstorbenen Mutter, die im Zweiten Weltkrieg drei Söhne im jugendlichen Alter verloren hatte. Gefallen sind sie, hat es geheißen, als Helden sind sie gefallen, hat es immer geheißen. Und wie es mich gruselte, als mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod der drei Soldaten auf den Schlachtfeldern Russlands und in Jugoslawien die Tante Liese zu uns Tunichtguten, wie wir öfter genannt wurden, zu mir und zu meinem jüngeren Bruder schnippisch sagte: „Na, ihr Helden!“ Wir Nachkriegshelden, die zum stolzen Gefallen der Verwandten auf den Dritten Weltkrieg zu warten haben, damit siewieder zu Helden werden, die Gefallenen!Der Tag wird kommen. Und als dann die mit dem Omnibus aus Töplitsch angereiste Tante Liese mich musterte und sagte, dass er blass aussehe und dass er mehr essen solle, dass man auf seinen Rippen Klavier spielen könne, da war ich nicht gerade stolz auf meinen Bösendorfer-, auf meinen Yamaha-Brustkorb, auf den Bechstein meiner Rippen.


In der Hand die gefüllte Milchkanne, ging ich im Winter über den Harscht der Schneefelder und brachte meiner kinderlos gebliebenen Taufpatin Tresl die frische, noch kuhwarme Milch. Ohne das Geschirr auszuwaschen, legte sie Weihnachtsgebäck in die Milchkanne hinein. Während ich beim mühsamen Einstampfen der Trittstufen über den Harscht der Schneefelder nach Hause ging, aß ich die mit den kalten Milchresten angesoffenen Lebkuchenherzen, Zimtsterne und Vanillekipferln. Auf die Knittel, die mir der Herrgott geschickt, und auf die roten Rosen, die es dabei geregnet hat, schreib ich DEINEN Namen, denn als ich einmal mit meinem Cousin Kurt Fix-und-Foxi-Heftchen getauscht habe, rief die Tresl aus dem Fenster: „Ihr habt's schon wieder getandelt! Der Herrgott wird dir Knittel schmeißen!“ Ich legte mich am Waldrand ins Moos und schaute lange in den Himmel hinauf, bis ich einschlief und später die Fuhre Buchenholz-Scheiter und Fichtenholz-Knittel mit eingebrannten Kruzifixen über mir wegräumte, mir nichts, dir nichts. Weinen möchte ich, immer weinen, Jesu, weil ich dich betrübt, dass vor dir, dem ewig Guten, so viel Böses ich verübt. Ach, verzeihe, hab Erbarmen, schenke Gnade mir, dem Armen, da ich gern mich bessern will: Wasch mich rein in deinem Blut, Jesu, liebster Jesu mein!


Und „Durchgefallen!“, ruft auch schon der Oberlehrervor der Tafel mit der Kreide in der Hand. Und: „Wir werden ihn schon noch biegen!“ Und: „Ich reiß dir den Arsch aus und schmeiß ihn dir ins Gesicht!“


Hörst du mich,Drahtzieher der Sonnenstrahlen? Auf die mehlverstaubten Spinnweben in der engen väterlichen Getreidemühle –wie zart ich seine grobe Bauernhand empfand, wenn noch frisch gemahlenes, warmes Mehl auf seinen behaarten, braun gebrannten Unterarmen lag! Auf das schnittige Geräusch seiner Sommersense beim Mähen vontaufrischem Gras, frühmorgens. Auf die runzelige Stirn eines Altweibersommers über seinen Stoppelfeldern. Mit dem roten Zeiger des Tachometers seines in Schlamm und Wasser auf dem Feld stecken gebliebenen roten Steyr-Traktors, der von einem schwimmenden Fuchs zweimal umkreist wurde, ehe er im Gehölz der von der Drau überschwemmten Auen verschwand. Auf die Löcher der Sprechmuscheln von Vaters erstem,mit Kalbsfell überzogenem Telefonhörer, Anfang der Siebzigerjahre, als man zum Telefonieren nicht mehr ins Gasthaus gehen und die Todesnachrichten aus dem Dorftelefon hören musste. Auf den durchnässtenKleiesack, schwermütig wie eine Lachsalve!, schreib ich DEINEN Namen.


Im maßgeschneiderten braunen
Trachten-Anzug, die grüne Samtweste mit dem eingestickten Edelweiß zurechtrückend und mit zuckendem Hitlerbärtchen, sagte der Vater: „Du wirst gleich eine Tracht Prügel kriegen!“ Seine Fingernägel schnitt er in der Küche, auf dem grünen Diwan sitzend, immer mit der kleinen silbernen Beißzange ab, mit der er auch die Zähne der neugeborenen Ferkel abzwickte. „Du kannst wohl nicht zwischen Mensch und Vieh unterscheiden!“, rief die Schwester, wenn er in den Stall ging und einem kränkelnden Kalb unser aller Quecksilber-Fieberthermometer in den Hintern steckte. „Arsch ist Arsch!“, war seine Antwort auf die Empörung seiner Tochter.


Auf den Saum des Totenkleides meiner kinderlos gebliebenen Taufpatin Tresl schaue ich, die mich als dreijähriges Kind über den offenen Sarg meiner aufgebahrten Großmutter mütterlicherseits hebt mit den Worten „Schau, Seppl, schau!“ und die auch noch das durchsichtige, schwarze Bahrtuch in die Höhe hebt, damit ich das Totenantlitz der Verstorbenen besser erkennen kann. Knapp zwei Jahrzehnte später, während die Tresl, auf dem Küchendiwan sitzend, das eine nach dem anderen Wachskruzifixlein in ihr zukünftiges Totenkleid einnähte, sagte sie: „Seppl! Wirst wohl hinter meinem Sarg hergehen? Wenn es so weit ist?“ Und als sie im Leichenzug, angeführt vom schwarz gekleideten Priester und den schwarz gekleideten Ministranten, zu Grabe getragen wurde, tropfte es aus ihrem schwarzen Schrein. Die Sargträger beschleunigten ihre Schritte und putzten vor dem offenen Grab, nachdem der Sarg mit zwei Hanfstricken in die von der Totengräberin ausgehobene Grube gesenkt worden war, mit den Buschen der roten Nelken ihre flüssig gewordenen sterblichen Überreste von ihren Schultern.


DEINEN Namen schreibe ich auf einen Kleiderhaken voller Trauerschleier, auf die knisternden Depeschen der Flammen im verrußten Kamin. Auf die Hängematten des Frühnebels. Hinter die Ohren des Wasserfalls, an dem mein Vater als vierzehnjähriges Kind zweihundert Schafe vorbeitrieb, die reißende Lieser entlang. Alle Schafe, so erzählte er, habe er beim Almabtrieb an ihren Gesichternwiedererkannt und von den Hunderten Schafen der anderen Bauern unterscheiden und trennen müssen. Auf die am Auferstehungstag ihre Ärmel aufkrempelnden Kindergrabsteine. Auf die am Dorffriedhof zwischen den rostigen Kreuzen tanzenden Schneeflocken nach der Exhumierung der vom Dorfapotheker mit überdosiertemStrychnin ermordeten Kinder, die an Pseudokrupp erkrankt waren, drei, vier waren es. Und auf die Lippen ihrer unerhörten Todesschreie schreib ich DEINEN Namen. Die dicken Wachskerzen mit den aufgeklebten Engeln aus Marzipan verzehrten sich selber und erloschen der Reihe nach durch den herabfließenden Zucker. Die schwarzen, durchsichtigen Nylontrauerschleier durfte die Verkäuferin im Kaufhaus Samonig in Villach nur in der Haushaltsmenge abgeben. „Die Trauerschleier gibt es nur in der Haushaltsmenge!“, hat sie gesagt, hinter der Verkaufsbudel stehend, in ihrem blauen Mantel. Hut ab vor dem Penicillinkurier mit seinem Phiolenkummer! Denn zwei, drei Jahre später stand der kleine Kindermörder im mausgrauen Mantel schon wieder hinter der Budel einer anderen Apotheke im Kärntner Drautal und gab Aspirin aus, Strychnin und Penicillin. Aber nur in der Haushaltsmenge.
DEINEN Namen schreibe ich auch auf
die Spuren im Schnee des sechsjährigen Kindes, das in der Adventzeit um sechs Uhr morgens mit nackten Füßen und gestreiftem Schlafanzug über das Dorf dem zur Frühmesse gehenden Pfarrer Franz Reinthaler nachlief unddem am nächsten Tag ein roter Ministrantenmantel um die Schultern gelegt wurde. Auf die Wirbelsäule des Pfarrers, wenn ihm bei der Konsekration der Hostie das Missgeschick widerfuhr, dass ein paar Splitter von der großen Hostie auf den Altarboden fielen, er sich bücken und sich die gefallenen Stücke vom Leib Christ einverleiben musste mit dem traurigen Blick eines scheißenden Hundes. Liebster Jesus, hast so weh, wart, ich tu ein Sälblein streichen, gelt, dann tut der Schmerz schon weichen! Dann und wann, wenn es geschüttet und gehagelt hat, sind wir Kinder mit herausgestreckter Zunge über die Dorfstraße gelaufen, haben uns vor dem Dorfkruzifix niedergekniet und haben demHerrn der genagelten Knochen mit klitschnassem Kopf und Hagelkörnern zwischen den Zähnen ins holzgeschnitzteGesicht gerufen: „Siegesgewiss klappert sein Gebiss! Siegesbewusst wackelt die Brust!“ Schließlich kniete ich am Karfreitag winselndim schwarzen Beichtstuhl mit dem violetten Vorhang und antwortete auf die Frage des Pfarrers: „Widersagst du dem Teufel?“ – „Ich widersage!“ – „Und allen seinen Werken?“ – „Ich widersage!“ Während nämlich die Mutter und die Schwester in unserem Bauernhaus den Osterputz machten und der Bruder, der zukünftige Ackermann, mit einer gehörnten Hieflerstange die Schwalbennester in den Stallecken zerstocherte.


Auf das linierte und auf das karierte
Schulheft meiner Kindheit. Auf die von der Tafel rutschenden Brösel der zerbrochenen Kreide schreib ich DEINEN Namen. In der Karwoche, sagte der Pfarrer zu uns Kindern, in der Karwoche verstummen die Dorfglocken, denn sie fliegen nach Rom. Tag für Tag habe ich mich in der Karwoche auf dem Pfarrhügel zwischen den Birken auf eine bemoosteBank gesetzt und voller Erwartung auf den Kirchturm hinuntergeschaut. In der Kirche habe ich mich ganz schnell umgedreht, um zu sehen, ob sich die Heiligenfiguren nicht doch bewegen und mir nachschauen. Und wenn dann und wann an der Straße, unweit von der Kirche, wo ich oft aus Langeweile herumlungerte, eine Rettung mit Blaulicht und Sirene vorbeifuhr, machte ich ein Kreuzzeichen und betete für den Verunglückten, für den Sterbenden, für den Kranken und für mich. Heiliger Schutzengelmein, lass mich dirempfohlen sein, steh in jeder Not mir bei, halte mich von Sünden frei, führe mich an deiner Hand, ins himmlische Vaterland, Amen!


Auf die schwarzen Krawatten mit ihrenschlampig abgesicherten Jauchegruben, in denen mörderische Bauern ihre Frauen und Kinder entsorgt haben, unbehelligt, ein Jahrhundert lang. Auf den waagrechten und auf den senkrechten Querbalken meines in Form eines Kreuzes wiederaufgebauten Heimatdorfes, nachdem es von einem einzigen Sirius-Zündholz in einer Kinderhand, einem Häufchen Heu auf derTennbrücke und dem aufkommenden, das anbrennende Heu in den Stadel treibenden Wind zur Gänze eingeäschert worden war, schreib ich DEINEN Namen. Vom anderen Ufer der Drau, von einem Hügel aus, sah man ein dorfgroßes, brennendes Kreuz. Und als bei einer Überschwemmung der Drau die Fluten einen Teil des rund um die Kirche angelegten Friedhofs wegrissen, schwammen Holzkruzifixe, Totenkränze, Skelette, Kinderleichen und Erwachsenenleichen auf den Feldern und düngten den Roggen und den Weizen, die Rüben- und die Erdäpfeläcker.


Auf den Radau der Milchglasscheiben in der Bauernstube, als der Vater mit dem Tod rang unter dem eingeglasten Brustbild seines Herrn und Erzeugers, den er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr siezen musste – „Herr Vater! Darf ich Sie um ein Stück Speck bitten?“ Und in die Luftlöcher des väterlichen Totenkopfes schreib ich DEINEN Namen. „Der Tod ist gar nichts! Kinder! Schaut, wie man stirbt!“, sagte der Dichter Italo Svevo zu seinen um sein Totenbett stehenden Kindern. Zehn Jahre nach seinem Tod, nachdem seine arme Seele lange im Fegefeuer ausgeharrt hatte, ist mein Vater wohl in den Himmel aufgefahren mit Sack und Pack, denn erst kürzlich habe ich geträumt, nachdem meine Kinderseele wieder zerschnitten, zerfleischt und zerhackt worden war zwischen seinen sich im Kreis drehenden Rasierklingen und dem Veitstanz seiner Getreidesichel, kürzlich also habe ich geträumt, dass der Vater ausgerechnet in Palermo, wo ich einmal tagelang in der Kapuzinergruft aus und ein gegangen bin und besonders den Priesterkorridor mit den eingekleideten, vertrockneten Leichen der Bischöfe und Kardinäle besucht habe, der Vater also in Palermo auf einem Kinderfahrrad sitzt und fröhlich ein Kinderlied singt. Aber zwanzig Jahre vor seinem Tod, im Alter von achtzig Jahren, sagte er einmal zu mir: „Seppl! Weißt du was? Zehn Jahre möchte ich noch leben, zehn Jahre, dann ist die Hölle sowieso voll, dann bin ich im Himmel!“


Beim Begräbnis meines Vaters, als ich in Tokio war, haben die alternden Chorknaben von der Kameringer Singgemeinschaft in ihren Kärntner Trachtenanzügen vor dem offenen Grab mit Gänsehaut in den Kehlen „Trogmi ause übern Onga!“ gesungen. Komm, mein Vater, niste dich ein in meine Augenhöhlen mit deiner Zuchtrute, und versprich mir den sagenhaften Vierklee des Unglücks mit der durch den Regen fliegenden engen Treppe unseres Mutter- und Vaterhauses, über die du einst mit dem Leichenbestatter Stufe für Stufe deine Mutter in einer Wolldecke getragen hast, hinunter ins Aufbahrungszimmer, keiner ist ausgerutscht und gestürzt mit dem Leichnam auf der abgetretenen sechzehnstufigen Stiege. Am selben Abend haben wir uns in der Küche auf dem Diwan wieder hineingekuschelt in diese graue Wolldecke mit den grünen Streifen.


Auf den Luftzug des am Bahnsteigvorbeidonnernden langen Güterzuges, der den neben den Gleisen abgestellten Kinderwagen in die Lüfte hob, schreib ich DEINEN Namen. Zwei Tage später, noch vor dem Begräbnis des Kindes, sah man eine herumstreunende Katze, die unweit von der Todesstelle auf den glänzenden Zugschienen die Krallen wetzte. Auf die Kufen der olympischen Schlittschuhläufer im Augenblick der Todesspirale. Auf die erste flimmernde Mattscheibe meines Lebens im großelterlichen Schlafzimmer mütterlicherseits, auf der ich John F. Kennedy in Dallas, Texas, sterben sah. Immer wieder sah ich auf dem Bildschirm in Zeitlupe den sich langsam vor- und zurückbeugenden und im Todeskampf schüttelnden Oberkörper des amerikanischen Präsidenten. Auf den Schlussstrich der Meereswelle in der Sekunde des endgültigen Sonnenuntergangs. Auf den Todesschrei des Tannenholzfällers ein paar Tage vor dem Heiligen Abend, mit einem Begräbnis als Bescherung. In die schwarzen Löcher der Schachbretter, wo die Bauern neben den Holunderstauden einfallen in ihre Jauchegruben und in den Plumpsklos ohne Herrgottswinkel wiederauferstehen, mit den herausgeschnitzten Herzen auf den ranzenden Türen der kleinen Gebäude am stillen Ort, schreib ich DEINEN Namen.


Große, durchschnittene Kalbsaugenhängen statt der GravensteinerÄpfel im Obstgarten meines Großvaters mütterlicherseits auf dem Baum. Auge auf! Wie oft habe ich meinen Finger ins frisch gebackene warme Brot gebohrt und dem Pfau die zusammengestauchten Brotbröckchen vor die Beine geworfen auf dem Hof meines Großvaters mütterlicherseits, der im Zweiten Weltkrieg innerhalb eines Jahres drei Söhne im jugendlichen Alter verloren hat, in Russland und Jugoslawien, 18, 20 und 22 Jahre alt waren sie, unsere Helden. Auge zu! Der Bauchtanz der Esskastanien im farbenprächtigen Herbst, wenn wir die Soldaten feiern, wie sie fallen! Denn Geben ist seliger denn Nehmen, also hart im Nehmen und sanft im Geben! Und ich? Ich bin doch des Todes leibeigen.Und es kann anders werden nicht! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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