Warum immer noch Brecht?

Immer trägt es mich davon, wenn ich über Brecht nachdenke, schreibe. Doch genau das macht mich ihn so lieben: dass ich blind vor den Büchermetern Brechts stehen kann, einen Band herausziehen, irgendwo aufschlagen, und schon finde ich einen Satz, der mich aus der Fassung in die Fassung bringt.

Brecht: Symposium in Salzburg

Die diesjährigen Salzburger Festspiele bilden den Rahmen für ein internationales Symposium, gewidmet Person und Werk von Bertolt Brecht. In seinen ersten beiden Panels wurden die Schwerpunkte „Brecht und die Politik“ sowie „Brecht, der Dichter“ beleuchtet.

Das dritte Panel, am 11. August, 10 bis 13 Uhr, beschäftigt sich mit dem Komplex „Brecht und Weill“. Im Vortragssaal im Schüttkasten referieren unter anderem Stephen Hinton und Jens Malte Fischer. Den Abschluss bildet ein Gespräch von HK Gruber mit „Presse“-Theaterkritiker Norbert Mayer. Anmeldung unter office@festspielfreunde.at.

Und der Haifisch,der hat Zähne.“ Wer diese Zeilen hört, hat sofort den Song im Kopf und bekommt ihn nicht mehr heraus. Er wird ihn verfolgen, vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht Stunden, vielleicht den ganzen Tag und bis in die Nacht, vielleicht bis in die Träume, wenn ein Haifisch die Unterwassergitterstäbe knackt und sie gegen alle Vorhersagen bersten für ein blutiges Rendezvous. Der Haifisch, der hat Zähne, und er schlägt sie tief ein. Der Haifisch hat Biss. Er packt einen und lässt einen nicht mehr los. Und dann macht er sich zum Ohrwurm, wird ganz klein, so dass er in unsere Körper kriechen kann und die Blutbahnen hinabgleiten, wo er dann kreist und in den Pupillen als weißer Hai erneut die Lider aufschlägt.

Aber auch wenn man nicht an den Hai denkt, denkt man an Mackie Messer, den Mörder, an blitzende Klingen, an Sodom und Soho, an eine schwüle Hitze, die mit der Angst aus den Körpern steigt, denkt an einen Leierkasten in der dunkelsten Ecke der Blutschatten, wo ein Mann mit Zigarre steht und die Geschichte mit ruhiger Hand an der Kurbel dreht, als wäre sie ein Revolver und er der Finger am Abzug, der ununterbrochen feuert.

Wer ihn einmal gehört hat, der hört die Stimme Brechts, das Kratzen, die Stimmbänder wie aneinanderreibende Raueisen, diese irrlichternde, zu hohe Stimme, diese täuschende Stimme, die ihre Härte verbirgt, die Schärfe. Diese Stimme, die uns in Sicherheit wiegt, um uns alle Sicherheit zu nehmen. Diese Stimme, die ein Märchen erzählt, weil wir uns die Wahrheit nur als Märchen erzählen lassen wollen, als Moritat, die auf Mord und nicht auf Moral aus ist.

„Und der Haifisch, der hat Zähne“, näselt Brecht weiter, und setzt das Entscheidende dazu: „Und er trägt sie im Gesicht.“ Nein, der Haifisch versteckt seine Zähne nicht wie Mackie sein Messer. Der Hai zeigt sein Gesicht den Menschen, und Brecht zeigt den Menschen in ihrem Gesicht den Hai. Und er lächelt dabei, denn der Mensch zeigt seine Zähne, wenn er lacht. Brecht lehrt uns, freundlich zu sein. Mit einem Lächeln kommt man immer weiter. Und wenn es einem vergeht, ist es meistens eh zu spät.

Brecht ist der freundlichste Haifisch, den man sich vorstellen kann. Er darf nur kein Blut riechen. Da, wo unschuldiges Blut fließt,schnappt er zu. Brecht ist ein kleiner Hai, ein wendiger Hai, er ist schnell. Wenn man seine Flosse sieht, könnte man ihn für einen Delfin halten. Vielleicht ist er auch ein Delfin, er ist klug wie ein Delfin, wenn er unter Haien ist, die alle einen Hammer haben.

Ich muss aber, wenn ich den Haifisch-Song höre, immer auch an etwas anderes denken. Mein Onkel, der mit seiner Kamera durch die ganze Welt fuhr und sie wie ein Großwildjäger einfing, der mir aus jedem Land, das ich nur von der Fingerkuppe auf dem Globus kannte, etwas mitbrachte, mit dem man sich verkleiden oder Abenteuer spielen konnte, Torrerokostüme, Häuptlingskopfschmucke, Cowboyhüte, Schrumpfköpfe, Elefantenfüße, Trommeln, Samuraischwerter, Monstermasken aus der Südsee, Dschambias, Kettenhemden, Schiebermützen, die Patrone, mit der Jessie James erschossen wurde, ein Bärenfell. Er, der seine einzigen Bücher, den kompletten Karl May, in einen Glasschrank gepackt hatte, er, der halbblind war, aber seine Filme drehte und synchronisierte, dieser Onkel also hatte mir einen Haifischzahn mitgebracht, den meine Mutter in Gold fassen ließ und der an einer Kette über meinem Herzen baumelte, wenn ich versuchte, in meinen mexikanischen Cowboystiefeln und in der Jeansjacke mit den Totenkopfaufnähern die Schondorfer Strandpromenande vorbeizulaufen, gemeinsam mit meinen halbstarken, mit mir spätpubertierenden Jungs. Die Gitarrenkoffer schleppend, als transportierten wir Maschinengewehre, liefen wir auf dem Weg zu unserem Übungsraum an dem Haus vorbei, in dem Brecht manche Male Urlaub gemacht hatte, bevor er sich im Nachbarort später ein Haus kaufte, das er auf der Flucht vor den Nazis zurücklassen musste.

Natürlich kannte ich damals Brecht noch nicht, mehr vom Hören als vom Sagen, denn Mackie Messer und den Haifisch, die kannte ich.

Der Haifischzahn banne das Böse, sagte mein Onkel, der sich an sein eigenes Böses nicht erinnern wollte, nicht an die braunen Schatten, nicht an die Bilder in den Schubladen und hinter den verdunkelnden Sonnenradgläsern. Und der, als meine Tante starb, im Winter mit seinen Erinnerungen in den See ging. Als ich anfing, Fragen zu stellen, war er nicht mehr da, sie zu beantworten. Aber den Haifischzahn hatte ich neulich wieder in der Hand, und ich erinnerte mich, dass ich damals, als ich ihn trug, schon Gedichte schrieb, nein, eher Songs. Und dass ich immer öfter auf diesen Brecht stieß, der aus den schwarzen Wäldern kam, denn Augsburg, das lag für uns in einem schwarzen Wald, wo dieses Schlangenzungenschwäbisch gezischt wurde.

Schon damals war dieser Brecht, der seinen übergroßen Ledermantel wie eine zweite Haut zu Markte trug, der die Haare kurz geschoren hatte über seinem stechenden Lächeln, damals war dieser Brecht für mich einer, auf den ich bauen wollte, schon bevor ich ihn zu lesen anfing.

Aber wie immer trägt es mich davon, wenn ich über Brecht nachdenke, schreibe. Doch genau das macht mich ihn so lieben, dass ich blind vor den Büchermetern Brechts stehen kann, einen Band herausziehen, irgendwo aufschlagen, und schon finde ich einen Satz, einen Gedanken, der mich aus der Fassung in die Fassung bringt, der mich fasziniert, provoziert, wütend macht, eifersüchtig, wach, einen Satz, der mich entmutigt oder erst recht ermutigt, einen Satz wie ein Schlag beim Boxen, den man einsteckt, weil man die Deckung vergessen hat.


Warum Brecht? Warum immer noch Brecht? „Es ist windstill um mich: ich könnte die Segel flicken. Aber es lohnt nicht, sich mit mir zu beschäftigen“, zieht Brecht Bilanz in seinen „Journalen“, und man muss ihm, dem Klassiker, entschieden widersprechen: Es lohnt sich; man kann und muss ihm sogar mit seinen eigenen Worten ins Wort fallen: „Ging da ein Wind / Könnte ich ein Segel stellen. / Wäre da kein Segel / Machte ich eines aus Stecken und Plane.“

„In der Kunst genießen die Menschen das Leben“, stellte Brecht nicht ohne Grund fest. Und wenn sie das Leben genießen, hoffen wir, werden sie gewillt sein, es zu verteidigen. Kunst ist Teil der Gesellschaft, aber Kunst wie Gesellschaft sollten Sehnsucht und Leidenschaft suchen: Mit Brecht können wir zusammen die Wirklichkeit greifen, begreifen und angreifen, wie etwas, das sich unter unseren Händen formen lässt, gestalten lässt. Es sind Autoren und Künstler wie er, die das Unverrückbare verrücken, eine Topografie der Träume auf unseren Hirnbahnen werfen, die einen Stachel spitzen, damit wir spüren, es kommt auf jeden an, und jeder kann dazu verhelfen, dort anzukommen, wo es anders ist und wird.

Bei Brecht müssen wir Liebe und Politik nicht als Gegensatzpaar denken, sie kreuzen und reimen sich, sie streiten, sie sind eins, selbst wenn sie sich entzweien. Die Politik ist in unserem Körper, aber verkörpert sie uns? Die Macht der Liebe, ist sie auch eine Liebe zur Macht? Was macht sie aus uns? Die Liebe verändert uns, aber wir lieben auch die Veränderung. Und wir dürfen dabei nie vergessen: „Was du aus Liebe machst“, schreibt Brecht im „Buch der Wendungen“, „kann dich nicht entwürdigen.“

Auch Brechts Stücke haben nichts von ihrer Präzision und Poesie verloren. Seine Stücke untersuchen die Kältegrade der Formstrenge, verfremden das Vertraute und machen uns vertraut mit der Anarchie des Wünschens und Werdens. Das alles lässt sich aus Brecht herauslesen, so kann man Brecht lesen. Man kann die Gegenwart über seine Stücke vermessen, man kann seine Stücke gegen den Strich lesen und mit ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Und man kann zeigen, was unter dem Strich der Wahrnehmung liegt und außerhalb der Scheuklappenwelt.

Das alles kann man, wenn man kann. Brecht sagte über Shakespeare, dass man ihn verbessern kann. Wenn man ihn verbessern kann. Kann man Brecht verbessern? Kann man, darf man seine Stücke spielen, wenn man seine Vorschläge nicht annimmt, sondern ausschlägt?

Brecht hat Theater immer als einen Arbeitsprozess begriffen, als eine kollektive Tiefenschärfung. Und wo nötig als eine Enteignung dessen, was sich eignet. Das Theater muss arbeiten, es muss alles in die Hände nehmen, es auf seine Haltbarkeit prüfen. Theater ist Architektonik, als Text und auf der Bühne. Theater baut um, übermalt, reißt nieder. Theater ist eine permanente Überarbeitung, eine permanente Übersetzung für das Jetzt des Spiels. Ja, Theater arbeitet, um zu spielen. Und wenn ein Abend ein Erfolg ist, dann ist er nicht nur der Erfolg der Schauspieler, sondern der Erfolg aller, der Erfolg des Theaters.

Nicht alles, was das Theater anfasst, wird zu Gold. Nicht alles lässt sich in Gold verwandeln. Aber wenn Theater alles, was es anfasst, als Gold betrachten und verehren muss, beißt es sich die Zähne aus. Dann wird alles schwer, unerträglich und untragbar. Der größte Respekt, den man dem Theater zollen kann, ist Respektlosigkeit. Kunst kommt eben, wie Achternbusch sagt, nicht nur von Können, sondern auch von Kontern. Was das Theater liebt, mit dem kämpft es wie ein Boxer mit seinem Gegner. Manchmal unterliegt es und bekommt dann die Fresse poliert.

Es ist lächerlich, Brecht beschützen zu wollen. Damit tut man ihm und seinem Werk nichts Gutes, im Gegenteil. Wenn es nicht zeitgemäß und zeitgenössisch vergegenwärtigt wird, wenn nicht damit auf dem Theater gearbeitet wird, dann verliert es immer mehr an Bedeutung und verschwindet in die Theatermuseen. Man muss Brecht wie Shakespeare behandeln.

Für mich war Brechts Herzschlag immer das Schiffschaukeln. Sein Leben lang wollte er sich im nackten Himmel überschlagen, den Wind einmal im Gesicht, einmal im Rücken. Er musste, stell ich mir vor, nur kurz die Augen schließen, dann saß er auf der Schaukel und warf seine Knie vor und wusste schon wie immer und in seinem Psalm vom Schiffschaukeln: „Die Zeit vergeht und nie Musik.“ Brechts Lyrik ist für mich der Soundtrack der Stadt.

„Ein Mann“, schreibt Brecht, „der etwas zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ In diesem Sinne hoffe ich, dass ich etwas zu sagen hatte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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