Was fehlt dir?

Sich selbst hassen. Den Kopf gegen die Wand schlagen. Das eigene Blut sehen wollen. Nicht mehr leben können. Der Alltag der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Landesklinikum Tulln: über Constantin Wulffs eindringlichen, komplexen Dokumentarfilm „Wie die anderen“.

Dass man Kinder zum Kinderarzt schickt, wenn ihnen körperlichetwas fehlt, wird seit Langem als sinnvoll erachtet, und Jugendliche werden noch bis zum vollendeten 18. Lebensjahr im Anlassfall auf der pädiatrischen Station aufgenommen. Geht es um psychische Erkrankungen, ist das österreichische Gesundheitssystem mit Kindern und Jugendlichen oft genug überfordert: Es besteht Personal- und Ressourcenmangel. 13 Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es derzeit in österreichischen Krankenhäusern – in eine davon begibt sich Constantin Wulffs Film „Wie die anderen“.

Szene: Ein Junge diktiert, einerseits stockend, andererseits fest entschlossen, was seine Wünsche für die nahe Zukunft sind. Eine Frau schreibt mit. Was er will? So sein „wie die anderen“.

Es gibt im Grunde zwei Arten von Menschen: diejenigen, die so sein wollen wie die anderen; und diejenigen, die auf keinen Fall so sein wollen wie die anderen. Nun, genauer genommen gibt es wohl diese zwei Arten von Menschen: diejenigen, die so sein wollen wie die anderen, weil die anderen immer irgendwie die besseren Sachen zu haben scheinen, irgendwie größer, irgendwie stärkerund im Allgemeinen irgendwie glücklicher aussehen, wobei solche Leute, die so sein wollen wie die anderen, gar nicht merken, dass sie eigentlich schon genauso sind wie all die anderen, die meist ja auch nur bessere Sachen haben, besser aussehen und/oder glücklicher sein wollen; und es gibt diejenigen, die auf keinen Fall so sein wollen wie die anderen, weil sie die anderen ziemlich doof und ziemlich bemitleidenswert finden und deren Besitztümer auch nicht so toll, wobei eben solche Leute, die keinesfalls so sein wollen wie die anderen, meist selbst mit der Gesamtsituation irgendwie ziemlich unzufrieden, also auch nicht glücklicher als die anderen sind.

Würde man es noch genauer nehmen, gäbe es noch ein paar andere Arten von Menschen, aber das Genaunehmen ist eine komplizierte Sache, die einfache Zeitungsartikel unschön anstrengend zu lesen macht. Natürlich hat man schon von solchen Menschen munkeln hören, die mit sich selbst den Großteil der Zeit über ganz zufrieden sind und die es gar nicht kümmert, was die anderen so treiben, aber diese trifft man wohl selten beim Psychiater oder Psychoanalytiker und darum auch nicht in diesem Text.

Es gibt auch zwei Arten von Schriftstellern. Nämlich solche, die zusätzlich zu ihrer schriftstellerischen Tätigkeit noch einer – oft „Brotberuf“ genannten – Arbeit nachgehen, und solche, die das nicht tun. Einer der bekannteren österreichischen Schriftsteller mit einem Brotberuf ist Paulus Hochgatterer, dessen nicht schriftstellerische Tätigkeit ebenfalls ziemlich bekannt ist, ja gar so anerkannt, dass sie in seinem Wikipedia-Eintrag vor der schriftstellerischen genannt wird: Er ist Psychiater. Seit 2007 ist er Primar der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Landesklinikums Tulln. Im Fall – denn in der Psychiatrie ist ein jeder ein Fall – von Hochgatterer kann man nicht einfach nur von einem Brotberuf, sondern muss gar von einer Brotberufung sprechen (die sich auch immer wieder inhaltlich in seinen literarischen Arbeiten auf das hochqualitativ Ungekünsteltste niederschlägt). In „Wie die anderen“ spielt Hochgatterer selbst allerdings nur eine kleine Rolle.

Denn sollten Sie denken, der Film wäre einer, in dem Constantin Wulff den Psychiater Hochgatterer porträtiert, so ist das ein Irrtum. Das Schöne an „Wie die anderen“ ist nämlich genau, dass es offenbar niemanden beim Machen des Filmes gekümmert hat,dass hier ein der Öffentlichkeit bekannter Schriftsteller Primar dieser Kinder- und Jugendpsychiatrieabteilung in Tulln ist. Alle Menschen, die in „Wiedie anderen“ vorkommen, sind der Öffentlichkeit nachder Sichtung des Filmes gleichermaßen bekannt: Patienten und Patientinnen, Betreuer und Betreuerinnen, und der Herr Primar.

In „Wie die anderen“ geht es also um alle und alles, was zum Alltag dieser Psychiatrieabteilung dazugehört. Um die Probleme der jungen Menschen, um die Ratlosigkeit, Uneinsichtigkeit oder gar offensichtlich Schutzfunktion übernehmende Blindheit der Eltern, es geht um die Ohnmacht des Personals angesichts von Ungewissheiten, die immer wieder notwendige Detektivarbeit, den Platz- und Personalmangel in Betreuungseinrichtungen. Hier handelt es sich allerdingsnicht um durcherzählte (Kranken-)Geschichten, es gibt wenig bis keine Hintergrundinformationen zum Vor-dem-Film, zum Leben außerhalb des Landesklinikums Tulln. Die gewählte Erzählform ist das Zeigen, das filmische Material dokumentiert in reduziertester Weise den Alltag einer medizinischen Einrichtung durch Aufzeichnen und Wiedergeben, auf Kommentare wird verzichtet, es gibt keinerlei platzierte Frontalerklärungen der Protagonisten, das effekthaschende Darstellen des sogenannten Reality-TVs fehlt völlig, und lediglich Schnitt und Nichtschnitt strukturieren das Erzählte. Die Dinge – und die Menschen – werden bei ihrem Namen genannt.

An dieser Stelle kann man als Zuseher durchaus mit dem Film in Konflikt geraten. Man fragt sich: Darf ich das? Darf ich hier zusehen, wie bei ihrem Vornamen genannte Kinder und Jugendliche ihre echten, wichtigen, wertvollen Therapiegespräche mit ihren Vertrauenspersonen führen? Darf ich den Blick durch die Kamera auf die nun enthüllten Selbstverletzungen, auf die von anderen zugefügten Wunden richten? Darf ich zuhören, wie darüber diskutiert wird, wie man mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch umgehen, ob man abwarten oder Druck ausüben soll, darf ich also zuhören, wie die Gefahr des weiteren Missbrauchs gegen das Risiko abgewogen wird, dass ein Drängen nur bewirkt, dass die Patientin in Zukunft noch weniger preisgibt?

Auf der Website zur Produktion heißt es dazu: „Sämtliche im Film gezeigten und/oder betroffenen Personen haben sich damit einverstanden erklärt, dass von ihnen für diesen Film unter allfälliger Einbeziehung ihres familiären Umfeldes Foto-, Film- und Tonaufnahmen gemacht werden. Bei minderjährigen Personen haben ihre gesetzlichen Vertreter ihr Einverständnis abgegeben. Die zur Verschwiegenheit verpflichteten Personen wurden ausdrücklich von ihrer Verschwiegenheit entbunden.“ Nun hat man es naturgemäß ineiner psychiatrischen Abteilung wie dieser ausschließlich mit minderjährigen Personen in Behandlung zu tun, auchwenn erwachsene Familienangehörige in die Therapie einbezogen werden, es hat also kein Patient, keine Patientin selbst ein Einverständnis geben können, für alle wurde diese Entscheidung von „gesetzlichen Vertretern“ getroffen. Man fragt sich also zuerst, ob manche der Antworten in den Therapiegesprächen auch so zögernd gekommen wären, wäre da keine Kamera im Raum gewesen, man fragt sich weiter, wie sich die Jugendliche fühlt, deren von Schnitten vernarbten Arme, sonst unter langen Ärmeln verborgen, jetzt für alle sichtbar sind, wieder und wieder und lange sichtbar, und wie sich der Bub, der da brüllend über den Gang robbt, später als Erwachsener fühlen wird, wenn er seinen eigenen Wutanfall für alle dokumentiert und zugänglich findet. „Es geht nicht, dass Kinder, die in meinen Büchern vorkommen, identifizierbar sind“, hat Hochgatterer 2011 in einem Zeitungsinterview noch erklärt und von einem Diskretionsgebot gesprochen. In „Wie die anderen“ sieht man ihre Gesichter.

Man fragt sich eventuell: Was müssen dasfür Eltern sein, die das erlauben?

Es gibt zwei Arten von Eltern. Auch das lernt man in „Wie die anderen“. Es gibt solche, die sich wünschen, dass bei ihrem Nachwuchs endlich eine ernsthafte psychische Störung diagnostiziert wird, die man „behandeln“ kann, in der man alle Probleme lokalisieren kann (und vielleicht sogar Sicherheit erlangen kann, dass man selbst nichts falsch gemacht hat), und es gibt wiederum solche, die es partout nicht wahrhaben wollen, dass es eine Krankheit ist, an der ihre Kinder leiden, etwas, was auch als solches akzeptiert und behandelt werden muss, dass es sich dabei nicht um Attitüden handelt oder reine Versuche des Aufmerksamkeitsheischens, ja dass selbst der reine Versuch, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schon ein Symptom sein kann. Der Frage, was es mit einer Familie macht, ein Kind zu haben, das stationäre psychiatrische Betreuung benötigt, wird nicht nachgegangen. Das wäre einanderer Film. Aber irgendwo in einer Ecke steht die ganze Zeit über die Angst einer Gesellschaft davor, dem Druck nachzugeben, „auffällige“ Kinder sofort als krank abzustempeln, zu behandeln, zu medikamentieren, also alle ohne große Überlegung möglichst gleichzuschalten.

Die Kinder hingegen scheinen meistselbst ziemlich genau zu wissen, was ihnen fehlt, selbst wenn sie sich schwer damit tun, es auszudrücken, oder auch einfach damit, mit ihren Anliegen gehört zu werden. Sich selbst zu hassen. Überfordert zu sein. Das eigene Blut sehen zu wollen. Manchmal einfach nur den Kopf gegen die Wand schlagen zu müssen. Nicht mehr leben zu können.

Eine Einstellung im Film zeigt das gut gefüllte Medikamentenlager. Eine andere den Monitor eines überwachten Raumes, in dem eine Jugendliche auf dem Bett fixiert ist, von zwei Betreuerinnen beobachtet. Doch nie wird das Geschehen auf der Leinwand zu einer Freakshow, nie überschreitet die Darstellung die Grenze zur Ausstellung, und mankann sich nur wundern, dass das gelungen ist. Vielleicht ist ja es sogar so, dass es für die Kinder heilsam sein kann, ihr Gesicht zu zeigen und zu sagen: „Ja, das bin ich.“ Vielleicht hilft dabei auch, dass offensichtlich nicht nur die Kinder mit ihren Kräften am Ende sind.

Sehr selten ist Hochgatterer im Bild. Im letzten Drittel der Laufzeit von immerhin 95 Minuten muss er sich von seinem Mitarbeiterteam in die Defensive drängen lassen, weiler keine Antworten geben kann auf die beinahe flehentliche Bitte nach mehr Fachpersonal. Aber da ist keine neue Stelle zu vergeben, also gibt es auch keine Ausschreibung. Kurz wird er ein wenig ungehalten, und man merkt, wie es an ihm nagt, dass er diesen Teil der Geschichte nicht umschreiben kann.

Vielleicht nimmt es also auch dem Personal der Abteilung ein wenig von der Last von den Schultern, mit der es sich alleingelassen fühlt, wenn wir ihm zumindest dabei zusehen, wie es damit kämpft. Vielleicht ist also „Wie die anderen“ vor allem dazu da, dass die, die aufgezeichnet wurden, wissen, dass sie nicht unsichtbar sind.

Spätestens wenn der Abspann läuft, möchte man alle in den Arm nehmen, die Kleinen wie die Großen, die Verzweifelten wie die Wütenden, die Stillen wie die Lauten, ganz egal, ob sie da im Behandlungsraum oder im Personalzimmer sitzen und es selbst nicht fassen, nicht weiterwissen, nur mehr sagen können, dass nichts mehr geht. Man möchte ihnen sagen, dass es oft genug ganz okay ist, nicht so zu sein wie die anderen, dass es eben okay ist, nicht okay zu sein. Und man fragt sich, ob es eigentlich überhaupt erlaubt wäre, in diesem Setting jemanden zu umarmen, denn so eine richtige Umarmung, die kommt im Film nicht vor. ■


„Wie die anderen“ startet am 11. September österreichweit in den Kinos. Informationen zu Vorführungen und Podiumsgesprächen unter www.wiedieanderen.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2015)

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