Der magische Moment

Musikalisches Schaffen zwischen Totenmesse, Totentanz und kurzzeitigem Glücksempfinden. Was bedeutete Musik im KZ Theresienstadt?

Es war schon spät am Abend, als wir plötzlich eine Frau mit einer roten Fahne sahen. Die Schranken des Ghettos waren geöffnet, die Rote Armee kam. Wir jubelten! Stundenlang standen wir draußen und sahen zu. Alle sangen, die Internationale, deutsch, tschechisch, polnisch, ungarisch, alles durcheinander“, schilderte die Überlebende Vera Nath die musikalischen Freudentöne der Inhaftierten von Theresienstadt, als die Russen die Leidenden befreiten. Musik wurde zum Symbol der Freiheit und hatte im Vorzeigelager der Nationalsozialisten eine zentrale Rolle gespielt. Musik diente dem NS-Regime als inszeniertes Hörbild, um vom Massenmord an der jüdischen Bevölkerung abzulenken. Für die Gefangenen fungierte sie zugleich als Antidepressivum, gemeinschaftsbildendes Widerstandssymbol und emotionaler Hoffnungsraum.

Die ehemalige Garnisonsfestung derHabsburgermonarchie wurde von den Nazis zwischen 1941 und 1945 in ein jüdisches Sammellager verwandelt. Hierher deportierten sie die politische, künstlerische und wissenschaftliche Prominenz der besetzten Länder, die die Nürnberger Gesetze als jüdisch definiert hatten. Theresienstadt hatte eine Sonderstellung innerhalb der Konzentrationslager. Vom NS-Regime als „jüdische Mustersiedlung“ getarnt, fungierte Terezín als Transitstation in die Vernichtungslager des Ostens.

Die Organisation des Lagers übergab die SS-Leitung der „Jüdischen Selbstverwaltung“. Zimmer-, Gruppen-, Gebäude- oder Bezirksälteste fungierten als Ordnungshüter und Informationsquelle zum „Ältestenrat“. Der und sein Vorsitzender, der „Judenälteste“, hatten zwar einen gewissen Entscheidungsspielraum, unterstanden aber den Direktiven der SS. Die zwei ersten der „Judenältesten“ wurden ermordet, nur der dritte, der Wiener Rabbiner Dr. Benjamin Murmelstein, erlebte die Befreiung. Sein Schicksal dokumentiert Claude Lanzmanns Film „Der Letzte der Ungerechten“.

Im Lager lebten Tausende Menschen als inhomogene Gemeinschaft. Zu den hierarchischen Unterschieden der Häftlinge gesellten sich nationale, und auch soziale und politische Gegensätze führten zu Dissonanzen. Die als jüdisch Deklarierten gehörten teilweise gar nicht dem jüdischen, sondern dem protestantischen oder katholischen Bekenntnis an oder waren konfessionslos. Und selbst in Theresienstadt existierte ein Antisemitismus.

Die SS verbot anfangs ein musikalisches Leben, duldete es aber in der Folge, um es schließlich sogar zur Befriedung nach innen und zur Propaganda nach außen zu fördern. So gab es die von der „Jüdischen Selbstverwaltung“ etablierte „Freizeitgestaltung“, die für die Organisation eines breit gefächerten Kulturprogramms zuständig war. Die Bilanz der Kulturveranstaltungen im Dezember 1942 liest sich unter den dort herrschenden unmenschlichen Lebensbedingungen bewundernswert: 92 Kameradschaftsabende, Kabaretts, Chanukah-Feiern mit 36.500 Gästen, 50 Vorträge mit 6000, 350 Blockveranstaltungen mit 16.700 Anwesenden. Zwölf Vorleser lasen etwa 1000 Stunden in 660 Zimmern, 6500 besuchten das Kaffeehaus. Das künstlerische Angebot lag qualitativ und quantitativ weit über dem Niveau einer kleineren oder mittleren Stadt.

Kaffeehaus im Konzentrationslager

In diesem Zusammenhang spielte Musik für die Gefangenen eine besondere Rolle. Es gab Opernaufführungen, Vokal-, Instrumental- und Kaffeehausmusik. Adaptierte Dachböden und ein eigener Konzertsaal dienten als Veranstaltungsräume. Das seit Herbst 1942 eröffnete Kaffeehaus bot von früh bis spät ein buntes Programm von klassischen Konzertmatineen bis hin zu Jazz- und Unterhaltungsmusik. Bestritten wurde das vielfältige Angebot von Berufs- sowie Amateurmusikern. Untertags mussten sie Zwangsarbeit leisten und konnten daher nur in der kargen Freizeit proben. Da Notenmaterial und Partituren fehlten, war es notwendig, beides in mühsamer Arbeit zu arrangieren. Um dem großen Andrang zu den Veranstaltungen gerecht zu werden, wurden Eintrittskarten ausgegeben, deren Zahl jedoch kaum der Nachfrage entsprach.

Musik ermöglichte einen Ausnahmezustand in einer Ausnahmesituation und bot den Inhaftierten ein emotionales Fluchtmanöver. Die Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása wurde ein derartiger Erfolg, dass Lieder aus ihr als Hymnen des Widerstandes und der Zuversicht gesungen wurden. Erst im Lager wurde Krásas Lebensinhalt die Komposition, und seine deutsche Orientierung wandelte sich in eine tschechische. Zudem war er Klavierbegleiter, schrieb Rezensionen und arbeitete bei Opernaufführungen mit. „Brundibár“ wurde Ende der 1970er-Jahre wiederentdeckt und gilt seither als wichtigstes Vermächtnis ihres ermordeten Komponisten.

Verdis christliches „Requiem“ und Smetanas tschechische Nationaloper „Die verkaufte Braut“ wurden oftmals wiederholt. Ebenso wurde verfemte Musik oder der als „entartet“ diffamierte Jazz gespielt. Zahlreiche Neukompositionen dokumentieren den Überlebenswillen ihrer Schöpfer. Die dargebotenen Klangwelten unterlagen kaum einer Zensur und umfassten ein Repertoire, das im Dritten Reich weitgehend verboten war. Mithilfe der Musik und der Kunst versuchten die vom NS-Regime als „Untermenschen“ diffamierten Häftlinge, ihre menschliche Würde zu wahren.

Ilse Weber (1903–1944), eine deutsch-jüdische Schriftstellerin und Komponistin, arbeitete als Krankenschwester und gab ihren Mitgefangenen Trost und Hoffnung. Unter ihrer Anleitung verfassten die Kleinen in den Kinderkrankenstuben Gedichte, Lieder und Theaterstücke, die ihnen als Therapie dienten. Mut sprach Weber zudem all jenen zu, denen sie mit oft improvisierter Lautenbegleitung ihre Lieder vortrug. Viele der Gedichte wurden von Inhaftierten auswendig gelernt. 1944 wurde die gesamte Krankenstube deportiert. Weber meldete sich freiwillig, um ihre Schützlinge gemeinsam mit ihrem Sohn Tommy zu begleiten. In Auschwitz-Birkenau wurden sie ermordet. Webers Mann Wilhelm, der das Lager überlebte, gelang es, Texte und Lieder in einem Geräteschuppen einzumauern und für die Nachwelt zu retten. So blieben auch einige Vertonungen ihrer Lyrik erhalten. Die Wiener Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944) gab Kindern seit ihrer Ankunft im Lager 1942 bis zu ihrer Deportation Kunstunterricht, indem sie sie mit rhythmischen Takten zum freien Malen animierte. So entstanden über 3000 Bilder, ein unmissverständliches Vermächtnis.

Ein Mädchenchor sang hebräische Lieder, um die Sprache des Landes der Hoffnung – Palästina – zu lernen. Das Mädchentrio aus Zimmer 28 studierte tschechische, deutsche und klassische Weisen ein, die es den leidenden Betagten darbrachte, um sie aufzuheitern. Jedes Zimmer besaß eine eigene, von den Jugendlichen geschaffene Hymne. Der „Theresienstädter Marsch“ von Karel Švenk aber wurde für viele zur Lagerhymne und für alle zu einem Hoffnungsträger, wenn es hieß: „Alles geht, wer's versteht, faßt an Händen euch und seht, und auf den Ghettotrümmern lachen wir uns schief.“ Sogar ein „Untergrundkonservatorium“ hatte sich gebildet, in dem die musikalischen Größen die Begabtesten unterrichteten, die ihr Wissen an andere weitergaben.

Alice Herz-Sommer (1903–2014), einer deutschsprachigen Pianistin und Musikpädagogin aus Prag, rettete die Musik sogar das Leben. Als Höhepunkt ihrer Leistungen galt die Darbietung der an einem Abend auswendig gespielten 24 Etüden Frédéric Chopins. Sie hintereinander zu präsentieren stellte eine körperliche und technische Herausforderung dar. Herz-Sommers musikalischer Enthusiasmus ging im Lager auf die 1930 geborene Anna Flachová über: „Die Chopin-Etüden von Alice Herz-Sommer machten einen solchen Eindruck auf mich, dass ich an diesem Abend beschloss, Pianistin zu werden.“ Die Musik bewahrte Anna, sie wurde Berufsmusikerin. Alice überlebte dank ihrer Kunst in der Stätte des Grauens. Sie starb im Alter von 111 Jahren in London.

Musik wurde zum symbolischen Lebensmittel. Der Komponist Viktor Ullmann (1898–1944) gründete ein „Studio für neue Musik“ und eines für alte, das „Collegium musicum“, daneben schrieb er zahlreiche Kritiken der im Ghetto-Lager aufgeführten Werke. Von der schweren Lagerarbeit befreit, besaß er ein seltenes Privileg, um sich ausschließlich der Musik zu widmen. In den 25 Monaten seiner Haft komponierte er zahlreiche Werke, darunter die Oper „Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung“. Er lebte im Augenblick und komponierte für die Ewigkeit. Nach seiner Ermordung in Auschwitz-Birkenau hinterließ er ein singuläres musikalisches Werk und zugleich philosophisches Erbe: Der Wille zur Kultur – in seinem Fall zur Musik – ist Überlebenswille.

Zuerst Auftritt, dann Vernichtung

Ende 1943 begann die SS die endgültige Verwandlung des Lagers in ein „Musterghetto“, um der Öffentlichkeit eine Scheinwelt zu präsentieren. Für den angekündigten Besuch des Internationalen Roten Kreuzes im Sommer 1944 mussten die Inhaftierten ein reges kulturelles Leben entfalten, bei dem Musik eine wichtige Rolle spielte. Die Repräsentanten des Roten Kreuzes wurden getäuscht. Nach ihrem Besuch rollten die Züge erneut mit den Todgeweihten in den Osten. Unter ihnen befand sich der Großteil der Musikschaffenden, die kurz zuvor mit ihren Darbietungen geglänzt hatten.

Die Zurückgebliebenen zwang die SS 1944, für den Propagandafilm „Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ nochmals den Schein zu wahren. Auch unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt, erschien er in Ausschnitten in Wochenschauen. Der Regisseur Kurt Gerron, ein bekannter UFA-Star, musste Regie führen. Mit dem bekannten Schlager „Bei mir bist du scheen“ traten die Combo-Mitglieder der „Ghetto-Swingers“ mit schwarzer Hose, weißem Hemd und dunkler Krawatte auf. Mit unzähligen Statisten, Sportveranstaltungen, einem reichhaltigen Kulturprogramm und spielenden Kindern inszenierten die Nazis ein trügerisch-beschauliches Leben der jüdischen Bevölkerung als Gegensatz zu den sterbenden Soldaten an der Front. Nach der letzten Klappe waren die Mitwirkenden überflüssig. Im Herbst 1944 wurden Tausende, unter ihnen zahlreiche Musikschaffende wie auch Kurt Gerron, nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Zwischen Herbst 1941 und Frühling 1945 waren über 140.000 Personen nach Theresienstadt deportiert worden, wo über 33.000 starben. Mehr als 88.000 wurden mit Transporten weiter in die Vernichtungslager gebracht, unter ihnen 15.000 Kinder und Jugendliche. Zwar waren die Kunstschaffenden Instrumente der NS-Propaganda, über die Klänge und ihre Wirkung hatten die Mörder jedoch keine Macht. So entstand musikalisches Schaffen zwischen Totenmesse, Totentanz und temporärem Glücksempfinden. Der von den Nationalsozialisten geplante Schlussakkord wurde zu einem musikalischen Plädoyer für den Erhalt menschlicher Würde. In ihm transformiert sich die Hingabe an die Kunst zu einem Wegweiser für Gegenwart und Zukunft: Musik als magischer Moment der menschlichen Existenz. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2015)

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