Schloss Balmoral auf hoher See

Unsere Kabine ist groß wie eine Gemeindewohnung. Der Pianist in der Commodore-Bar spielt „Traurigen Sonntag“. Und unsere Sommelière heißt Ekaterina und findet chinesischen Wein „unbalanced“. Unterwegs auf der Queen Mary 2: eine Selbsterfahrung aus der Rollstuhlperspektive.

Meine Großmutter väterlicherseits wuchs im ungarischen Donauknie auf. Grippe-Epidemie und die Horthy-Truppen dezimierten die Eisenbahnerfamilie. Großmutter flüchtete mit drei Schwestern nach Großpetersdorf im Burgenland. Zwei Schwestern wanderten nach Chicago und Kanada aus. Jedes Jahr zu Weihnachten schickte Tante Anusch aus Kitchener, Ontario, eine Ein-Dollar-Note. Ich hütete die Scheine wie einen Schatz. Die ersten Schritte zum Millionär schienen getan, und bekanntlich sind in der Welt der Hochfinanz die ersten Schritte die schwersten. AuchGroßmutter erhielt zu Weihnachten Post von ihrer Schwester, und zwar ein Kuvert mit der Aufschrift Cunard Line. Es enthielt den Prospekt eines großartigen Schiffes namens Queen Elizabeth 2, mit schwarzem Rumpf und rotem Schornstein. Anusch wollte die junge Witwe zu sich nach Kanada holen. Für die Kosten der Schiffsreise würde Anuschs Mann, Onkel Joe, aufkommen. Er stammte aus Trausdorf an der Wulka und beherrschte weder Deutsch noch Englisch, machte aber gutes Geld als Baumeister. In ein Flugzeug wäre meine Großmutter, das Kind vom Donaustrand, nie eingestiegen.

Der Weihnachtsdollar aus Kanada wurde zur Tradition, ebenso wie der Cunard-Prospekt für Großmutter. Es kommt der Tag, da fahre ich mit dem Schiff nach Amerika, sagte sie, und es klang wie eine Beschwörung. Kurz vor ihrem Tod flüsterte sie mir ins Ohr: „Fahr nach Amerika! Warte nicht zu lange damit. Fahr mit dem Schiff, das ist sicherer.“ Ich versprach es.

Wie das Leben so spielt, es kommt immer etwas dazwischen. Große Lieben, gescheiterte Lieben, verschiedene Jobs, Geldmangel, eine Querschnittlähmung. Aber im Vorjahr, 25 Jahre nach dem Tod meiner Großmutter, machte ich mich endlich daran, mein Versprechen einzulösen. Rollstuhlgerechte Zimmer sind auf dem Kontinent schwer zu bekommen, aber auf der Queen Mary 2 gibt es deren 16. Das Plündern meines Sparbuchs fiel mir seit der Entkoppelung von Einlagen und Zinsertrag leicht. Den Anweisungen der Finanzexperten folgend, investierte ich kräftig in die Weltwirtschaft, Abteilung Transport. Ich zahlte zwei Tickets für eine Kabine im achten Deck an. Das Schiff würde in Hamburg anlegen und dann über Southampton nach New York in See stechen. Dass ich, lange bevor die Institution derKur ins Gerede kam, meine Kur selbst organisierte, ist für einen Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen selbstverständlich. Ich stellte also bei mir selbst frühzeitig einen Kurantrag und erledigte denselben nach einer schicklichen Bearbeitungszeit von drei Monaten positiv, und das ohne eine Kiste Bordeaux oder einen größeren Schein investieren zu müssen. Was mich betrifft, bin ich korrekt.

Dann studierte ich das Bundespflegegeldgesetz, in dem es heißt: Das Pflegegeld dient der Erhöhung der Selbstständigkeit behinderter Menschen. Ich kam zu dem Schluss,dass das Pflegegeld seinen Zweck nirgendwo besser erfüllen konnte als auf dem größten und schönsten Schiff der Welt. Schließlich kürzte ich das Salär für meine Haushälterin um die Hälfte und begründete dies mit einem 100-prozentigen Kurselbstbehalt und der Volatilität der Finanzmärkte. Auch verzichtete ich schweren Leibes auf die privat organisierte Physiotherapie.

Des Weiteren strich ich teure Luxuslebensmittel wie Brot, Butter, Mineralwasser, Kaffee und Gemüse vom Speiseplan und ernährte mich nur mehr von Knäckebrot, Fallobst und Tetrapack-Wein. (Den gibt es immer noch, Sie müssen nur danach fragen. Merken Sie sich den Ort, für alle Fälle.) Schon nach einem halben Jahr hatte ich den Fahrpreis zur Hälfte finanziert, die andere Hälfte borgte ich mir von einem Floridsdorfer Wettganoven. Er verlangte nur 20 Prozent Zinsen, eine Geste wahrer Freundschaft.

Im heurigen Sommer war es dann so weit. Brütende Mittagshitze in der Hamburger Hafencity. Ein einsames Riesenrad, zweiKinder hängen benommen in den Kanzeln. Die Eltern lagern im Schatten der Containerkassa. Ein ausgedehnter Parkplatz, eine lang gestreckte Halle, eine Menschenschlange, dahinter eine schwarze Wand. Meine Frau und ich haben aber keine Angst davor, die nächsten Stunden zwischen Hartschalenkoffern und schwitzenden Passagieren zu verbringen. Ängste dieser Art mögen für Österreich und Mitteleuropa Gültigkeit haben, nicht aber für die angelsächsische Welt, und die Queen Mary 2, die wie die Eigernordwandhinter der Halle aufragt, ist die Ikone der britischen Welt. Und in dieser werden Kinder, schwangere, alte, gebrechliche sowie behinderte Menschen und deren Entourage von eigens für sie abgestellten Mitarbeitern begrüßtund zu einem Schalter geführt, an dem die Sicherheits- und Einreiseformalitäten ohne Verzögerung ihren Lauf nehmen.

In Windeseile ist der Papierkram erledigt, und wir werden über Rampen ins Schiff geleitet. Bordkarte. Danke, kein Foto. Ein Gang, breit wie eine Bundesstraße, roter Teppichboden, mahagonifarbene Wandverkleidung. Wir wähnen uns auf Schloss Balmoral in Schottland und stellen uns darauf ein, dass im nächsten Moment die Taufpatin des Schiffs, Queen Elizabeth, mit ihren Corgi-Pembroke-Hunden um die Ecke kommt. Denn auch Tiere haben auf dem Schiff ihren Platz. Auf Deck zwölf gibt es einen Hundeauslauf, „Be careful they may bite.“

Es versteht sich von selbst, dass das Flaggschiff der renommiertesten Reederei der Welt verschwenderisch ausgestattet ist. Neben Restaurants, Bars und Pubs, einer Diskothek, einer Dance Hall, einem Shuffleboard Field und einer Driving Range auf dem obersten Freideck ist auch für andere Dimensionen des Lebens vorgesorgt: Es gibt eine 10.000 Bände umfassende Bibliothek – das Angebot reicht von Thomas Pikettys „Kapital“ über Graham Greenes „Monsignor Quixote“ bis zu Karl-Markus Gauß' „ImWald der Metropolen“ in der deutschen Abteilung –, einen mit 50.000 Flaschen gefüllten Weinkeller und eine Krankenstation mit fünf Ärzten und einer Zahnärztin. Und all das ist mit dem Rollstuhl erreichbar, auch die Totenkammer mit vier Särgen.

Unsere Kabine ist groß wie eine Gemeindewohnung. Das Badezimmer mit befahrbarer Dusche ist geräumig, das Doppelbett imperial,Schreibtisch und Sitzgarnitur stammen aus Windsor Castle. Auf dem Balkon mit Sesseln und Tischchen ist Platz zum Manövrieren, mit etwas Geschick ist auch der Staffel mit dem Rollstuhl allein zu bewältigen. Herabgesetzte Kleiderbügel und zwei Türspione, einer für stehende, einer für sitzende Menschen, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Die Kabinengänge sind großzügig dimensioniert, Trolleys mit Wechselhandtüchern sind kein Hindernis.

Nachdem unsere Koffer mit dem Hauptvorrat an Kathetern für drei Wochen geliefert worden sind, widmen wir uns dem Schauspiel der Abfahrt. Zigtausende an den Ufern schwenken ihre blinkenden Handys, Hafenkneipen lassen Salut schießen, vom legendären Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee erschallt „God Save the Queen“.

Southampton ist ein nettes, unbedeutendes Städtchen und das Zentrum der britischen cruise industry, die großen Pötte nehmen hier Passagiere für die Kreuzfahrten auf. Die Queen Mary als einziger Transatlantik-Liner öffnet sich für ship lovers und Menschen, denen schon beim Gedanken an einen Transatlantikflug in vollgestopften Kabinen und mit dem Rollstuhl nicht benutzbaren Toiletten graut.

Am Nachmittag läuft sie von Southampton aus, wir schippern die Trichtermündung des Solent entlang und passieren die Isle of Wight. Im westlichen Ärmelkanal überholen wir ein paar Schiffe auf Parallelkurs, dann sind wir fünf Tage allein. Jeden Tag zu Mittag meldet sich der Captain von der Brücke mit einem Lagebericht. Der Meeresboden ist unterschiedlich tief, von ein paar hundert Metern beim Great Atlantik Ridge, dem längsten Unterwassergebirge der Welt, bis vier Kilometer beim Titanic Sink Point dreihundert Seemeilen vor Neufundland. Wir fahren 49 Seemeilen nördlich am Ort der Tragödie vorbei. Der Anblick von Eisbergen bleibt uns erspart. Wohl aber machen wir für zwei Tage die Bekanntschaft mit warmem Regen und Nebel. Sichtweite bis zu einer Seemeile bedeutet „fog“, bis zu zwei Seemeilen „mist“ und darüber „haze“, erläutert der Captain. Bereits ab Stufe eins wird alle fünf Minuten das Schiffshorn betätigt, auch im Zeitalter vondreifachem Radar und GPS ist die Einhaltung dieser Regel Pflicht. Am dritten Ozeantag erfreut er uns mit der Nachricht: „Right now we are in the middle of nowhere, 2500 seamiles away from the shores of Newfoundland, the same distance to Ireland.“

Niveauunterschiede auf den einzelnen Decks – so bei der Commodore-Bar oberhalbder Brücke oder bei der Buchhandlung –, werden mit Rampen erschlossen, massive Handläufe helfen beim Abstoßen. In längeren Steigungen laden niveaugleiche Plätze zum Verweilen ein. Eines Tages tost draußen ein Atlantiksturm, es herrscht hoher Wellengang, vor den Fenstern des Pubs auf Deck zwei ziehen Gischtseen vorbei. Die Freidecks sind geschlossen – „due to rough sea“. Balázs Pécsi aus Budapest ist Pianist in der Commodore-Bar. Seine Mutter wohnt in Leányfalu im Donauknie. Wir kommen ins Gespräch, und als er erfährt, dass meine Großmutter in der Nähe seines Dorfs aufgewachsen ist, spielt er den „Traurigen Sonntag“, jenes Lied, das in den Dreißigerjahren in Ungarn verboten war, weil es Selbstmörder beflügelte. Jedes Mal, wenn er mich sieht, spielt Balázs den „Traurigen Sonntag“, und er hört damit auch nicht auf, als ich ihm klarmache, dass ich zur Kur und nicht zum Suizid auf dem Schiff bin.

Unsere Sommelière heißt Ekaterina, sie stammt aus Melnik in Bulgarien und führt uns in die Feinheiten der Önologie ein. Die in China gefechsten Weine seien teuer und unbalanced, erklärt sie, die bulgarischen hingegen wiesen ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis auf und seien well balanced.

Auf Gängen und Decks, in Liften und Restaurants trifft man viele behinderte Menschen. Das schwerbehinderte Mädcheneiner Rabbi-Familie, das mit ihrem Spezialrollstuhl das Schiff unsicher macht, trifft man, Campari schlürfend, an einer Bar im zwölften Deck, zehn Minuten später saust sie, den Sauerstoffschlauch im Mund, ins Pub, wo sie sich ein Glas Boddingtons genehmigt. Ich mache es ihr nach. Pour into a large glass in one smooth action. Das muss man üben. Sehr oft üben.

Auf Deck sieben drehen die Passagiere ihre Runden auf dem boardwalk aus Teakholz, oder sie liegen in den Deckstühlen. Eine Runde umfasst 700 Meter, unter zehn Minuten ist sie schwer zu machen. Am letzten Tag, fünf Uhr morgens, passiert das Schiff die Narrows Verrazano Bridge. Die Skyline von Manhattan mit dem neuen One World Tower neben dem Financial Center taucht im Nebel auf. Eine Stunde später legt die Queen Mary 2 am Brooklyn Cruise Terminal in Red Hook, einer früher übel beleumundeten Gegend, an. Balázs Pécsi intoniert für uns den „Traurigen Sonntag“ und lächelt wehmütig. Es ist Sonntag. Bei Katz' Deli in der Houston Street nehmen wir ein Pastrami-Sandwich zum Frühstück. Der erste Teil der Kur war erfolgreich. Der zweite Teil, ein zehntägiger Aufenthalt in Manhattan, wird der Festigung des Kurerfolges dienen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.