Fremd im eigenen Land

Menschen & Maechte 'Der 1. Weltkrieg (1) - Kaiser Franz Joseph und der 1. Weltkrieg'
Menschen & Maechte 'Der 1. Weltkrieg (1) - Kaiser Franz Joseph und der 1. Weltkrieg'(c) ORF
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Sie wurden evakuiert, instradiert, perlustriert, approvisioniert, kaserniert, repatriiert. Eine Million Menschen: Flüchtlingsströme in Österreich während des Ersten Weltkriegs.

Damit hatte man in Österreich-Ungarn nicht gerechnet: Der Krieg, der 1914 so frohgemut begonnen worden war, entwickelte sich ganz anders als erwartet. Und das nicht nur militärisch. „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“, dichtete Georg Trakl. Er hatte die Kämpfe erlebt und auch jene, die vor dem Krieg flohen; und er zerbrach an dem, was er sah. Da zogen die polnischen Galizianer, Ruthenen, Huzulen, Zigeuner und andere Völkerschaften dahin. Juden kamen in hellen Scharen. Alle hatten ihre persönliche Geschichte, waren viele Wochen unterwegs und am Ende ihrer Kräfte. Doch sie erhofften, ja erwarteten Hilfe und hatten ein Anrecht darauf, denn sie waren zwar Fremde, doch im eigenen Land.
Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und der Beginn des Aufmarsches im Süden, vollends der Beginn des Kriegs gegen Russland hatten schlagartig Evakuierungsmaßnahmen ausgelöst. Flucht und Vertreibung nahmen ihren Anfang. Das galt für die an Serbien und Montenegro angrenzenden Gebiete der Habsburgermonarchie ebenso wie für die Kronländer im Osten. Während aber in Syrmien, der Batschka, dem Banat und in Bosnien-Herzegowina die zur Flucht gezwungenen Zivilpersonen, immerhin rund 10.000 Menschen, meist nicht sehr weit von ihrer Heimat untergebracht werden konnten, setzte in Galizien und der Bukowina im August 1914 eine Völkerwanderung in das Innere der Monarchie ein. Zunächst schien das alles noch überschaubar und hatte seine in der Kriegführung begründete Logik. Zivilpersonen sollten – wie es in einer kaiserlichen Verordnung hieß – „zu Zwecken der Kriegführung aus ihren Aufenthaltsorten zwangsweise entfernt“ werden. Es sollte ja auch zu ihrem eigenen Schutz geschehen.
Die Grenzregionen wurden entleert. Dafür standen knapp zwei Wochen zur Verfügung. Die Flüchtlingstrecks setzten sich in Bewegung. Die meisten Menschen wollten nichts anderes, als aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich entkommen. Schon bald aber hieß es weiterziehen. Und jetzt artete das alles in Flucht aus. Galizien wurde entvölkert, um dem Krieg Platz zu machen.
Also galt es für die Ministerien des Innern in der österreichischen wie in der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie, die Flüchtlingsfürsorge zu organisieren und zu finanzieren. Flüchtlingsströme mussten kanalisiert und in die für die Aufnahme bestimmten Kronländer dirigiert werden. Den ersten erzwungenen Halt gab es meist schon bei den Perlustrierungsstationen, die eingerichtet worden waren, um eine Auswahl vorzunehmen. Kam man ohne Hab und Gut und vor allem ohne finanzielle Mittel an, dann wurde man einem Flüchtlingstransport zugeordnet. Verfügten die Leute über die nötigen Geldmittel, konnten sie ihre Flucht auf eigene Kosten fortsetzen. Man brauchte keine Schlepper. Jeder wusste, wo der Ort seiner Sehnsucht, Wien, war. Weiter ging es, zunächst noch mit fahrplanmäßig verkehrenden Zügen, die allerdings in Oderberg (Bohumín), Teschen (Cieszyn), Marchegg, Bruck an der Leitha und Uherský Brod angehalten wurden, um die aus dem Nordosten der Monarchie herandrängenden Massen abermals zu kontrollieren, wobei streng darauf geachtet wurde, dass sich die Flüchtlinge nicht einfach auf Länder und Städte verteilten. 200.000 bis 300.000 Ruthenen und Polen Galiziens verließen im Verlauf der ersten großen Fluchtwelle ihr Land oder wurden zwangsweise evakuiert. Die meisten der Flüchtlinge nahmen den kürzesten Weg nach dem Westen oder über die Karpaten und landeten in Ungarn. Sie wurden weitergeschickt.
Die ungarische Regierung vertrat den Standpunkt, sie sei nur für die aus den Grenzgebieten zu Serbien kommenden Flüchtlinge zuständig und verfügte daher die Ausweisung der nach Oberungarn, die heutige Slowakei, geflohenen Bewohner Galiziens. Vor allem wehrte man sich mit Händen und Füßen gegen die Unterbringung von jüdischen Flüchtlingen. Aber auch andere Transporte wurden regelrecht bedroht. Als Anfang Oktober 1914 in Kaschau (Košice) ein Flüchtlingstransport ankam, stürmte die Bevölkerung zum Bahnhof, um die Auswaggonierung der Flüchtlinge zu verhindern.
Die Frage der Erfassung und Unterbringung der Flüchtlinge überforderte freilich auch die an einen friedlichen Normalbetrieb gewohnten staatlichen und Landesbehörden Österreichs zunächst ganz gewaltig. Und sie konnten niemanden zurück- oder auch nur weiterschicken. Galizien und die Bukowina waren Teil der österreichischen Reichshälfte. Folglich musste man schauen, wie man Quartiere für eine noch nicht abzusehende Flut von Menschen fand. Da man sie möglichst weit ins Hinterland bringen wollte, wurde der größte Teil in einige wenige Länder im Inneren Österreichs sowie nach Böhmen und Mähren verteilt.
Nicht überall waren sie willkommen. Dabei waren das erst die Vorboten einer Völkerwanderung. Die Masse der Geflohenen und Zwangsevakuierten hatte Wochen gebraucht, um in den Aufnahmegebieten einzutreffen. Und vom anfänglichen Verständnis für ihr Schicksal war bald nichts mehr zu merken. Die galizischen Flüchtlinge kamen mit einigen wenigen Habseligkeiten an. Sie wurden wie die Soldaten, die an die Front abgingen, in Güterwaggons transportiert, die mit den für Militärtransporte üblichen Aufschriften versehen waren: „40 Mann oder 6 Pferde“. Von Frauen und Kindern war nicht die Rede.
Die Galizianer suchten selbstverständlich auch den Weg in die großen Städte. In Wien zählte man schon im November 1914 rund 140.000 Flüchtlinge, in Prag, Brünn und Graz weitere 100.000. Im November 1914 gab es Tage, an denen in Wien an die 3000 Flüchtlinge eintrafen. Viele von ihnen waren Juden. Am 10. Dezember wurde der Zuzug nach Wien gestoppt. Prag, Brünn und Graz folgten mit ähnlichen Maßnahmen. Zur Jahreswende gab es in Wien dennoch an die 200.000 Flüchtlinge, von denen rund 150.000 mittellos waren.
Der ersten folgte eine zweite Flüchtlingswelle. Wieder musste ein großer Teil der Menschen in Niederösterreich, Oberösterreich, der Steiermark, Böhmen und Mähren untergebracht werden. Man wies sie in leer stehende Gebäude und Scheunen ein und stellte Zelte auf. Wieder wurden jene, die über ein eigenes Einkommen verfügten, in Privatquartiere eingewiesen. Die mittellosen Flüchtlinge aber sollten in Lagern untergebracht werden, die meist von kriegsgefangenen Russen und Privatfirmen errichtet wurden. Die ersten Barackenlager wurden im Oktober fertig und boten einen notdürftigen Schutz. In Wagna bei Leibnitz, um eines der großen Lager herauszugreifen, trafen die ersten polnischen Flüchtlingstransporte im November 1914 ein. Einen Monat später wies das Lager bereits einen Belag von rund 14.500 Flüchtlingen auf. Gerade dieses Lager machte alle Probleme derartiger Notquartiere deutlich. Es fehlte an sanitären Einrichtungen, Wasch- und Desinfektionsmöglichkeiten. Von Schulen und Arbeitsstätten war noch keine Rede. Es galt zunächst nur, die Menschen unterzubringen. Im Dezember trat Flecktyphus auf. Im Jänner gab es bereits eine Typhusepidemie. Es mangelte an Ärzten, denn die waren häufig eingerückt, und jene Ärzte, die mit ihren Landsleuten aus Galizien geflohen waren, galten nicht als mittellos und entgingen daher der Unterbringung in einem Lager. Folglich mussten auch hier Notmaßnahmen herhalten. Erst nach einem halben Jahr wurde man der Typhusepidemie Herr.
Neue Lager entstanden. Zeitweilig wurden in die hallenartigen Baracken bis zu 600 Menschen hineingestopft. Man teilte die Räume in größere Einheiten, diese wieder in Abteile für einzelne Familien. Herde in den Mittelgängen, Bäder und Aborte ergänzten die sehr einfachen Unterkünfte. Betten waren meist die eisernen Militärbetten, auf die Strohsäcke gelegt wurden. Kästen gab es keine. Die Habseligkeiten wurden in Koffern und Körben aufgehoben oder an die Balken gehängt. Flüchtlinge waren anspruchslos und mussten es sein. Falls – was vorkam – Streit ausbrach, wurde von der Lagerleitung Militär angefordert. Wie das halt so war im alten Österreich.
Das Ministerium des Innern tat sicherlich sein Möglichstes, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Unterstützung kam von zahlreiche Hilfskomitees. Beamte wie Private stießen aber immer wieder auf heftigen Widerstand von Bezirks- und Landesbehörden, auch bei der Gemeindevertretung von Wien. Appelle, das Los der Flüchtlinge zu erleichtern, verhallten oft ungehört. Dass sie Fremde in der Heimat waren, wurde nicht verstanden. Bald hieß es sinngemäß: Das Boot ist voll.
Da und dort gewöhnte man sich an den Anblick der Flüchtlinge. Vor allem in den großen Städten gingen sie in den Massen unter. Doch in den kleineren Orten und in den ländlichen Regionen erregte das fremdartige Aussehen vor allem der Ostflüchtlinge immer wieder Aufsehen. Man stieß sich an der ungewohnten Kleidung, den bis dahin kaum gehörten Sprachen und mokierte sich über Sitten und Gebräuche. Manche rochen nicht gut. Juden im Kaftan, mit Schläfenlocken und langem Bart, wurden argwöhnisch gemustert. Der Antisemitismus feierte fröhliche Urständ. Ablehnung und Unmut wuchsen, als die Flüchtlingsströme nicht enden wollten.
Kaum aber war die Unterbringung der Ostflüchtlinge geregelt, kam die nächste Welle. Der Krieg gegen Italien hatte auch im Südwesten der Habsburgermonarchie Flucht und Vertreibung zur Folge. Und im Mai 1915 begannen sich die Bilder im Trientinischen und im Gebiet des mittleren und oberen Isonzo an jene schon bekannten Bilder aus dem Osten der Monarchie anzugleichen: Die Bevölkerung in den grenznahen Ortschaften und Einzelgehöften war aufgefordert, die Häuser zu verlassen. Wer nicht freiwillig ging, wurde zwangsweise evakuiert. „Jeder nehme einen Handkoffer mit dem Notwendigsten mit sich – eine Wolldecke und Proviant für fünf Tage“, hieß es auf Plakaten, die landauf, landab affichiert wurden. Wieder suchte man keine nahe gelegenen Gebiete aus, um die Flüchtlinge und Evakuierten aufzunehmen, sondern abermals die weit im Inneren der Monarchie gelegenen Städte und Ortschaften – und nicht zuletzt die Lager. Wo es hinging, erfuhren die Quasi-Deportierten erst zuletzt.
Diesmal war das Ministerium des Innern nicht überrascht worden. Bereits im April 1915, also zu einer Zeit, als noch darüber verhandelt wurde, ob es wirklich zum Krieg mit Italien kommen musste, hatten die Statthaltereien die Gemeinden im Inneren der Monarchie angewiesen, Unterkunftsmöglichkeiten für Flüchtlinge bekannt zu geben. Im Mai wurde eine Zentraltransportleitung eingerichtet. Die Verteilungsstationen waren Salzburg und Leibnitz. Dort gab es auch eigene Perlustrierungsstationen, wo man wie an den Kronlandsgrenzen im Osten nach dem Aschenputtel-Prinzip verfuhr. Verfügten die Flüchtlinge über finanzielle Mittel, wurden sie vorher festgelegten Flüchtlingsgemeinden zugeteilt. Waren sie mittellos, kamen sie in Lager. Doch dabei sollte es nicht sein Bewenden haben, denn wenn der Verdacht bestand, jemand könnte ein Spion sein oder mit Italien sympathisieren, kam er in ein Internierungslager. – Und wieder rollte Transport auf Transport. Häufig bezogen die aus dem Südwesten kommenden Flüchtlinge jene Lager, die bis dahin von Polen und Ruthenen belegt gewesen waren. Diese aber wurden „umgelagert“ oder heimgeschickt. Eine Grobschätzung besagte, dass aus den an Italien angrenzenden Gebieten der Monarchie abermals 150.000 Menschen unterzubringen waren. Damit schwoll die Gesamtzahl der mittellosen Flüchtlinge kurzfristig auf 550.000 an, zu denen noch jene kamen, die mit einer gewissen Barschaft ausgestattet, aber jedenfalls Entwurzelte waren und weitere 300.000 bis 400.000 Menschen zählten. Alles in allem ergab das die runde Zahl von einer Million Menschen.
Um ihnen die wichtigsten sozialen Kontakte zu ermöglichen, die sprachlichen Barrieren niedrig zu halten und die konfessionellen Bedürfnisse zu stillen, wurden die Lager nach nationalen, sprachlichen und religiösen Gruppen getrennt. Und so waren denn in Braunau am Inn Südtiroler italienischer Nationalität, in Bruck an der Leitha Slowenen, in Enzersdorf im Thale in Niederösterreich Rumänen und Ruthenen aus der Bukowina, in Pottendorf-Landegg küstenländische Bewohner italienischer Nationalität, in Mitterndorf bei Grammatneusiedl italienische Südtiroler, in Oberhollabrunn Rumänen und Ruthenen aus der Bukowina, in Steinklamm Kroaten und Slowenen, in Unterwaltersdorf Polen, in Wagna bei Leibnitz erst Polen, dann küstenländische Bewohner italienischer und slowenischer Nationalität, in Wolfsberg Ruthenen. Im Flüchtlingslager Braunau fanden in 129 Baracken rund 12.000 Menschen Unterkunft, dreimal so viel, wie Braunau Einwohner hatte. Im kleinen Wagna bei Leibnitz zählte man an die 30.000 Menschen.
Doch das waren nur die Hauptlager. Dazu kamen unzählige Ortschaften, in denen nur wenige Dutzend oder ein paar Hundert Flüchtlinge Quartier fanden. Es war unabdingbar geworden, sie immer mehr aufzuteilen und die Lasten zu verteilen. In Oberösterreich kam der Bezirk Eferding dazu, und auch in Grödig bei Salzburg entstand ein größeres Lager. Der tagebuchführende Gendarmerie-Postenkommandant von Grödig konnte sich nicht genugtun zu betonen, wie großartig das Lager in seinem Revierbereich war. Es besaß eine eigene Trinkwasserleitung für Wasser vom Untersberg, Nutzwasser wurde aus dem Almkanal zugeleitet. Das Lager war kanalisiert, hatte ein Spital mit Operationssaal, Isolierbaracken für Infektionskranke, Desinfektions- und Entlausungsstation, Fäkalienverbrennungsanlage, Wäscherei und Badeanlage, ein eigenes Schlachthaus. 12.000 Flüchtlinge wurden solcherart untergebracht. Für die Lagerleitung gab es ein reiches Betätigungsfeld: „Die an keine Reinlichkeit, wenig Ordnung gewöhnte Belegschaft dieses Lagers, deren Faulheit auch noch besonders hervorzuheben wäre, verursachte viel Arbeit und stellte große Proben von Geduld und Ausdauer“, notierte der Gendarm. Doch er war auch einsichtig: „Ein Teil dieser Flüchtlinge vermochte sich nicht von seiner seelischen Niedergeschlagenheit zu erholen, obwohl diese Personen hier gut geborgen die Verhältnisse beziehungsweise Vorgänge in der Heimat ruhig abwarten konnten, denn sie waren entweder aus guten sicheren Anstellungen geworfen worden oder hatten ihr Geschäft, das sie unter viel Mühen zu einigem Ansehen gebracht hatten, oder Haus und Hof überstürzt verlassen müssen, um nur das nackte Leben retten zu können.“
Kaum war 1915 Lemberg zurückerobert worden, bereitete das Ministerium des Innern den Heimtransport der galizischen Flüchtlinge vor. Es schien zunächst ein reiner Verwaltungsakt zu sein. Natürlich drängten jene, die ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten und vielleicht Grundbesitz besaßen, nach Hause. Fragte sich nur, ob sie davon noch sehr viel vorfinden würden. Unendlich vieles war zerstört worden, nachdem die Front zweimal durchgezogen war, besonders dort, wo Hunderttausende Soldaten wochen- und monatelang im Krieg verharrt hatten. Nur einfach heimzufahren ging nicht. Dennoch wurde immer öfter versucht, jene, die sich einer freiwilligen Rückkehr widersetzten, zwangsweise zu repatriieren. Nicht sehr erfolgreich, da sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge in einem ganzen Jahr nur um rund 100.000 Menschen senken ließ. Daraufhin spitzte sich ein schon lange schwelender Konflikt zu: Die Statthaltereien, Gemeinden und Bürgermeister versuchten immer wieder, den zwangsweisen Abschub der Flüchtlinge zu erreichen. Sie standen nicht zuletzt unter einem zunehmenden Druck der einheimischen Bevölkerung, die nicht müde wurde, ihre Ablehnung zu artikulieren. Flüchtlinge seien „Schmarotzer“; sie seien schuld an „unhygienischen Verhältnissen“ und daher für den Ausbruch ansteckender Krankheiten verantwortlich; sie und vor allem die Juden unter ihnen würden die Preise in die Höhe treiben und den Schwarzmarkt beliefern. Sie galten als arbeitsscheu, sollten aber andererseits die für einige Berufe geltenden Arbeitsverbote beachten. In Wien hatten sich unter anderem die etablierten Rechtsanwälte erfolgreich dagegen gewehrt, die jüdische Kollegenschaft als Anwälte zuzulassen, da man ganz schlicht die Konkurrenz fürchtete.
Als es im österreichischen Abgeordnetenhaus am 22. Juli 1917 darum ging, ein Gesetz „betreffend den Schutz der Kriegsflüchtlinge“ zu verabschieden, war es der Berichterstatter Janez Evangelist Krek, der mit gar nicht feiner Ironie meinte: „Ich wundere mich, dass nicht alle Flüchtlinge Verbrecher geworden sind. Ich bewundere ihren passiven Heldenmut im Ertragen der Mühsale. Ich bewundere, dass diese Leute nicht scheu geworden sind am Staate, am Recht, am Gesetz, an der Ordnung, an der Welt, an Gott.“
Gefühle der Dankbarkeit klangen da nicht an. Dennoch meinte der Reichsratsabgeordnete Alcide Degasperi, dass zumindest seitens des Ministeriums des Innern für die Flüchtlinge wohl das Möglichste geschehen sei und aus „Verbannten“ schließlich „Staatsbürger“ geworden seien. Auch viel Liebe sei ihnen entgegengebracht worden, und zwar gleichermaßen in Böhmen, Mähren, Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark. Doch letztlich seien die Flüchtlinge wie Gegenstände und nicht wie Menschen behandelt worden. „Sie wurden evakuiert, instradiert, perlustriert, approvisioniert, kaserniert, als ob sie keinen eigenen Willen, als ob sie kein Recht gehabt hätten.“
Der Rücktransport der Flüchtlinge mutete dann mindestens so dramatisch an wie die Zwangsevakuierung. Einzeln und in Sammeltransporten kehrten die Entwurzelten in ihre vom Krieg verwüstete Heimat zurück. Sieben Millionen Menschen waren von den Verheerungen betroffen, ein Teil von ihnen stand ohne jegliche Habe da. Doch offensichtlich sah man darin keinen Hinderungsgrund, die Rückführungen beschleunigt fortzusetzen. Galizien musste wiederaufgebaut werden, koste es, was es wolle. Viele drängten tatsächlich nach Hause. Ebenso viele aber waren skeptisch, dass sie überhaupt noch etwas vorfinden würden, um sich wieder eine Existenz aufbauen zu können. Plötzlich schien das Lagerleben in Österreich erstrebenswerter als die Heimkehr. Im Stillen aber hatten gerade die mittellosen Lagerinsassen einen Traum: Sie wollten jenem Strom von Auswanderern folgen, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Galizien in die USA ergossen hatte. Den meisten nützte es freilich nichts, dass sie von einer Existenz in Übersee träumten. Sie mussten zurückkehren. Und als Meldungen eintrafen, die besagten, dass in Ostgalizien von den repatriierten Flüchtlingen täglich Hunderte starben, wurde das entweder nicht geglaubt oder es ließ kalt. So viele starben in diesem Krieg. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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