Die Klugheit der vielen

Symbolbild Wahl
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Es gibt Politiker, und es gibt Bürger. Und das war es dann auch schon? Verwischen wir die Grenze! Warum nicht eine Mischform von repräsentativer und direkter Demokratie wagen? Liquid Democracy, fließende Demokratie! Ein Aufruf.

Anfangs fremdelte ich mit der Politik. Nicht, dass es Gründe gegebenhätte, mich auf Distanz zu halten. Ich sah mich vielmehr gar nicht mit der Frage konfrontiert, ob ich mich involvieren soll. Es gab diese starreGrenze. Es gab Politiker, zu denen gehörte ichja offensichtlich nicht, und es gab Bürger. Bürger wählen, bestenfalls, und das war es auch. Ich hatte andere Gedanken im Kopf. Dass ich irgendwie verantwortlich für die Zukunft sein soll, kam mir nicht in den Sinn.

Bis zum ersten Mal, als ich wählen war. Eine Theaterregisseurin hatte mich davon überzeugt, das zu tun. Das Wählen selbstwar ein seltsam unzeremonieller Akt. Entgegen meinen Erwartungen hatte die Schule, inder die Wahlurne stand, keine roten Teppiche. Es war einfach eine Schule, mit jungen, fröhlichen Wahlhelfern, die große Zettel verteilten. Ich nahm einen solchen Zettel, ging in eine Kabine und machte ein Kreuz. Nachdem ich den Stimmzettel eingeworfen hatte, schloss ich die Augen. Jetzt habe ich also die Politik beeinflusst. Niemand hat überprüft, obich mich mit dem Thema befasst hatte. Niemand hatdie Motive hinter meiner Wahl überprüft. Man vertraute mir. Ein fantastisches Gefühl! Wenn man mir so sehr vertraut, dachte ich, will ich mich dieses Vertrauens als würdig erweisen. Das war der Moment, in dem ich diese magische Grenze überschritt. Am selben Tag,einem Sonntag, druckte ich ein Mitgliedsformular aus, füllte es aus und sandte es ab. „Ich bin jetzt in einer Partei“, sagte ich zu meiner Mutter. Sie schüttelte den Kopf.

Die Piratenpartei war mir damals gerade so sympathisch, weil sie sich nicht nur mit den Themen befasst hat, die demnächst so auf uns zukommen (von denen Netzpolitik, Datenschutz und Grenzen sich bereits als hochaktuell erwiesen haben). Sondern vor allem, weil sie auch das System infrage gestellt hat, wie Entscheidungen getroffen werden. Da war immer von Beteiligung die Rede, und am Anfang hatte die Partei auch vor, das in den eigenen Strukturen schon einmal auszuprobieren. – Aber ist Basisdemokratie immer gut? Daran habe ich berechtigte Zweifel. Basisdemokratie ist am Ende eine Demokratie der wenigen Aktiven, die Zeit dafür haben. Oft hörte ich in Diskussionen: „Wir reden die ganze Zeit über Freiheit. Meine Großmutter möchte in Ruhe ihre Rente genießen. Sie braucht das Gefühl zu wissen, dass jemand mit mehr Ahnung als sie für sie sorgt. Sie möchte nicht die ganze Zeit über alles entscheiden. Welche Freiheit bieten wir ihr denn an?“

Deshalb war es für mich besonders spannend, mit neuen Ansätzen zu experimentieren, die weder rein repräsentativ noch rein basisdemokratisch sind. Die dem Umstand Rechnung tragen, dass Menschen nicht nur politische Wesen sind, sondern auch Jobs, Kinder und Hobbys haben. Diesen Ansatz versprach die sogenannte Liquid Democracy. Ein Ansatz, der bereits seit 2003 im Gespräch ist. Leider bekam die Piratenpartei Deutschlands es letzten Endes nicht hin, dieses System intern verbindlich auszuprobieren. An dieser Stelle atmeten viele deutsche Parteien erleichtert auf und meinten, dass dieses System ja dann irrelevant sei. Aber so einfach ist es nicht. – Ich saß vorigen Monat auf demBalkon mit meiner Mutter, und wir sprachen über aktuelle Probleme der Politik. Über die Ukraine-Krise, über die womöglich bevorstehende Wirtschaftskrise, über Migration, die Konkurrenzfähigkeit europäischer Länder in der neuen Wirtschaft der Information. In diesem Gespräch fragte ich sie: „Wenn du wohlmeinender Diktator wärst, was würdest du ändern, um uns zukunftsfähig zu machen?“

Sie dachte darüber nach. Sehr lange. DreiTage später rief sie mich an und sagte: „Ich würde all die klügsten Köpfe aus dem Silicon Valley und von überall versammeln und sie bitten, mir eine Software zu schreiben, die zumindest ausrechnet, welche finanziellen und sozialen Faktoren mit welchen zusammenhängen.“ Das ist eine anspruchsvolle undunrealistische Aufgabe. Sie trifft aber einen Kern. – Durch die Globalisierung wird dieWelt nicht einfacher. Eine Kleiderspende in München oder Wien beeinflusst die Textilwirtschaft in Ghana. Der Entwurf eines einfachen Modells für einen 3D-Drucker kann Tausende von Arbeitsplätzen kosten. Um unter solchen Umständen sinnvolle und langfristige Steuerungspolitik zu machen, muss man ein Genie sein. Mindestens.

Deshalb verlegt sich Politik leider auch mehr und mehr darauf, Entscheidungen in demokratisch nicht legitimierte Expertenrunden auszulagern. Im schlimmsten Fall sind das auch noch Vertreter einer bestimmten Lobby, deren Interessen dann durchgesetzt werden. Nicht aus Boshaftigkeit – sondern aus der Unmöglichkeit eines Überblicks. Eine weitsichtige Politik ist so kaum möglich. Zumal wir mitten in gravierenden Veränderungen der Gesellschaft, Technik und Arbeitswelt stehen, die nicht vorhergesehen werden können. Die Lösung? Nicht Software, sondern Menschen. Denn werkönnte mehr Ahnung von den Entwicklungen einer Branche haben als die Menschen, die darin beschäftigt sind? Wer hat mehr Ahnung von den Auswirkungen von Familienpolitik als Eltern?

Das Ziel muss es jetzt sein, ein demokratisches System zu schaffen, das klüger ist als seine einzelnen Bestandteile. Schauen wir uns dazu an, wie das Gehirn funktioniert. Es ist im Prinzip eine Ansammlung von ziemlich dummen Zellen, die nur zwei Zustände kennen: ein und aus. Unsere Nervenzellen sind allerdings ganz besonders angeordnet – in einem Netzwerk. Die Arbeit dieses Netzwerks aus vielen, vielen Zellen ermöglicht uns komplexe Gefühle wie Liebe, Gedanken über den Sinn des Lebens und die Erkundung der Welt. Was wir möchten, ist also ein System mit möglichst vielen Elementen, die möglichst klug zueinander angeordnet sind. Zunächst einmal heißt das: Demokratische Partizipation muss allen offenstehen. Zweitens heißt es aber, dass nicht jeder gezwungen werden kann, gleich an allen Entscheidungen zu partizipieren. Menschen haben unterschiedliche spezielle Kenntnisgebiete, Betroffenheiten und Kapazitäten.

Das System Liquid Democracy schlägt hier vor, dass jeder Beteiligte eine Stimme hat und sie entweder selbst benutzen oderweitergeben kann. An irgendjemanden, der sich besser mit einem Thema auskennt, aber vertrauenswürdig ist. Nehmen wir an, ich muss meine Stimme zu einer ökonomischen Frage abgeben. Wenn ich sie nicht beantworten kann, frage ich meinen Kumpel, der Ökonom ist, wie er abstimmen wird. In besonders schwierigen Fällen wird der seinen Professor fragen. Weil ich meinem Freund vertraue, und er wiederum dem Professor, übernehme ich die Ansicht des Professors. Dieser Prozess wird transparent gemacht, indem ich meine Stimme einfach direkt meinem Kumpel übertrage, und der unsere beiden Stimmen seinem Prof. Der Professor stimmt in dieser speziellen Frage mit drei Stimmen ab – die ihm jederzeit entzogen werden können.

Im Gegensatz zu direkter Demokratie, die eher wie ein wilder Haufen funktioniert, bildet sich hier also ein Netzwerk aus Menschen, das, genau wie das Gehirn, aus dickeren und dünneren Knotenpunkten besteht. Die einflussreichsten Knoten sind die subjektiv als vertrauenswürdig eingestuften Experten. Und dadurch, dass Stimmen stets zurückgezogen und neu delegiert werden können, ist das Netzwerk stets im Wandel. Es ist ein hoch anpassungsfähiges Modell, das viel mehr Menschen aktiviert als bisher. Durch die verschiedene Verteilung von Stimmgewichten ist das Netzwerk intelligenter als die Summe seiner Komponenten.

In der repräsentativen Demokratie sind wir gezwungen, unsere Stimme zu delegieren, und zwar nur an bestimmte Menschen. Das machen wir durch Wahlen. Und haben wir gewählt, bleibt die Stimme eine feste Zeit in der Hand des Adressaten. In der liquiden Demokratie kann ich mich in einem Bereich, für den ich meine Stimme delegiert habe, jederzeit doch entscheiden, eine bestimmte Abstimmung selbst zutreffen, wenn sie mich unmittelbar betrifft. Dadurch bekomme ich das Gefühl, selbst entscheiden zu können. Ich werde eventuell politisch aktiviert und bin dadurch auch bereit, mehr Verantwortung zu tragen. Hierdurch werden zweiKonzepte massiv angegriffen: die Rolle des Politikersund die Rolle des Wählers. Die alte Verteilung sieht so aus, dass Politiker alles wissen und für alles verantwortlich sind. Sie wurden in kurzen Pressekonferenzen als perfekt sortierte, kompetente Menschen in gut sitzenden Anzügen gezeigt, die über alles die Kontrolle haben. Proportional dazu wuchs auch die Wut der Bevölkerung, wenn Dinge nicht gut liefen. Wenn man völlige Kontrolle hat, muss es ja Boshaftigkeit sein, weshalb Dinge gegen die Interessen der Bürger passieren. Letztere hingegen wurden gesehen und sahen sich selbst eher als passive Konsumenten von Politik, die sich alle paar Jahre zur Wahl – und während gelegentlicher Skandale – mal berufen fühlten, an Demokratie teilzunehmen. Im schlimmsten Fall nehmen sie dabei dieselbe Rolle ein, die sie auch als Konsumenten haben: Bequem auf dem Sofa sitzend, sehen sie sich Parteien wie Produkte an, die ihnen zusagen können oder nicht. An der Gestaltung der Produkte haben sie dabei keinen Anteil, nur an deren Erwerb.

Beide Rollen weichen in einer komplexeren Welt auf. Bürger übernehmen weit mehr Verantwortung für ihre unmittelbare Umgebung und für die Ausrichtung von Politik. Berufspolitiker werden durch ihre Erfahrung und Expertise eher zu Dienstleistern. Das ist genau das „Fließende“ an der liquiden Demokratie: der fließende Übergang zwischen Bürger und Politiker. Eine fließende Verantwortungsübertragung kann mit der Komplexität der heutigen Welt viel besser fertig werden als starre Rollenbilder. Und wo es keine magische Grenze zu überschreiten gibt, ist auch die Beteiligung viel höher. Das bedeutet weniger Einfluss für Lobbyisten, eine größere Legitimation von Gesetzen und langfristigere Politik.

Um unsere neue Rolle aber zu begreifen, brauchen wir vor allem eines: sehr viel politische Bildung. Bildung ist das, was zwischen Bevormundung und Mündigkeit steht. Aus vielen wirtschaftlichen Gründen, aber auch aus dieser demokratischen Überlegung heraus ist es jetzt unsere Aufgabe, unserenKindern beizubringen, Verantwortung für ihreHandlungen zu tragen, Kompromisse auszuhandeln, sich als Gestalter ihrer Umgebung zu verstehen und die Konsequenzen ihrer Entscheidungen stets zu berücksichtigen. Wodiese Kompetenzen fehlen, sehen wir zurzeit in Bereichen, wo direkt demokratische Abstimmungen zum Tragen kommen. Bürger stimmen gegen Atomkraft – aber gegen Windkraftanlagen in ihrer Gegend gibt es dann auch erfolgreiche Volksbegehren. Außerdem beschwert man sich dann, dass der Strom teurer wird. Diese „Nicht-in-meinem-Vorgarten-Politik“ verhindert nachhaltige Entwicklung. Auch die Neigung zu Populismus, die gerade in schwierigen Zeiten immer wieder aufflammt, kann durch nichts anderes als durch Bildung bekämpft werden.

Keine Institution bereitet Menschen so sehr auf soziale Rollen vor wie die Schule. Doch gerade Regelschulen sind dahingehendnoch verbesserungswürdig. Sie sind – trotz vieler lobenswerter Projekte hier und da – nach wie vor sehr autoritäre Systeme, in denen Lehrer Entscheidungen treffen, mit denen Schüler zu leben haben. Wochentags melden wir uns und fragen, ob wir aufs Klo gehen dürfen. Und am Sonntag – zack! – sollen wir über unser Parlament entscheiden. Dieser Sprung ist zu groß.

Und genau weil ich meinem eigenen Ratschlag folge, habe ich mich dieser Verantwortung angenommen. Bei politik-digital e.V.leite ich das Projekt „aula – Schule gemeinsam gestalten“, das es Schülern ermöglichen soll, unter Einsatz liquider Demokratie eigene Ideen rund um den schulischen Bereich einzubringen, zu diskutieren, abzustimmen und zu verwirklichen. Dabei soll schon bei Kindern ab elf Jahren ein Gefühl für die eigene Gestaltungskraft über ihre Umgebung geweckt werden, sie sollen lernen, andere von ihren Ideen zu überzeugen, und sich mit demokratischen Prozessen und ihren Folgen arrangieren. Konkret bedeutet es, dass jeder Schüler Zugang zu einer Software bekommt, die der Strukturierung und Protokollierung des Prozesses dienen soll. Die eigentliche Arbeit findet zu großen Teilen offline statt. Nachdem Ideen online gestellt wurden, werden sie im Klassenraum diskutiert,Gegenvorschläge werden entwickelt und gruppiert. Nach einer Überprüfungder Schulleitung geht eine Idee dann in die Abstimmung. Als Schüler kann ich selbst darüber abstimmen – oder meine Stimme eben übertragen. Dabei reflektiere ich also nicht nur, was ich möchte, sondern auch, was ich kann, was ich nicht kann und wem meiner Klassenkameraden ich was zu traue.

Am Ende steht eine Entscheidung – von der Wandfarbe der Klassenzimmer über das Schulfest bis zur Unterbringung von Flüchtlingen in der Turnhalle –, die von den Schülern eigenverantwortlich (wenn auch nicht ohne Hilfe) umgesetzt wird. Die Schulkonferenz verpflichtet sich dabei freiwillig, die Entscheidungen des Systems mitzutragen. Das Projekt wird im Schuljahr 2016/2017 an mehreren Schulen in Deutschland pilotiert. Ein solches System kann dann auch leicht auf Jugendzentren, Gemeinden und andere Organisationen übertragen werden.

Es ist mein fester Glaube, dass Projektewie diese unverzichtbar sind, wenn es unser Ziel ist, mündige Bürger und eine starke Demokratie hervorzubringen. Denn das ist kein Selbstzweck. In der Zukunft werden wir darauf angewiesen sein. Die Alternative wären Populismus und eine Reihe kurzsichtiger Entscheidungen, an denen sich einige wenige bereichern können, ehe das Gesamtsystem kippt.

Dabei ist es gleich, ob wir exakt das System Liquid Democracy benutzen oder wie wir es konkret an unsere Parlamente anbinden. Der Grundgedanke besteht darin, dass eine moderne Gesellschaft so wenig von einer Einzelperson zu steuern ist wie ein Segelschiff. Die Zukunft wird ein koordinierter Aufwand sein. Und gerade jetzt haben wir auch die technischen Möglichkeiten, diese Koordination herzustellen, so wie wir es vor 30 Jahren noch nicht gekonnt hätten.

Das Wichtige ist, keine Angst zu haben. Sowohl beim Zulassen einer größeren Beteiligung durch „weniger gebildete“ Menschen. Als auch beim Ergreifen der eigenen Verantwortung, beim Wechsel der eigenen Rolle. Wie beim Springen über einen Bach gehört Mut dazu, diese magische Linie zwischen Bürger und Politiker zu überspringen, aber im Nachhinein erscheint es einem ganz leicht. Darum will ich diese Linie verwischen, bis sie irgendwann nicht mehr da ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

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