Wohin rollst du, Ei?

Zur „Optimierung“ des Menschen: Paradigmenwechsel durch genetische Eingriffe in die Keimbahn. Über die Möglichkeiten der Gentherapie – in einer aus meiner Sicht hoffentlich nie eintretenden Zukunft.

Ein Grundzielsexueller Fortpflanzung ist die Erhaltung beziehungsweise die Steigerung von genetischer Diversität. Durch bestimmte unter dem Begriff Rekombination zusammengefasste Prozesse wird dabei Sorge getragen dafür, dass die Nachkommen genetisch anders sind als die Eltern und auch zwischen den Mitgliedern einer Generation ein signifikantes Maß an genetischer Verschiedenartigkeit existiert. Abgesehen von zwei eineiigen Zwillingen, ist das Genom eines Menschen einzigartig. Andererseits ist der genetische Unterschied zwischen zwei Menschen, wenn man ihn in Prozent der gesamten DNA ausdrückt, eigentlich auch wieder nur gering. Aber eben signifikant und relevant, sodass es sich dabei gemeinsam mit den für jeden Menschen individuellen Umwelteinflüssen aller Art (die auch bei eineiigenZwillingen natürlich nicht gleich sind) um die beiden Komponenten handelt, die die Basis menschlicher Individualität bilden. Gemeinsam mit der genetischen Vielfalt aller Organismen ist diese genetische Individualität des Menschen auch Teil des evolutiven Konzepts, höchstmögliche Resilienz gegenüber neuen Umweltbedingungen dadurch aufrechtzuerhalten, dass man eben möglichstviele „genetische Antworten“ parat hat.


Was Rousseau einmal als perfectibilité, als unendlich fortsetzbares Streben des Menschen nach Perfektion, bezeichnete, ziehtsich als Motiv durch die ganze Menschheitsgeschichte: der Traum vom „besseren“ Menschen. Der Mensch kommt gewissermaßen unfertig, mit seinen genetischen Anlagen, auf die Welt, und seine „Vollendung“ ist der auf ihn einwirkenden Umwelt sowie seiner eigenen Tätigkeit überlassen. Der Mensch ist auf seine Gene nicht reduzierbar, er ist das Produkt der Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt. In diesem Prozess stärkt der Mensch seinen Geist etwa durch Lernen und seinen Körper durch körperliche Ertüchtigung. Das Ziel bleibt offen. Die Frage nach dem „Besseren“ muss unbeantwortet bleiben. Geht es immer noch besser? Ist immer mehr aus dem Startkapital zu machen?

Es ist dabei müßig, aber wichtig, klarzumachen, dass diese Aspekte schon deshalb für immer im Unklaren bleiben müssen, weil die Frage nach dem Besseren niemals allgemeine Gültigkeit bekommen kann. Was ist besser als etwas anderes? Es scheitert schon am Grundsätzlichen: Steht für den einen seine geistige Entwicklung im Vordergrund, so für den anderen die körperliche Leistungsfähigkeit. Aber auch innerhalb dieser beiden Kategorien: Legt der eine seinen Fokus auf Geisteswissenschaften, so der andere auf Naturwissenschaften; will der eine sehr stark werden, möchte der andere lieber schnell werden. Auch wenn gesellschaftliche Trends und Mehrheiten immer wieder versuchen vorzugeben, was „besser“ ist, kann, wenn überhaupt, nur das Individuum für sich entscheiden. Und wer sich die aktuell unersättlich scheinenden Ansprüche des Sports nach „höher, schneller, weiter“ vor Augen führt, scheint vielleicht sogar dem Irrtum zu erliegen, dass man das Optimum schon deshalb niemals definieren kann, weil immer noch ein wenig mehr geht.

Waren diese Entwicklungen vielleicht ursprünglich noch der Idee des Erlangens eines Fortpflanzungsvorteils unterworfen, so scheinen sie in diesen Tagen oft eher nur mehr Modeerscheinungen zu folgen. Dass Modeerscheinungen nicht immer, oder sogar immer seltener, etwas mit Fortpflanzungsvorteilen zu tun haben, wird einemnicht erst klar, wenn man junge Mädchen, einem falschen Schönheitsideal folgend, (ver)hungern sieht. – Um Erklärungen und Definitionen ringend, könnte man den auf den ersten Blick einfach erscheinenden medizinischen Ansatz wählen: Das Optimum ist der gesunde Mensch, im Gegensatz zum kranken. Umso mehr man darüber nachdenkt, umso mehr wird einem aber bewusst, dass auch dieser Ansatz nicht wirklich Klarheit schaffen kann. Die Grenzen zwischen „krank“ und „gesund“ sind nur schwer zu ziehen, weil eigentlich immer fließend. Ab wann ist zu klein zu klein, und ab wann ist zu groß krank? Und was ist krank oder eigentlich einfach nur anders?

Und doch sind es gerade die Errungenschaften der Medizin, die in den vergangenenJahrzehnten die Tür für das Erreichen neuer Stufen des „Optimalen“ geöffnet haben. Als Konsequenz des so erfolgreichen medizinischen Fortschritts stehen dem Arzt heuteimmer mehr Therapeutika und medizinische Interventionen zur Verfügung – alle eigentlich dafür entwickelt, den gesunden (Ur-)Zustand beim Kranken wiederherzustellen. Aber viele genau jener Entwicklungen ermöglichen es dem gesunden Menschen heute, seine individuellen Grenzen des Optimums auch zu verschieben. Das Enhancement des Menschen hat bereits begonnen.


In Zeiten eines härter werdenden Konkurrenzkampfes ist die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowohl für die soziale Anerkennung als auch für das berufliche Weiterkommen von immer größer werdender Bedeutung. Viele verschiedene Strategien stehen dem Einzelnen heute zur Verfügung, um im Zuge seiner Selbstoptimierung das „Optimale“ aus dem Gegebenen zu machen. Der Begriff Enhancement wird hierbei oft für den Versuch verwendet, die Grenzen des biologisch Gegebenen ein wenig zu verschieben. Biohacking ist der Oberbegriff für eine Lebenseinstellung, die grundsätzlich darauf aus ist, das biologische Rüstzeug des Menschen immer besser zu nutzen, es vielleicht sogar zu verbessern. Die Selbstoptimierung des Menschen ist untrennbar mit seiner Selbstvermessung (Quantified Self)verbunden. Sind Apps, die eine permanente Überwachung und damit etwa auch eine Steigerung des Fitnessprogramms ermöglichen, längst weltweit in täglicher Anwendung, so sind Brain Computer Interfaces, obwohl schon vor über 40 Jahren entwickelt, heute immer noch hauptsächlich der Forschung vorbehalten.

Doch auch ihre alltägliche Anwendung steht bereits vor der Tür. Brain Computer Interfaces übermitteln Signale des menschlichen Gehirns – gemessen über Sensoren, die auf die Kopfhaut gesetzt werden – direkt an Computer. In Zukunft könnte der eine oder andere auch darüber nachdenken, sich solche Sensoren fix implantieren zu lassen. Es gibt ja auch schon erste Unternehmen, die Brain Computer Interfaces anbieten und versprechen, damit die Gehirnleistung ihrer Klienten über Monitoring und Üben zu optimieren. Auch hier war und ist die ursprüngliche Motivation eine therapeutische Anwendung, wenn etwa geforscht wird, durch diese Interfaces es gelähmten Patienten zu ermöglichen, Prothesen zu steuern. Aber nur so ein Gedanke: Würden Sie über Brain Computer Interfacesmit Ihrem Auto verbunden sein, würde der Steuerungscomputer vielleicht eines Tages einfach das Anspringen Ihres Autos blockieren, sollten Sie zu müde oder gar alkoholisiert sein. Im medizinischen Zusammenhang verfolgt der Patient mit seiner Selbstvermessung meist das Ziel, nicht mehr korrekt/ideal ablaufende Körperprozesse beispielsweise durch die Insulinpumpe bei Diabetes, Neuro-Implantate bei Parkinson oder Cochlea-Implantate bei Gehörlosigkeit wieder zu normalisieren.

Solch eine „Wiederherstellung des physiologisch normalen Zustandes“ ist das Grundkonzept vieler medikamentöser Therapien. Es ist wohl nicht notwendig zu betonen, für wie wichtig und richtig man diesen Ansatz der Medizin halten muss. Enhancement beschreibt den Einsatz von Interventionen, Medikamenten, Konzepten aller Art mit dem Ziel, mehr als das „physiologisch Normale“ damit zu erreichen. Das Medikament Ritalin (von seinem Erfinder Leandro Panizzon nach seiner Frau Rita so benannt) wird heute weltweit eingesetzt, um hyperaktiven Kindern mit ADHS zu mehr Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit zu verhelfen. Aufgrund seiner konzentrationssteigernden Wirkung wird Ritalin heute aber auch weltweit von Millionen Menschen genommen, um im Beruf einfach leistungsstärker sein zu können. Sogenannte Nootropika, Kombinationen von Piracetam-Derivaten mit Koffein, Mineralien und B-Vitaminen, werden heute vom Silicon Valley bis zur Wall Street gerne konsumiert. Doping am Arbeitsplatz: Die Hersteller versprechen ja auch, dass durch die Einnahme dieser Hirnbooster die Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit gesteigert wird. Eine Vielzahl von solchen Cognitiven Enhancern ist weltweit im Einsatz, nicht selten in Kombination mit Antidepressiva, die in diesem Fall nicht therapeutisch gegen Depressionen eingesetzt werden, sondern lediglich allgemein stimmungsaufhellend wirken sollen. Ob Medikamente, Implantate oder Prothesen – viele medizinische Entwicklungen, deren therapeutischer Nutzen unumstritten ist, werden in Zukunft Teil des Selbstoptimierungsmarktes des Menschen werden. Dieser weltweite Trend dürfte nicht aufzuhalten zu sein.


Veränderungen im menschlichen Genom,sogenannte Mutationen, können dazu führen, dass es bei deren Trägern zur Entwicklung bestimmter Erkrankungen kommt. Mehrere Tausend Gene des Menschen können, wenn sie bestimmte Mutationen aufweisen, kausal mit der Entstehung von Erkrankungen assoziiert sein. Das Fach „Medizinische Genetik“ beschäftigt sich einerseits mit der Erforschung dieser Erkrankungen, mit dem Ziel, wirkungsvolle Therapien oder im noch besseren Fall maßgeschneiderte prophylaktische Konzepte zu entwickeln. Andererseits gehört es zum Aufgabengebiet der medizinischen Genetik, Patienten und ihren Familien durch diagnostische und beratende Maßnahmen zur Seite zu stehen. Auch dabei ist es der Idealfall, dass sich aus dieser Arbeit entsprechende therapeutische Maßnahmen ableiten lassen. Hier muss allerdings klargestellt werden, dass für eine viel zu große Zahl an genetischen Erkrankungen wirkungsvolle therapeutische Konzepte noch nicht zur Verfügung stehen. Die Hoffnung, das „defekte“ Gen durch Gentherapie „reparieren“ zu können, musste bis vor Kurzem noch als unrealistisch eingestuft werden.

Ganz aktuelle Forschungsergebnisse haben allerdings zur Entwicklung neuer methodischer Ansätze (Gene Editing oder Genome Editing) geführt, die die zukünftigen Möglichkeiten der Gentherapie in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Mithilfe dieser neuen Methoden ist es in Zukunft möglich, ganz gezielt „defekte“ Genabschnitte in menschlichen Zellen zu korrigieren – eben durch korrekte DNA-Abschnitte zu ersetzen. Diese neuen Ansätze des Gene Editing sind heute noch in keiner Weise ausgereift, und es muss noch einige Forschung betrieben werden, um sie routinemäßig, möglichst risikolos und nebenwirkungsarm in der Humantherapie einsetzen zu können. Die Mehrheit der Genetiker ist freilich optimistisch, dass diese Technologie dieses anwendbare Niveau erreichen wird.

Würde solch eine Korrektur nur bestimmte Zellen oder ein bestimmtes Organ eines Menschen betreffen, spricht man von somatischer Gentherapie. Somatisches Gene Editing,in den entsprechenden Körperzellen zur Anwendung gebracht, könnte beispielsweise beibestimmten Muskelerkrankungen ein mobileres Leben ermöglichen. Somatische Gentherapie im Sinne der „Wiederherstellungeines normalen physiologischen Zustandes“ ist ohne Zweifel der medizinisch wertvolleund für Patienten wünschenswerte Arm dieser neuen Entwicklungen.

Um es gleich im Sinne des oben diskutieren Enhancementweiterzudenken, könnten vielleicht solche genetischen Eingriffe einmal nicht nur die Korrektur, sondern eben auch die Verbesserung der Muskelleistung im Sinne haben. Die Idee solch eines Gendopings für bessere sportliche Leistungen, für den beruflichen Vorteil oder schlicht zur persönlichen Selbstoptimierung ist nicht neu – neu und mit Sicherheit effizienter einsetzbar wären nur die weiterentwickelten Gentechnologien. Gerade weil der Mensch, wie erläutert, stets das Produkt aus der Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt ist und viele der vielleicht im Interesse eines Genetic Enhancements stehenden Eigenschaften des Menschen multifaktoriell gesteuert sind, ist das damit erreichbare Ergebnis wohl nur schwer vorhersehbar. Aber viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit, stets in Kombination mit der Selbstvermessung des Menschen, könnten eines Tages zu dem einen oder anderen gewünschten und auch erreichbaren Selbstoptimierungseffekt führen. Das Spektrum solcher Enhancement-Anwendungen, vielleicht sogar von bestimmten körperlichen Überfähigkeiten bis zu spezifischen Hirnspitzenleistungen, scheint selbst mit den heute nochanzuführenden Einschränkungen geradezu grenzenlos.

Genetische Eingriffe, sehr früh am Embryo durchgeführt, würden schließlich, im Gegensatz zum beschriebenen somatischen Einsatz, alle Zellen dieses Menschen betreffen. Eine solche Strategie wird als Keimbahntherapie bezeichnet, weil dabei die Keimzellen (Spermien respektive Eizellen) des Menschen auch von der genetischen Korrektur betroffen wären. Während die somatische Gentherapie nur den einen behandelten Menschen betrifft, würden Eingriffe in die Keimbahn alle Zellen des behandelten Menschen – und auch alle seine Nachkommen! – betreffen. Neben anderen Argumenten ist die Tatsache, dass die Auswirkungen auf alle Generationen an Menschen danach nicht absehbar sind, eine Begründung für die aktuelle internationale mehrheitliche Ablehnung von Keimbahneingriffen. Es gibt aber auch Befürworter von Genome Editing zum Zwecke der Keimbahntherapie. Ob es jemals auchBefürworter von Genetic Enhancement eines Menschen in seiner Gesamtheit und für seine Nachkommen geben wird?


Genetische Eingriffe als Instrument für Enhancement, so utopisch das heute anmuten mag, würden in einer nur schwer vorstellbaren und aus meiner Sicht hoffentlich nie eintretenden Zukunft die bisherige Ebene der Möglichkeiten zur Optimierung des Menschen erstmals in der Geschichte verlassen – und das eigentlich gleich um drei Stufen hinauf oder, je nach Blickwinkel, hinunter.

Erstens wären genetische Eingriffe am Embryo keine Form von Selbstoptimierung wie die vielen der oben genannten Ansätze von Ritalin zu Neuro-Implantaten. Vielmehr kann der Mensch, der später die Konsequenzen dieser Optimierung trägt, in den Entscheidungsprozess nicht eingebunden sein, und es handelt sich also um die Optimierung durch Dritte, wenn man so will um Fremdoptimierung. Zweitens würde es sich dabei erstmals nicht wie bisher um eine Beeinflussung von außen durch exogene Umwelteinflussnahmen, sondern um eine endogene Einflussnahme auf das biologische Grundgerüst des Menschen handeln. Die dritte Ebene würde gewissermaßen nicht durch einen nächsten Schritt, sondern vielmehr durch unendlich viele Schritte erreicht werden: Würde es sich nämlich um einen genetischen Eingriff in die Keimbahn handeln, wäre es nicht die Optimierung eines Einzelnen, wie es bei den heute bereits angewandten Methoden derSelbstoptimierung der Fall ist, sondern die Optimierung würde jeden Nachkommen betreffen.

Genetische Eingriffe in die Keimbahn zum Zwecke des Enhancement wären also, im Gegensatz zu den heute gängigen Ansätzen am Optimierungsmarkt, nicht die exogene Selbstoptimierung eines Menschen, sondern die endogene Fremdoptimierung der gesamten Menschheit. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.