Nablus Road

A Palestinian stands to the side of Israeli border police at a newly installed concrete block checkp
A Palestinian stands to the side of Israeli border police at a newly installed concrete block checkp(c) imago/UPI Photo (imago stock&people)
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Mein Straßenhändler kümmert sich einen Dreck darum, wer du bist, denn er hat schon Leuten in den Kopf geschossen, die genauso aussahen wie du: Ja, er hat den gewissen Blick. Ich mag diesen Typen nicht, es gruselt mich vor ihm. Aber sein Standplatz liegt bequem, gleich um die Ecke. Vom Leben in Ostjerusalem.

Geboren 1949 in Damaskus. Palästinenser.Professor für Islamische Philosophie an der Al-Quds University in Jerusalem, 1995 bis2014 deren Präsident. Hatte diverse Leitungsfunktionen in der PLO inne. Sein Text – aus dem Englischen von Hanno Loewy – erscheint auch im Katalog „Endstation Sehnsucht“ zur Jerusalem-Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems (bis 14. Februar 2016).

Mehr als 60 Jahre meines Lebens war es die Nummer 49. Immer fühlte ich mich dieser Zahl verbunden. Sie ist das Jahr meinerGeburt. Und dann, als ich im Sommer nach England reiste, um an der Abschlussfeier von meiner Tochter und meinerSchwiegertochter teilzunehmen, wurde zu Hause plötzlich die Nummer 64 an der Tür befestigt. Mein Sohn eröffnete mir die verblüffende Nachricht am Telefon. Ich hörte mein Herz pochen, als ich versuchte, Erklärungen für die Änderung aus ihm herauszubekommen. Er war genauso entgeistert wieich. Wie kann eine Hausnummer wechseln? So wie Namen sind sie doch sicher mit einem Ort verbunden. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich eines Tages aufstehen und mit einem anderen Namen gerufen werden würde? Gehörte ich nun zu jemand anderem? Hat jemand anderes von mir Besitz ergriffen? Wohin wäre ich, ich, der ich bin, derjenige, der in all meiner Erinnerung durch meinen Namen bezeichnet war, verschwunden? –Als ich aus dem Ausland zurückkehrte, da stand sievor mir: die 64. Da war sie, deutlich sichtbar angebracht, in strahlendem Blau, an der Fassade unseres Hauses. Aber auch – wie eine Bestätigung – die 49. Sicher, die 49 trat nun etwas in den Hintergrund, wo sie immer schon gewesen war. Und ja, in ihrem blassen Blau kontrastierte sie bedauernswert mit der strahlenden Neuen. Aber niemand hatte sich getraut, sie von ihrem Platz an der Wand zu entfernen. Sie wiedersehend fühlte ich mich sofort erneut verbunden, so wie eine davontreibende Seele ihren Körper wiederfindet. Wieder verbunden, aber immer noch nicht ganz passend. Es war, als hätten zwei Traum-Ichs, ein zweifaches „Selbst“, in einem Körper Platz genommen, in meinem Körper.

Dennoch begann ich mich schon bald an die 64 zu gewöhnen. Wenn jemand nach meiner Adresse fragt, dann sage ich: „49,aber auch 64“, oder: „Das ist 49 oder 64“, mit leichter Belustigung, als könnte ich die verwirrte Reaktion schon hören. Um ehrlich zu sein, ich fühlte mich nun auch zur 64 hingezogen. Damit kann ich leben.

Ich erinnere mich gut daran, dass in den 1950er-Jahren an der Kreuzung von Nablus Road und Salaheddin Street, direkt vor der 49, eine kleine Plattform stand, erhöht, überdacht und rund, um die ein behelmter Verkehrspolizist gelangweilt herumspazierte,mit seinen Armen wedelnd, wenn einmal ein Auto vorbeikam. Heute würde er kollabieren unter dem lauten, dichten Verkehr, derdurch die Straße braust, unter dem Dröhnen der laufenden Motoren, das die Fensterscheiben klirren lässt, während die Fahrer aussteigen, um am Geldautomaten Bares zu ziehen oder sich bei Abu'l Izz um die Ecke ein Schawarma zu kaufen.

Die Schekel speiende Maschine auf der anderen Straßenseite befindet sich in einem Häuserblock, an dessen Stelle einstmals Zypressen standen, so weit das Auge reichte. Und dahinter das Nuzha Movie Theatre, das Kino, als Theater neugeboren, aber irgendwienoch immer mit den 1950ern verbunden, jedenfalls über die Erinnerung an die Filme, die dort gezeigt wurden. Und weiter hinten das prächtige Orient House, wo ausländische Musikkapellen auftraten, zu deren Klängen meine viel ältere Tanteoder meine ältere Schwester mit mir tanzten, während die Männer in Anzügen mit ihren elegant gekleideten weiblichen Verwandten beisammensaßen, rund um weiß gedeckte Tische mit dem unvermeidlichen Johnny Walker und den obligatorischen Nüsschen und Crackern. Alle taten so, als führten sie ein normales und friedliches Leben, während sie der westlichen Musik der 1950er-Jahre lauschten. Aber wer weiß? Mir jedenfalls erschien das Leben ziemlich normal und friedlich.

Wenn ich die Nablus Road in die eine Richtung hinaufging, war ich in fünf Minutenin meiner anglikanischen Schule mit ihren imposanten Türmen. Ging ich fünf Minuten in die andere Richtung, saß ich mit meiner Osmanisch sprechenden Großmutter und ein paar anderen Familienmitgliedern zusammen, vielleicht karshat essend, eines der Lieblingsgerichte meines Vaters. Sie wohnte gleich gegenüber der ehrwürdigen Institution des American Colony. Als ich älter war, habe ich dort viele Stunden verbracht, an meinem Kaffee nippend oder zum Essen mit Journalisten, Autoren, Politikern. Das Leben, das sich vor der Nummer 49 abspielte, erschien ganz gewiss normal. Selbst unsere unmittelbaren Nachbarn auf der einen Seite, in ihren kakifarbenen Uniformen und ihren Schützengräben, schienen mir Teil eines ganz normalen und friedlichen Lebens zu sein.

Hinter der Nummer 49 war eine andere Welt. Sie nannten es, unheimlich, das „Niemandsland“. Ein ausgebranntes Gebäude stand jenseits eines leeren, verbotenen Geländes, das sich bedrohlich nach Westen ausstreckte, an seinem Horizont von bescheidenen Häusern mit roten Ziegeldächern begrenzt, Seite an Seite in einer Reihe entlang einer Straße, auf der schwarz gekleidete Zweibeiner mit schwarzen Hüten hin und her gingen, die manchmal zusammenliefen und zu uns herüberstarrten – für mich eine andere Dimension, die nicht zu dieser Welt gehörte. Was sehen Katzen oder Hunde, wenn sie wie durch ein Kaleidoskop eine menschliche Szenerie betrachten? Die Lichtsignale, die ihre visuellen Sensoren erreichen, sind frei von kognitivem Inhalt. Oder, genauer, werden von der Retina und den Gehirnzellen so verzerrt, dass sie ihren eigenen, speziellen Bedürfnissen entsprechen. Für mich war Me'a She'arim kein Bedürfnis. Es bedeutete einfach nur das Ende der Welt.

Wenn ich heute im Garten hinter dem Haus vor dem provisorischen Grab stehe, dort wo einer der kaki-uniformierten Nachbarn ums Leben kam, ist die Aussicht vor mir zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Vergangenheit gibt es nicht mehr.

Was einst der Streifen „Niemandsland“ war, ist heute durch drei große, moderne Gebäude ersetzt. Imposant stehen sie nebeneinander, jedes einen großartigen Namen tragend, jedes mit einladenden Fassaden und weiten Drehtüren, jedes geschmückt mit glitzernden Schildern und Lichtern, auf Busladungen über Busladungen voller Feiertagstouristen und Pilger wartend, sie mit einem komfortablen Aufenthalt für eine Nacht versorgend. Und ich frage mich, während ich auf ihre Fenster starre, ob ihre Betten in dieselbe Richtung weisen wie das jenes Bewohners des hinteren Gartens, seines für immer und ihres für eine kurze Weile.

Betten für jedermann im „Niemandsland“. Und hinter diesen Gebäuden für jedermann verläuft heute, ebenfalls im Niemandsland, die geschäftige Linie 1, das neu geschaffene reibungslose Verkehrsmittel, daswispernd seinen Weg entlanggleitet, von einer alten Siedlung im Süden der Stadt zu einer neuen im Nordosten.

Aber das ist nur eine der Möglichkeiten, ihre geografische Route zu beschreiben: Eine andere lautet, dass sie sich vom Westen der Stadt in den Westen der Stadt bewegt, der nun auch im Osten liegt. Wer hat behauptet, Ost und West könnten sich nicht treffen? Die Entwicklung der Stadt bewies das Gegenteil: Der Osten kann zum Westen werden und der Westen zum Osten. Denn dort, weit jenseits der Linie 1 und westlich des Begin-Boulevard, liegt Beit Hanina, ein Westen, der immer noch Osten ist. Und im Osten von Beit Hanina liegt Pisgat Ze'ev, ein Osten, der Westen ist. Ist das zu verwirrend? Vielleicht. Es ist eine Nummer 49, die eine Nummer 64 ist, ein Niemand, der ein Jedermann ist, ein Osten, der Westen, ein Westen, der Osten ist.

Ich behalte meinen Verstand. Die Glieder der Stadt breiten sich in auseinanderfallenden Mustern aus. Wie eine Rückversicherung geht die Sonne immer noch im Osten auf. Morgens, wenn ein Ruhetag ist, wenn es Freitag ist oder vielleicht Samstag oder auch Sonntag und die Kinder mit den Kindern uns zum Frühstück besuchen kommen wollen, gehört eine Runde mit dem Auto zu den Vorbereitungen: Alles hat von seinem speziellen Ort zu kommen, zur richtigen Zeit. Man kann die Falafel nicht vor den ka'ek,den Brotkringeln, kaufen. Letztere sind zwar am besten direkt aus dem Ofen, aber man kann sie auch aufwärmen. Die Falafel dagegen – einmal kalt geworden, sind sie hin. Dann kann man sie nur noch an die Vögel verfüttern, Katzen fressen sie nicht. Ka'ekwird, idealerweise, nicht vom Straßenhändler, sondern in der Bäckerei gekauft. Wenigstens die gebackenen Eier kann ich bei ihm kaufen. Und ja, manchmal fühle ich mich ein wenig schuldig, wenn ich nur danach frage. Wenn er sie abzählt, kann ich sehen, wie er anklagend auf mein Auto schaut, als könne er hindurchschauen, auf die Tüte voller ka'ek aus der Bäckerei. Ehrlich gesagt,ich mag diesen Typennicht. Aber sein Standplatzliegt bequem, die Salaheddin Street hinauf, beim Albright gleich um die Ecke. Er trägt einen Bart, eine Dschellaba undhat diesen Blick, der einem sagt, dass er gerade vom Treffen einer religiösen Untergrundorganisation kommt, um eine geheime Mission auszuführen, etwas anderes, als ka'ek zu verkaufen. Und er kümmert sich einen Dreck darum, wer du bist, denn er hat schon Leuten in den Kopf geschossen, die genauso aussahen wie du. Ja, es gruselt mich vor ihm. Aber er ist der Straßenverkäufer um die Ecke. Und es kann sein, dass ich ihn brauche, wenn ich zurückkomme und man mir sagt, ich hätte zu wenig ka'ek mitgebracht für die Kinder der Kinder, ob ich noch mal losfahren könne. Und überhaupt, kann es nicht sein, dass ich seinen Blick missverstehe? Vielleichtwirke ich auf ihn auch merkwürdig.

Kinder. Ich war gerade bei der Beerdigungmeines Cousins Zaki, ein Jahr älter als ich. Auch er lebte in der Nablus Road, ein bisschen weiter oben, kurz hinter der St. George's School und kurz vor dem armenischen Keramikgeschäft. Als Kinder waren wir an den Nachmittagen zusammen unterwegs, um uns jene Falafel-Sandwiches zu holen. Aber seine Kindheit war sehr viel religiöser als meine. Vor einem Monat, als ich an seinem Bett saß und wir in Erinnerungen versanken, rückte er mit Geschichten und Leuten heraus, die damals unsere Welt bevölkert hatten, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte. So sehr ich mich konzentrierte, ich konnte nicht einmal ein Bild in mir wachrufen von jener entzückenden und elegant gekleideten jungen Dame, in die sich offenbar jeder verliebt hatte, die aber einsam, alt und in Vergessenheit geraten irgendwo geendet ist, niemand wusste wo. Ich konnte mich auch nicht an den Jungen erinnern, der hinter der 49 gewohnt hatte, in einem Haus, das fast ans Mandelbaumtor grenzte, und dersehr viel später, im Erwachsenenalter, als Verräter ermordet wurde, weil er sein Haus „an die Juden“ verkauft hatte.

Im Grunde war ich froh, dass ihre Geschichten nicht zu denen gehörten, die sich unbewusst in mein Gehirn eingebrannt hatten. Ich weiß nicht, was dann aus mir geworden wäre. Mürrisch und zynisch wäre ich wahrscheinlich. Ich bevorzuge glücklichere Erinnerungen. Ich bevorzuge es generell, glücklich zu sein. Mein Cousin hatte bescheidenere Erwartungen an sein Leben,vermutlich wegen seiner frommen Kindheit. Er war immer freundlich und aufmerksam, wenn ich ihn mit meinen großen Theorien über Frieden und Glück überschüttete; über eine glückliche Welt. Er war zu höflich, um direkt seinen Unglauben zu zeigen. Aber ehrlich genug zu zeigen, dass er nicht wirklich an das glaubte, was ich sagte. Er führte ein sehr friedliches Leben. Niemals kam er auch nur in die Nähe eines Protestes oder einer Demonstration oder einer politischen Partei. Er sprach fließend Hebräisch, im Gegensatz zu mir. Einer seiner besten Freunde war ein israelischer Journalist. Aber er glaubte nicht an Frieden.Vielleicht glauben friedliche Leute generell nicht an Frieden. – Frieden ist das, was Leute, die nicht friedlich sind und die auch nicht an Frieden glauben, auf sich nehmen, um es der Welt zu bringen. Es ist die Aktion, die Tat, die sie anzieht, nicht der Zustand der Ruhe. So sind sie hinter ihm her, mit Taten. Verhandlungen sind Krieg mit anderen Mitteln, hat jemand gesagt. Frieden ist ein Prozess, sagen uns die Experten. Das heißt, er schreitet voran. Wenn er zu stocken droht, springen alle herbei, um ihn am Laufen zu halten. Das gibt Leuten, die nicht friedvoll sind, ein gutes Gefühl oder das Gefühl, gut zu sein. Das lässt Leute wie mich, die gerne glücklich sind, die sich vorstellen können, dass der große Frieden möglich ist, sich schlecht fühlen. Mein Cousin und sein israelischer Freund waren im Frieden miteinander. Sie waren glücklich, aber miteinander. Sie haben nicht nach diesem großen Zustand des Glücklichseins gesucht –oder auf das große Glück gewartet. Ihr Glück war kein Prozess. Es war ein Zustand der Ruhe. Sie haben Jerusalem nicht aufgeteilt oder seine unehrliche Einheit gefeiert. Sie haben einfach nur entdeckt, dass sie die Gesellschaft des anderen mochten. Halt! Was sage ich hier? Dass menschliche Freundschaft verschmelzen kann, was politische Titanen nicht einmal anstoßen können?

Freundschaft handelt von ganz persönlichen Dingen, individuellem Leben. In der Politik geht es um „größere“, gewichtigere, um öffentliche Angelegenheiten. Titanen machen diese Angelegenheiten so schwer, dass sie am Ende nahezu, ja, unbeweglich werden. Sie sehen aus wie alte, mysteriöse metallischeStrukturen, die so tun, als seien sie natürlich gewachsen und solide in der Erde verwurzelt. Sie umgibt eine Unheil verkündende Aura, um normale Leute auf Abstand zu halten. Die düsteren Dämpfe, die sie absondern, überziehen und vergiften den Raum, in den Menschen aus Fleisch und Blut hineingeboren werden und ihr Leben beginnen. Wenn sie aufwachsen, dann werden die Blutbahnen und Gehirnzellen der Kinder von diesen Ausdünstungen und Gerüchen vergiftet.

Nicht viele Menschen hier mögen einander, aber einige schon. Wir hören mehr von jenen Menschen, die einander nicht mögen. Die zum Beispiel Menschen entführen und sie töten; oder sie bei lebendigem Leib verbrennen; oder sie einfach zufällig auf der Straße treffen und erstechen oder mit dem Auto überfahren. Oder sie erschießen (in Fantasien ist das Gemetzel noch blutiger). Individuelle Opfer verschmelzen hier mit der größeren Masse, dieser virtuellen Blase, der sie zugeordnet werden. Da ist ein arabisches Kind. Lasst es uns entführen. Da ist ein Jude, lasst ihn uns erstechen. (Namen sind nicht wichtig, sie tauchen erst später auf, in den Medien.) Wie das Opfer ist auch der Aggressor gesichtslos, namenlos. Anders als mein Cousin und sein Freund sind Täter und Opfer bloße Schatten, Prototypen flüchtiger Gebilde. Zumindest ist das ihre Fassade.

Aber sie alle haben auch eine andere Seite, so wie 49/64. Das ist, wo sie Gesichter und Namen haben. In der rückwärtigen Existenz sind sie keine Schatten. Siesind weder gesichts- oder namenlos, noch sind sie blind für Gesichter und Namen. In ihrer rückseitigen Existenz sind, wundersamer Weise, ihremenschlichen Seelen erhalten. Das Gift der Politik hat sie noch nicht durchsetzt. Dort haben sich mein Cousin und sein Freund getroffen . . . – Die Morgengebete in al-Aqsa sind vorüber. Sie mag ich am liebsten. Es ist sechs Uhr morgens, wenn ich aus dem Damaskustor hinaustrete, dort, wo die Nablus Road beginnt. Sie zieht sich, in gegenwärtiger Theorie und vergangener Realität, bis nach Damaskus, dahin, wo meine Mutter in einer kleinen Wohnung, in der sie mit anderen Familienmitgliedern lebte, die vor dem Krieg geflohen waren, mir das Leben schenkte, vor all den Jahren. In den Gassen der Altstadt passiere ichGruppen von israelischen Soldaten, manche an den Häuserecken oder Eingängen postiert, manche zu zweit oder zu dritt patrouillierend. Und es überrascht mich noch immer,dass die Besatzung schon so früh am Morgen wach ist. Sicher ist das eine Last. Nicht überrascht bin ich von den wenigen orthodoxen Juden (die mir als mysteriöse schwarz gekleidete Zweibeiner erschienen sind), die al-Wad hinunter in Richtung Mauer eilen, Gebete vor sich hin murmelnd. Ich verstehe sie. Jerusalem ist schließlich, oder sollte es sein, eine Stadt der Gebete, nicht der Gewehre und der Gewalt. Das Damaskustor erwachtschon zum Leben, die Händler und die Betriebsamkeit sind fast wie ein morgendliches Vogellied.

Ich schlendere langsam nach Hause. Das Schmidt's Girls College, das meine Schwestern eine Zeit lang besuchten und dessen Schülerinnen an meiner Schule ziemlich hoch im Kurs standen, liegt rechts. Ich gehe an den White Sisters zu meiner Linken vorbei. Weiter hinauf zur Rechten liegt das Gartengrab. Gegenüber ist die Busstation, für die, die in die arabischen Vorstädte im Norden fahren. Weiter hinauf, auf der Linken, die ehemalige Residenz des amerikanischen Generalkonsuls. Habe ich ein- oder zweimal vor diesen Toren demonstriert? Habe ich hiernicht auch am letzten Treffen mit Außenminister Baker teilgenommen, bevor die Verhandlungen in Madrid starteten?

Und ich gehe weiter. Das Basketballfeld, wo ich mit der Schulmannschaft spielte. Danndas Gebäude des British Council. Dort fand ich damals, vor vielen Jahren, Geschmack an Bertrand Russell und infizierte mich mit dem philosophischen Fieber. Und noch mehr Landmarken, wie Larssons schönes Haus, von der Straße zurückgesetzt, und nun eine Pilgerherberge. Er verließ es, Hals über Kopf, als sich die jordanische Armee zurückzog. Auf der anderen Seite, an der Fassade des Gymnasiums, findet sich eine Tafel zur Erinnerung an den Abschlussjahrgang meines älteren Bruders, im Jahr 1965. Auch er verließ die Stadt, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Genauso machten es meine beidenSchwestern und meine beiden anderen Brüder. Das Leben in Jerusalem ist sehr beengt für junge, vorwärts schauende Palästinenser. Es ist, als wäre man im Keller eines mehrstöckigen Hauses eingeschlossen.

Eine schwere Wolke hängt über der Stadt. Wird es endlich regnen und die Erde beleben? Oder wird sie weiterwachsen, dichter werden, alles beherrschend, und schließlich über uns hereinbrechen? Niemand weiß es. Ich am allerwenigsten, wieder zurück in 49, in 64, über meinem Laptop brütend, voller Verwunderung. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)

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