Figl: Der Gospodin von Wien

Leopold Figl im Kreise der ÖVP-Führung im Jahr 1945.
Leopold Figl im Kreise der ÖVP-Führung im Jahr 1945.(c) APA
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14. Mai 1955: Für einige Minuten sieht es so aus, als ob ausgerechnet Österreichs Außenminister Leopold Figl die Verhandlungen in letzter Minute platzen lassen könnte.

Der Nationalfeiertag ist zehn Jahre jünger als der Staatsvertrag. Erst 1965 hat das Parlament den 26. Oktober zum Nationalfeiertag erklärt. Bestimmt wäre Leopold Figl erfreut darüber gewesen, war doch die Unterzeichnung des Staatsvertrages die Krönung seines Lebenswerkes. Dieser Vertrag und der Nationalfeiertag sind untrennbar miteinander verbunden. Der 26. Oktober 1955 war der erste Tag, an dem sich keine fremden Truppen mehr auf österreichischem Boden befanden. Bewusst erst an diesem Tag wurde das Verfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität beschlossen. Umgekehrt hätten die Österreicher den heiß ersehnten Vertrag nicht bekommen, hätten Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Figl den Sowjets nicht die Bereitschaft zur Neutralität signalisiert.

Enttäuschung und Hoffnung, Verzweiflung und Mut, Demütigung und Triumph – all das lag im Leben von Leopold Figl nahe beisammen. Am letzten Abend im März 1938, bevor Österreich für sieben Jahre aufhörte zu bestehen, ist Leopold Figl unter den Zuhörern im Kanzleramt, als Kurt Schuschnigg ins Mikrofon spricht, dass die Österreicher der „Gewalt weichen“. Schon am nächsten Tag wird der Reichsbauernbund-Direktor verhaftet und mit dem ersten „Prominententransport“, wie die Nazis höhnisch sagen, nach Dachau gebracht.

Wie alle Häftlinge schuftet und hungert der spätere Bundeskanzler, ständig bedroht von der Willkür der Wachmannschaften. Einmal wird Figl dabei erwischt, wie er mit einem Mitgefangenen über Österreich spricht. Das „Vergehen“ wird mit 25 Hieben mit dem Ochsenziemer und sechs Wochen Dunkelhaft bestraft. Es ist das Erleben gleichartiger Ausnahmesituationen, das österreichische Politiker der Stunde null später verbinden wird.

Am 6. April 1945 ist Leopold Figl endlich ein freier Mann. Sechs Tage später wird er vom sowjetischen Stadtkommandanten, dem „Gospodin Figl“ als Bauernführer bekannt ist, mit der Lebensmittelversorgung der Wiener Bevölkerung beauftragt. Figl hat keine Vorräte, kein Saatgut, keine Leute und keine Fahrzeuge. Er hat nichts, bis auf den Willen, seinen Landsleuten zu helfen. Das muss genügen.

Am 7. Jänner 1946 erfolgt die De-jure-Anerkennung der Regierung durch die Besatzungsmächte. Im Ministerrat betont Figl, mittlerweile Kanzler, eine außenpolitische Grundsatzentscheidung: „Österreich war kein kriegsführender Staat und hat infolgedessen keinen Friedensvertrag zu schließen. Wir müssen auf dem Standpunkt stehen, dass es für uns nur einen Freundschaftsvertrag oder einen Grenzfestlegungsvertrag geben kann. Einem Staat, den man befreit, kann man keinen Friedensvertrag aufzwingen.“ Es wird neuneinhalb Jahre dauern, bis Leopold Figl seine Unterschrift unter einen solchen „Freundschaftsvertrag“ setzen kann. Acht Jahre davon ist der Niederösterreicher Bundeskanzler, dann wird er – für ihn selbst völlig überraschend – von seinem Freund Julius Raab abgelöst und nach einigen Monaten zum Außenminister ernannt.

Bundeskanzler Raab ist davon überzeugt,dass der Staatsvertrag nicht zu bekommen sei, wenn man den Sowjets nicht etwas gäbe, das interessant für sie ist. Dieses „Etwas“ ist die Neutralität. Viele Politiker, auch Leopold Figl, müssen erst für diese Linie gewonnen werden. Denn der Neutralität haftet in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre etwas Negatives an. Sie wird im Sinne eines die Sowjets favorisierenden Neutralismus verstanden, der Österreich aufgezwungen wird.

Einig ist man sich in der Regierung darüber, dass eine etwaige Neutralität daher nicht im Staatsvertrag enthalten sein dürfe, sondern von Österreich freiwillig erklärt werden müsse. Am 11. April 1955 fliegt das österreichische Verhandlungsteam, darunter Außenminister Figl und Staatssekretär Kreisky, auf Einladung der sowjetischen Regierung nach Moskau. Ist das die große Chance? Die Sowjets wollen Zusicherungen im Hinblick auf die zukünftige österreichische Außenpolitik. Delegationsleiter Raab verliest ein 26 Punkte umfassendes Papier, das vom Außenministerium ausgearbeitet wurde. Das Wort „Neutralität“ fehlt.

Die Erklärung ist den Sowjets nicht genug. Die Österreicher müssen jetzt Farbe bekennen. Raab bittet um eine Sitzungsunterbrechung. Was in jenen hektischen 15 Minuten zwischen den Österreichern gesprochen wird, ist nicht überliefert. Schließlich gehen die Verhandlungen weiter. Der Bundeskanzler erklärt, dass Österreich sich einen zukünftigen Status als neutraler Staat vorstelle und eine Neutralität wie jene der Schweiz wahren wolle. Ludwig Steiner schreibt in seinen Erinnerungen, dass Raab dies verkündete, ohne in der Verhandlungspause die Zustimmung von Schärf und Kreisky erhalten zu haben. Das veröffentlichte Tagebuch des Vizekanzlers Schärf aus dem Jahr 1955 verweist zwar auf die Sitzungsunterbrechung, schweigt aber über das in der Pause Gesprochene. Schließlich sind sich Sowjets und Österreicher in allen wesentlichen Punkten einig. Telefonisch wird eine Erklärung nach Wien durchgegeben: „Österreich wird frei, wir bekommen unseren Heimatboden in seiner Gänze zurück. Die Kriegsgefangenen und Inhaftierten werden die Heimat wiedersehen. Das hat die aufrechte Haltung des österreichischen Volkes erduldet, erarbeitet und errungen.“

Am 14. Mai 1955 ist es so weit: Die Außenminister sind in Wien zusammengekommen, um den Entwurf des Staatsvertrages anzunehmen. Für einige bange Minuten sieht es so aus, als ob ausgerechnet Leopold Figl die Verhandlungen in letzter Minute platzen lassen würde. Der Außenminister verlangt von den Siegern nicht weniger als die Streichung der sogenannten Mitschuld-Klausel aus der Präambel des Vertrages. Es sei paradox, wenn in der Moskauer Deklaration von 1943 Österreich als das erste von Hitler vergewaltigte Land bezeichnet und gleichzeitig von einer Mitschuld dieses Landes am Zweiten Weltkrieg gesprochen werde. Für Figl, der im „Dritten Reich“ jahrelang im KZ und monatelang in der Todeszelle saß, ist dieser Vorwurf unannehmbar. Als Figl endet, herrscht betretene Stille. Dann der erlösende Moment: Molotow, der sowjetische Außenminister, stimmt zu, und die westlichen Außenminister folgen seinem Beispiel.

Zehn Jahre später, am 15. Mai 1965, wird im Marmorsaal des Belvedere der Unterzeichnung des Staatsvertrages gedacht. Der Mann, der so viel für Österreich geleistet hat, wird schmerzlich vermisst. Nur einen Tag zuvor ist der Altkanzler beerdigt worden. ■


Birgit Mosser-Schuöckers Figl-Biografie ist bei Amalthea erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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