„Künstler brauchen Zeit“

„Mir geht es darum, dass ich die Leute einladen kann, hier zu arbeiten. Sie sollen nicht einfach nur etwas abliefern.“ Brigitte Fürle, künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten, über Avantgarde, die Lust am Reisen und die Freude daran, jetzt einmal eine Zeit lang dazubleiben.

Ihr Büro im imposanten, von Klaus Kada großzügig entworfenen Festspielhaus ist ein „Arbeitsbüro“; ein kleines, vollgestopftes Zimmer mit einem Schreibtisch, auf dem sich neben der Computertastatur die Unterlagen türmen. Die Sitzgruppe für den Empfang von Besuchern steht in einem offiziellen Raum ein paar Türen weiter, aber auch hier sieht es weniger nach Repräsentation als nach intensiven Teambesprechungen aus. Trotzdem ist das Leben von Brigitte Fürle vergleichsweise geruhsam geworden. Nur noch drei, vier Tage pro Monat hat sie im Ausland zu tun, und an spielfreien Abenden kann sie nach Büroschluss gemütlich zurück nach Wien pendeln, in ihre alte Wohnung in Hietzing, die ihr von der Großmutter geblieben ist.

Dort gäbe es zwar allerlei zu modernisieren, aber nachdem sie in den vergangenen 13 Jahren siebenmal umgezogen ist und dabei oft nicht einmal die nötige Infrastruktur vorgefunden hat, ist ihr die Kücheneinrichtung ziemlich egal, so lange sie ihren großen Kleiderschrank und alle ihre Bücher beisammen hat. „Ich habe in der letzten Zeit in Deutschland immer weniger Wert auf die Ausstattung meiner Unterkünfte gelegt“, sagt Fürle, die die Metropole Berlin gegen die Kleinstadt St. Pölten getauscht hat.

Bei den Berliner Festspielen war sie sechsJahre lang für die von Joachim Sartorius neu geschaffene Theater- und Tanzsaison „Spielzeit Europa“ verantwortlich. Ihr Leben dort fand zum Großteil im Theater statt – wenn sie nicht unterwegs war. „Ich habe immer schon gewusst, dass ich eine Weltreisende bin“, sagt Brigitte Fürle lachend. Es gibt keinen Kontinent, den sie im Zuge ihrer professionellen Recherchen nicht aufgesucht hätte, aber sie gibt auch unumwunden zu, dass das mit der Zeit doch ziemlich mühsam und „zum Teil fast unmenschlich“ ist – nicht nur dann, wenn sie sich zu allem Überfluss auch noch ein Bein bricht.

Mit dem Antritt ihrer Position als künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten im Herbst 2013 – sie wurde aus 39 Kandidatinnen und Kandidaten aus zwölf Nationen einstimmig gewählt –, hat sie eine bisher kaum gekannte Sesshaftigkeit entwickelt. Sie genießt es, abends einmal ruhig daheim zu sein, Freunde zu treffen oder sich ohne speziellen Anlass eine Aufführung anzusehen. Und auch im Privaten erlebt sie eine neue Qualität. Die Partnerschaft mit dem Mann, mit dem über 25 Jahre eine Fernbeziehung gelungen ist, wandelt sich jetzt zur trauten Zweisamkeit. „Wir haben schon gescherzt, dass wir allmählich wie Philemon und Baucis werden.“

Dass Brigitte Fürle kurz nach ihrem 50. Geburtstag „zu Hause“ angekommen ist und dass sie das so zu schätzen weiß, ist gewissermaßen eine Alterserscheinung und in jedem Fall die harmonische Rundung einer Biografie, die von außergewöhnlicher Flexibilität geprägt ist. „Ich bin eine sehr unösterreichische Erscheinung“, sagt die gebürtige Wienerin über ihren Werdegang, der jenseits der hierzulande üblichen Seilschaften verlaufen ist und insgesamt wohl eher ein Seiltanz mit hohem persönlichem Risiko war.

Initialzündung in Polverigi

Schon in jugendlichem Alter hatte Brigitte Fürle „immer nur Reisen im Kopf“. Als Älteste von drei Geschwistern war sie nach der Scheidung der Eltern mit der Mutter von Wien nach Baden gezogen, wo sie die Matura ablegte. Ihre Theaterleidenschaft hatte sich auf dem Stehplatz im Burgtheater und in den Ballettaufführungen der Staatsoper entzündet, wo sie mit ihren Freundinnen Stammgast war; Klaus Maria Brandauer und Michael Birkmeyer waren die Idole ihrer Teenagerzeit.

Nach Abschluss der Schule bekam sie die Möglichkeit, ein Jahr nach Italien zu gehen. „Das war die beste Entscheidung meines Lebens, ein ganz wichtiger Einschnitt“, meint sie noch heute, froh, ihren Horizont so früh gegenüber anderen Kulturen geöffnet und Theaterformen kennengelernt zu haben, die in Österreich bis heute nicht Gemeingut sind. „Die Avantgarde hat sich im romanischen Sprachraum ja viel früher entwickelt und genießt einen ganz anderen Stellenwert als bei uns“, verweist sie auf die strukturellen Unterschiede zwischen Österreich und Italien, wo mangels fixer Institutionen, die stets auch an verkrusteten Traditionen laborieren, ein ganz anderes künstlerisches Klima herrscht.

Ihre persönliche Initialzündung war ein Abend beim Festival in Polverigi in der Gegend von Ancona. „Eine seltsame Performance: Da hingen Autoreifen, und Menschen haben sich im Kreis gedreht – und das war Romeo Castellucci.“ Nach diesem Erlebnis war ihr klar, dass sie sich künftig den experimentellen Tendenzen des Gegenwartstheaters widmen wollte, und Brigitte Fürle hat ihren Weg zielstrebig beschritten. Sie studierte in Wien Theaterwissenschaft und Romanistik, dissertierte über „Neue Theaterformen“ und gab ihr Wissen zu diesem Thema einige Jahre lang auch in einer Lehrveranstaltung weiter.

Aber die Theorie allein war ihre Sache nicht. Zunächst heuerte sie freiberuflich als Kuratorin an, beim Steirischen Herbst und für die Reihe „Big Motion“ bei den Wiener Festwochen. Von 1993 bis 1998 konnte sie dann als Festwochen-Dramaturgin bereits das avantgardistische Programm in der Halle G gestalten und eigene Ideen verwirklichen. Nicht nur Romeo Castellucci und seine Socìetas Raffaello Sanzio brachte sie zum ersten Mal nach Wien; auch Robert Lepage und Jan Fabre, Jan Lauwers mit seiner Needcompany und die exzentrische Penny Arcade boten für das hiesige Publikum aufregende neue Theatererlebnisse.

Mit dem gern zitierten Bild von der „gläsernen Decke“, die Frauen daran hindert, in Spitzenpositionen zu gelangen, kann Brigitte Fürle nicht viel anfangen. Sie hat von Anbeginn ihren individuellen Weg verfolgt und dabei wohl mehr auf die inhaltlichen Aspekte ihrer Arbeit als auf taktisch kluge Karriereschritte geachtet, empfand dabei aber auch immer genügend Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und sich zu entfalten. Der damalige Festwochen-Intendant Klaus Bachler ließ der Anfängerin viel persönlichen Spielraum. In der Folge wurde sie von Elisabeth Schweeger, damals Chefdramaturgin am Bayerische Staatsschauspiel, für das innovative Programm im Marstall nach München geholt.

„Ich kannte Schweeger aus ihrer Zeit als Assistentin von Erich Wonder“, erinnert sich Fürle, die sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich ein Jahr intensiver Reisetätigkeit gönnen wollte, unter anderem in Australien. „Ich war gerade in Perth und hatte das Gefühl, ich muss wirklich nicht in Europa bleiben – da bekam ich die Nachricht, die mich zurückbeorderte.“

Brigitte Fürle lernte die spezifischen Anforderungen eines Repertoirebetriebs und die Aufgaben einer Produktionsdramaturgin kennen und bewahrt schöne Erinnerungen an Stéphane Braunschweig und seine „Woyzeck“-Aufführung mit Udo Samel und an Andreas Kriegenburg mit seinem furiosen „Black-Rider“-Spektakel. Sie wechselte mit Elisabeth Schweeger ans Schauspiel Frankfurt, wo sie sechs Jahre im Leitungsteam wirkte. Parallel dazu baute sie von 2002 bis 2004 bei den Salzburger Festspielen für den damaligen Schauspiel-Chef Jürgen Flimm das legendäre Young Directors Project auf und bewies wieder einmal ihren sicheren künstlerischen Instinkt. Gleich im ersten Durchgang präsentierte sie einen völlig unbekannten Regisseur, den sie im fernen Riga aufgespürt hatte. Der gewann prompt den ersten Preis und rangiert seither in der obersten Liga: Alvis Hermanis.

Es war Brigitte Fürle immer wichtig, nicht bloß in der Meute der internationalen Festivalmafia mitzuschwimmen und möglichst spektakuläre Programme einzukaufen. Sie wollte sich ihr eigenes Bild machen, die Künstlerinnen und Künstler in ihren ursprünglichen Zusammenhängen kennenlernen, um besser zu verstehen, warum jemand welche Ideen und Ausdrucksmittel entwickelt. Dieses ehrliche Interesse fiel auf fruchtbaren Boden. „Es sind von Anfang an ungewöhnliche Arbeitsbeziehungen auf einer sehr persönlichen Basis entstanden“, freut sie sich über ihre in gegenseitigem Vertrauen gewachsenen internationalen Kontakte. Sie bilden das Stammkapital ihres vielschichtigen Spielplans in St. Pölten, und dank der besonderen Betriebsform des Festspielhauses kann sie ihren Gästen nun auch maßgeschneiderte Projekte und optimale Bedingungen offerieren. So wird in dieser Saison zum Beispiel das Beijing Dance Theater vor Ort einen dreiteiligen Abend entwickeln und als Weltpremiere herausbringen.

„Mir geht es darum, dass ich die Leute einladen kann, hier zu arbeiten. Sie sollen nicht einfach nur etwas abliefern. Künstler brauchen Zeit, und sie brauchen Räume, und ich bin glücklich, dass ich das zur Verfügung stellen kann“, formuliert Brigitte Fürle ihre Philosophie. „Wir sind weder ein Repertoiretheater noch ein Festival, wir stehen nicht unter dem Zwang, einen Markt bedienen oder auf Knopfdruck ein Highlight produzieren zu müssen, sondern können uns als Institution den Künstlern gegenüber konstruktiv verhalten. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, ist mit Geld nicht aufzuwiegen.“ Diese alternative Produktionsweise, die Fürle bereits bei den Berliner Festspielen erprobt hat, erachtet sie als modellhaft für künftige Entwicklungen abseits des traditionellen Repertoirebetriebs.

„Chor 50 plus“, „Tanz 60 plus“

Apropos Geld: Pro Saison steht Fürle ein Gesamtbudget von sieben Millionen Euro zur Verfügung, davon bleiben zwei Millionen für die Kunst – ein Betrag, mit dem sich angemessen arbeiten lässt. In der laufenden Saison kann sie 63 Eigenveranstaltungen anbieten. Dazu kommt ein breites Spektrum von mehr als 80 Kulturvermittlungsaktivitäten, die über differenzierte Angebote für die lokale Bevölkerung, darunter auch Unkonventionelles wie „Chor 50 plus“ und „Tanz 60 plus“, weit hinausgehen.

In Berlin hat Fürle begonnen, spezielle Veranstaltungen im Kontext gesellschaftlicher Ereignisse zu konzipieren. Ihr größter Wurf war das viertägige Open-Air-Spektakel mit den Riesenpuppen der französischen Straßentheatertruppe Royal de Luxe, das 2009, zum 20-Jahr-Jubiläum des Mauerfalls, mehr als zwei Millionen Menschen anlockte und via Fernsehen 80 Millionen Zuschauer erreichte: „Darauf wird man mich bis an mein Lebensende ansprechen.“ Fürle hat aber auch das Migrantenproblem der Stadt in einem viel beachteten Großprojekt mit Jugendlichen und Künstlern aus dem Südpazifik unter der Regie von Lemi Ponifasio aufgegriffen.

In St. Pölten möchte sie nun mit ihren Mitteln auf die Flüchtlingskrise reagieren. So wird der syrische Tänzer Hussein Khaddour, heuer bereits Gast beim Europäischen Forum Alpbach, Workshops mit Flüchtlingen durchführen, die dann in eine Produktion münden. Der völlig überzogene bürokratische Aufwand, den Fürle in der aktuellen Situation auf sich nehmen musste, um dem Künstler, der ohnehin ein offizielles Engagement vorweisen konnte, den Aufenthalt zu ermöglichen, hat sie bei aller Weltläufigkeit fast aus der Fassung gebracht. „Aber wir machen eben nicht nur die repräsentativen Veranstaltungen, sondern mindestens so viel Community-Arbeit. Und diesen Auftrag nehme ich sehr genau. Es ist doch viel toller, wenn ich mit Kultur in der unmittelbaren gesellschaftlichen Realität ansetzen kann!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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