Wie diese Welt bewohnen?

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Themenbild(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ich habe nicht das, was die Kirche einen Glauben nennt. Doch in einer Kirche spüre ich Erleichterung. Ich höre auf, ein modernes Individuum zu sein. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass alles schon da war, vor mir. Und wenn erst die Glocken zu läuten beginnen, wer kann widersprechen?

In einer Kirche zu sprechen macht mich beklommen. Ich würde lieber nicht reden. Immer bin ich in einer Kirche am liebsten schweigsam gewesen. Es war, fand ich, das Schweigen in einer Kirche etwas dem Ort Angemessenes, und es tat mir gut. – Ich bete nicht, auch in Kirchen nicht, zu Gott. Ich habe nicht das, was die Kirche einen Glauben nennt. Mein Glaube ist mein Schweigen, und ein guter Ort dafür ist eine Kirche, am besten eine leere, menschenleere Kirche. Nicht reden müssen, nicht glauben müssen, nichts sein müssen.

Man könnte, wenn man könnte, singen. Singen in Gedanken oder singen, um nicht denken zu müssen. Wer singt, fühlt sich freier. Wer sich frei fühlt, könnte gefährlich werden. Sänger sind Menschen mit einerStimme. Sie sind die Beweglichen, die Fließenden, Sänger singen gegen das Feste, das Steife. Gesang kann, die Ohnmächtigen wissen es so gut wie die Mächtigen, Mauern einstürzen lassen. Nichts ist unverdächtig. Und die Türen stehen offen. – Mir gefällt das Unbewohnbare von Kirchen. Wohnungen sind Orte, die warten. Sie sind da, wie Menschen da sind. In einer Kirche bin ich allein. Nicht mit Gott allein, sondern mit mir, im bestenFall mit dem wenigen, wasich bin. Ich spüre Erleichterung. Ich höre auf, ein modernes Individuum zu sein. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass allesschon da war, vor mir. Ich bin weiter nichts als Oberfläche, darauf der Schatten eines Zwergs. Nichts gleicht hier seiner Kleinheit. Nichts hier hat, obwohl überdacht, eine Grenze. Das Unsichtbare, eingefasst in hohe Bögen, in Überwölbungen, Kuppeln, in Architektur, Architektur als Kunstwerk, als Ereignis. Nichts ist harmlos, nicht in einer Kirche: das durch buntes Glas einfallende, die Augen verzaubernde Licht, die knechtischen Kirchenbänke, die Höhe der Kanzel, die Orgelpfeifen, natürlich auch das Kreuz nicht!

Und es ist kalt in Kirchen! Sie könnten heizen, sie hätten das Geld, aber es wäre sowohl pädagogisch wie theologisch ein Fehler, einzuheizen. Wärme ist Menschenwerk. Soll sie das Feuer ihres Glaubens wärmen. Wem ein Frösteln durch die Glieder geht, ist nicht bei der Sache. Kälte konserviert, wie jede Hausfrau weiß. Die explizite Erwähnung der Strafen, die das Jüngste Gericht eines nahen oder fernen Tages den Sündern verkünden wird, tut ihr Übriges. Man soll sich, sagen die Temperaturen, keine Illusionen machen.

Man weiß nie, ob es, wohin man schaut, noch mit rechten Dingen zugeht. Was bleibt mir, auch in der kleinsten Kirche eines Dorfes, übrig als mein Mantel und mein Schweigen? Allein schon das wäre ja Sünde, noch auf die gleiche Weise, wie es das Leben jedem von uns abverlangt, von sich eingenommen zu sein. Wer nackt vor Gott steht, hat als Mensch nur noch symbolischen Wert. Als Lamm Gottes hätte man es wärmer. Die Herde rückt eng zusammen. Ihre Entgiftung kann, ihre Opferbereitschaft vorausgesetzt, beginnen.

Die unvermeidliche und unheilbare Hinfälligkeit des menschlichen Lebens ist es, die mit dem Gewicht einer fallenden Engelsfeder auch mich anrührt. Und wenn erst, einen Atemzug später, die Glocken zu läuten beginnen, wer kann antworten, wer widersprechen? Es wäre so sinnlos, wie dem Tod Belehrungen erteilen zu wollen. Er istda, ich spüre es. Nicht auf Friedhöfen ist er da, sondern in Kirchen. Mag sein, dass das ein Trost ist. Mag sein, dass Menschen aus seiner Anwesenheit Hoffnung schöpfen. Ich bin sein Freund aus anderen Gründen. Der Tod versteht zu schweigen. Wir verstehen einander. Es ist das, woran ich glaube. Wie Gläubige glauben, Gott zu verstehen.


Wo sind wir, wenn wir in einer Kirche sind? Und wer sind wir dort? Wie weit innen in uns beginnt die Unendlichkeit? Und zu welchem Ziel dreht sich ihre nie endende Spirale? Welche Rechte hat der, der in eine Kirche eintritt, ohne sein Heil in der Unterwerfung unter das Kreuz zu suchen? Hat, wer sich dem Glauben an Gott verweigert, verspielt? Und das, ohne ein besseres Argument zu haben? Gibt es Umwege, um nicht zu sagen: Hintertüren, so etwas wie einen Noteingang, um trotzdem in den Himmel zu kommen, vorausgesetzt, man verspricht sich davonüberhaupt etwas? Wie ist es da oben, wo keine Vernunft sich so recht ein Bild von den Verhältnissen machen kann? Am Ende stellt sich vielleicht heraus, dass die Künstler, die Maler und Komponisten – entgegen ihrem Ruf – die allein Vernünftigen waren, weil sie sich mit der Fähigkeit verausgabt haben, ihrer Begabung zu dienen, ein Gottesdienst der profanen Art. Sie setzten dem „Wir sind nichts, Gott ist alles“ ihre Kunst entgegen, in den besten Beispielen ein Beleg, selbst am Göttlichen teilzuhaben. Wo es nach der Lehre des gottgefälligen Lebens um jenseitige Belohnungen ging, waren die Künstler ihrer Zeit um jene eine Epoche voraus, in der das kreative Individuum den Preis schon zu Lebzeiten kassieren wollte.

In welcher Währung könnte Gott die Schulden, die er bei den Künstlern hatte, begleichen? Von seinen Stellvertretern auf Erden war erfahrungsgemäß nicht viel zu erwarten. Auf diese Art Erleuchtung waren Protestanten noch weniger programmiert als die katholische Kirche. Welcher Gott galt in Gelddingen, der katholische, der protestantische? Pech für Bach, dass die Zitronen anderswo blühten, dass er im Norden Deutschlands unter einem stets wolkenverhangenen Himmel und den Eisnebeln langer Winter zu Hause war und deshalb auch nur dort seinem Beruf als Musiker und Komponist nachgehen konnte, dem als Protestant die Aufnahme in die römische Congregatio di Santa Cecilia versagt blieb, diese Walhalla der katholischen Könner, sich also nur auf die dem lieben Gott zugeschriebene Güte, Gnade walten zu lassen, verlassen konnte. Was Vertrauen voraussetzt, auch in Gottes Namen Vertrauen in seine Fähigkeit, etwas von Kunst zu verstehen – was bis heute nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Er hat sich zu dieser Frage meines Wissens noch nicht selbst geäußert.

Es waren (und sind) die Päpste, Bischöfe und allerlei sonstige Geistlichen, die in ihrer Eitelkeit leicht verletzbaren und allzu augenfällig Mächtigen der Macht, die entscheiden, wer etwas taugt – oder nicht. Sie sind die Kuratoren. Sie haben das Sagen und das Geld. Sie kommen im Ornat. Sie geben grünes Licht oder schalten auf Rot. Man hat ihn nicht begriffen – und pünktlich mit seinem Tod vergessen – und das satte hundert Jahre!

Und doch! Unbemerkt hatte sich etwas zu verändern begonnen; und das grundsätzlich und unwiderruflich. Eine Perspektivenverschiebung, ein Epochenbruch. DieKünstler waren mehr von der Kunst, die den Allmächtigen verherrlicht, fasziniert als von ihm selbst. Statt Offenbarung durch die Heilige Schrift Selbstoffenbarung durch Farbe oder Tinte. Jeder ist seines Glückes Schmied? Das lassen sich Künstler nicht zweimal sagen. Sie erlernen nicht nur das Handwerk der Tonkunst oder der Malerei, sie lernen auch, ihr Handwerk im Kampf gegen die Unglücksgewalten einzusetzen. Ein Pinselstrich gegen die Sintflut, eine Aria gegen das Ende der Welt. Sie werden zu selbst ernannten, selbstständigen Eroberern ihres Glücks. Auch das ist ihr Geheimnis. In letzter Konsequenz sind Künstler geborene Sünder.

Aber wer – außer, wie gesagt, den Künstlern selbst – konnte eine Ahnung haben, dass die Sprache der Töne der Religion den Rang ablaufen würde, ja selbst zur Religion werden sollte – auch wenn zu ihrer Zeit weder Bach noch Buxtehude noch Telemann oder Schütz davon je blasphemischen Gebrauch machen sollten?


Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kurze Unterbrechung, um ein Erlebnis zu erwähnen, das ich – ich war damals 13 oder 14 Jahre alt und in meiner freien Zeit ein unruhiger Herumtreiber, auf der Suche nach einem interessanteren Leben als das, das zu Hause auf mich wartete – in einer Gastwirtschaft in Karlsruhe hatte, am Tisch mit russischen Emigrantenmalern. Einer von ihnen richtete das Wort an mich. Was, mein Junge, glaubst du, warum so viele Bilder gemalt worden sind mit Kreuzigungsszenen? Jesus amKreuz und links und rechts die zwei anderen zum Tod durch Kreuzigung Verurteilten? Vielleicht aus Höflichkeit, ich könnte mich mit meiner Antwort vor den Russen blamieren, antwortete erselbst. Ganz einfach, mein Junge, sagte er, weil das Problem zu lösen war, und das war keine religiöse, sondern eine rein ästhetische Frage, eine Übung des Geistes: Wie bringeich drei Kreuze in einem Quadrat unter. Man kann es das Nachglühen jenes ersten Funkens nennen, der die dunkle Welt des deutschen Protestantismus damals für einen Augenblick – und länger – erhellte.


Es war der gleiche, aus Omsk in die badische Provinz verschlagene Maler, der, wie er seinen Freunden erklärte, jeden Tag Bach höre. Bach sei Medizin – für die Seele und gegen den vom Saufen schweren Kopf. Bach zu hören sei gut, und sei es nur aus hygienischen Gründen! Er nahm die Flasche mit dem Wodka, schraubte sie auf, goss sich ein und leerte das Glas. Es ist nicht Gott, der uns Atheisten gefährlich werden kann, sondern Bach. Johann Sebastian Bach! Er schenkte sich nach, ruhig, gedankenverloren. Chaconne, fünfter Satz, Partita d-Moll für Solo-Violine. Was ist das? Was das ist? Ein Grabstein! Der Grabstein seiner Frau! Gesetzt in Musik! Die Geschichte kennt ihr. Sie war, als Bach auf Dienstreise mit dem Kurfürsten unterwegs war, gestorben – und schon unter derErde, als Bach zurückkam. Hochinteressant! Er schaute zu mir. Pass auf! Bach, versteht sich, eilt zum Friedhof. Und was macht er, als er am Grab seiner Frau steht? Weint er? Nein, er weint nicht. Er ist in Gedanken! Die endlose Niederlage, gegen den Tod nichts ausrichten zu können. Was bleibt ihm, als das Grab in Tönen davonfliegen zu lassen. Er verschenkt Schwerelosigkeit. Er komponiert! Und zwar ebenjene Chaconne. Und benutzt dazu – als Inspiration – die Zahlen ihrer Geburts- und Todesdaten und die Buchstaben ihres Namens. Viele Komponisten haben das bis heute mit seinem Namen, den Buchstaben seines Namens gemacht! B-A-C-H! Vier aufeinandergelagerte Halbtöne, die – miteinander verbunden – das Zeichen des Kreuzes ergeben! Das Symbol, in dem alle Kraft steckt! Eingeschmolzen in einem Namen. Er griff zur Flasche mit dem Wodka, aber nur, um zu sehen, ob noch genug übrig war. Was meinst du, mein Junge, da steht also dieser wohlgenährte, beleibte Mann am Grab seiner Frau – und keine Träne, nicht eine. Welchen Verdacht legt das nahe? Dass er herzlos war? Gleichgültig? Kaltblütig? Ich würde sagen, sagte er, den, dass er ein Genie war . . .

In den Augen seiner Dienstherren war JohannSebastian Bach ein musikalischer Domestik, ein Untertan, ein Mann mit Pflichten, zur Stelle wie verlangt, Lieferant permanenter Uraufführungen, aber kein Großereignis! Hausaufgaben Sonntag für Sonntag, Kantate für Kantate – und wer außer ein paar Kollegen vom Fach hätte ein Ohr für seine finessenreichen kompositorischen Einfälle gehabt? Zum Beispiel der Einfall in der Aria der Kantate BWV 105, Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, wo Bach den Basso continuo gestrichen hat, weil nur so die Sache ins Schweben kommt. Wie zittern und wanken der Sünder Gedanken? Hören die Menschen (und mit welchem Schrecken?), dass sie Wesen ohne Flügel sind? Und das als Bewohner einer Welt voller Abgründe? Wehe, singt der Sopran in ruhiger und gerade in seiner Ruhe so überwältigenderSchönheit, so wird ein geängstigt Gewissen durch eigene Folter zerrissen. Daskann die Kunst, und nur sie. Das ist unbezahlbar.Sie zieht die Register, alle. Klangbilder der Konfrontation und der stummen Ergriffenheit. Sie schlägtAlarm und verabreicht dagegen Medizin. Man kann nicht glauben, was manhört, nicht wenn man sich eine Anekdote in Erinnerung ruft, die Bach in den Verdacht bringt, er sei weniger Musiker als Apotheker gewesen. Ich meine die Geschichte der später als Goldberg-Variationen so berühmt gewordenen Klavierstücke, geschrieben im Auftrag eines vom Fieber der Schlaflosigkeit gequälten Adligen, der ihn, zu Bachs großer Freude, mit einer Lieferung sehr guter Weine entlohnte. Kleine Stücke, die den Fiebernden beruhigen, ihm schließlich die Möglichkeit seiner Nachtruhe sichern sollten. Um die Distanz zu ermessen, die vom Anlass zum Ergebnis führt, muss man sich nur den ins Gedächtnis rufen, der mit seiner Einspielung zum Paten dieser Goldberg-Variationen wurde, Glenn Gould, in seiner Verwandlung als singende Spinne ebenfalls heillos am Fieber der Schlaflosigkeit erkrankt.

Der Aria, kaum verklungen, folgt im Rezitativ das Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß. Da ist er wieder, der Boden unter den Füßen, der Basso continuo.


Ich schreibe das so hin, eine Arie, ein Rezitativ, eine zweite Arie – und kann Ihnen leider den Aufschrei nicht akustisch mitliefern, mit dem die strenggläubigen Pietisten, die Vorsteher der Kirchengemeinde und die in der Kunst der Intrige geübten Konsistorialrätereagierten, als sich Bach, auch er, die freche Freiheit herausnahm und dem aus Italien importierten Brauch huldigte, in der Kirchenmusik mehr Oper zu riskieren. Wie viel Weltlichkeit, wie viel musikalische Eleganz ist im Gottesdienst erlaubt? Muss die Seele von allein in Inbrunst glühen, oder darf Ästhetik den Glauben anregen? Schließlich gingen die Bürger und die Bauern zur Kirche, nicht in ein Konzert.

Die Herren waren alarmiert, ihre Geistesgegenwart aber war überfordert. Diese Italiener, die nicht genug kriegen können, das Leben haben zu wollen, und davon das Beste, auch in der Musik. Aber die werden ja auch von singenden, von der Sonne beschienenen Müttern geboren und bekanntlich mit Nudelwasser getauft!

So viel Kompetenz sei einem Schriftsteller zugestanden, auch eine Anmerkung zum Libretto machen zu dürfen, also zum Text der Kantate. Da wurdeganze Arbeit geleistet. Eigentlich muss man sagen: Das Original – Evangelium nach Lukas, Kapitel 16 – wurde in einem Anfall von Selbstzensur entschärft, die in meinen Augen den Tatbestand einer Fälschung erfüllt. Ein Fall von Seelsorge der besonderen Art, deren Stunde immer dann schlägt, wenn sich Pastoren ans Werk machen. Was sie in Umlauf bringen wollen, sind positive Diktate für auf Erden arme Menschen, noch ärmer in langen Kriegen und den Heimsuchungen der Pest, am ärmsten ohne Glaube. Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen, so gilt der Mammon nichts bei mir, singt der Tenor in der zweiten Aria. Leicht gesagt! Schaut nicht aufs Geld, schaut Gott? Wie den Hunger stillen, wenn auf der Speisekarte nur Nahrung für die Seele steht? Wie zu Kräften kommen für harte Arbeit, die nur am Tag des Herrn ruht, und für Bauern nicht einmal dann? Wie das Prinzipielle mit dem Praktischen versöhnen? Wie diese Welt bewohnen?

Die Geschichte nach Lukas 16 hat es, was diese Frage betrifft, in sich. Es ist eine Geschichte, die italienischer nicht sein könnte, eine handfeste, ein wenig dubiose Gaunergeschichte. Frühchristlicher Tobak!

Jesus sagte zu den Jüngern: Ein reicher Mann hatte einen Verwalter. Diesen beschuldigte man bei ihm, er verschleudere sein Vermögen. Darauf ließ er ihn rufen und sagte zu ihm: Was höre ich über dich? Leg Rechenschaft ab über deine Verwaltung! Du kannst nicht länger mein Verwalter sein.

Da überlegte der Verwalter: Mein Herr entzieht mir die Verwaltung. Was soll ichjetzt tun? Zu schwerer Arbeit tauge ich nicht, und zu betteln schäme ich mich. Doch – ich weiß, was ich tun muss, damit mich die Leute in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich als Verwalter abgesetzt bin.

Und er ließ die Schuldner seines Herrn, einen nach dem andern, zu sich kommen und fragte den ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Er antwortete: Hundert Fass Öl. Da sagte er zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich gleich hin und schreib: fünfzig.

Dann fragte er einen andern: Wie viel bist du schuldig? Er antwortete: Hundert Sack Weizen. Da sagte er zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib: achtzig.

Und der Herr lobte die Klugheit des unehrlichen Verwalters und sagte: Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.


Ein grandioses Finale, auf Anhieb nicht leicht zu kapieren. Hören wir da etwa einen ironischen Ton, als gelte es, den Ungehorsam auf die Liste der Menschenrechte zu setzen? Und die Kinder des Lichts? Sind sie etwa vor lauter Selbstabstrahlung geblendet? Könnte das nicht ein Kirchenbesucher seinem Nebenmann zuflüstern, nach dem Motto: Was wissen die da oben schon von einem Leben da unten? In der Regel wissen die Menschen, was sich untereinander wie regeln lässt. Wie klug war es, diesen letzten Satz zu unterschlagen? Hat er nicht etwas Heiteres? Mit diesem Satz im Ohr kann ich mir den Herrn, diesen Herrn, auch als hinduistischen Swami vorstellen, als Möncheines Zen-Klosters, als Outlaw unter freiem Himmel. So ein Satz bläst jeder Kerze die Flamme vom Docht. So einen Satz kann nur jemand sagen, der über nichts, was zu sagen ist, viele Worte macht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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