Die Bücher unter den Decken

„Anton Winter wuchs als Sohn eines Geigenbauers auf in einem riesigen Garten zu einer Zeit, als man noch in ein Schicksal hineingeboren werden konnte.“ – Beginndes Romans „Winters Garten“.

Anton Winter wuchs als Sohn eines Geigenbauers auf in einem riesigen Garten zu einer Zeit, als man noch in ein Schicksal hineingeboren werden konnte. Die Gartenkolonie war einst von Fabrikantensöhnen und Naturärzten, von schmallippigen Asketen und ein paar Gelehrten, von Bauern und hochgewachsenen Frauen mit Strohhüten gegründet worden, als der Staat sich auflöste und die Stadt trost- und der Mensch so ratlos geworden war, dass er in die Natur gehen musste, um sich zu erneuern.

Die Damen saßen zwischen Rhabarber und Erdbeeren, und die Herren lehnten sich aus den Fenstern des Hauses, um den Bäumen das Obst herunterzupflücken. Die Kinder liefen nackt über Grund und Boden, der allen gehörte, und abends aß man mit bloßen Füßen im Gras. War es anfangs eine Ansammlung von Leuten so unterschiedlich wie Tag und Nacht, die eine Idee verband, so waren es später die vielen Ideen, die zu jener ersten hinzustießen, die die Schar wieder trennten: Während die einen den Fortschritt verdammten, schmähten die anderen den Stillstand.

Als Anton Winter zur Welt kam, war jene Gemeinschaft des Anbeginns längst aufgedröselt und zu einer kaum überschaubaren Großfamilie geschrumpft, die aus den Liebschaften der Vergangenheit hervorgegangen und dem Garten treu geblieben war. Noch immer bestellte man ein, zwei Felder, aber viele arbeiteten in der für die Kinder so weit entfernten Stadt am Meer. Jene, die am Hof kein Auskommen fanden, fuhren Tag für Tag eine Stunde dorthin, bis die Berge hinter ihnen schrumpften, die Wiesen sich in Straßengeflecht verwandelten und der unebene Boden im unruhigen Wasser verschwand. Diese einstündige Fahrt verband zwei so gegensätzliche Welten, dass man im Garten nicht über die Stadt und in der Stadt nicht über den Garten sprach, als gehörte es sich nicht. Die beiden Orte existierten wie parallele Universen, eines, in dem es nichts als Erde und Berge gab, die man in den kantigen Gesichtern seiner Einwohner wiederfand, und eines, in dem die Gezeiten eben diese Kanten und Falten davonwuschen. Anton und die anderen Kinder hielt man fern vom Meer und der Stadt, als fürchtete man, dass ihr Anblick sie verderben könnte. So blieben sie und die Alten allein zurück im Garten und hatten alle Zeit der Welt.

Zwanzig bis dreißig Menschen lebten je nach Tageszeit in dem gewaltigen Haus und den zwei angrenzenden Nebengebäuden. Inmitten von Wiesen, Feldern und Wäldern, fern von den Straßen, fremd den Nachbarn, so entlegen, dass man nicht zu ihnen sah, eingefasst von einem verrückten Garten, dessen Ränder in die Landschaft schmolzen. Schon alt, als Anton Kind war, halb Bauerngehöft, halb Gutshof, mit wildem Wein an der gelb bröckelnden Fassade und der hölzernen Veranda, dem großen Tor, den Tonnengewölben und dem Walmdach, mutete das Haupthaus eigenartig aus der Zeit gefallen an, und die Lebensgeschichten seiner Bewohner waren in Schichten auf seine Mauern und das Grundstück aufgetragen.

Der Garten schien ein Gleichnis

Alles lebte und wandelte stetig seine Form, kam, ging, schlug Wurzeln und verschwand in diesem Bienenstock. Es war eine unermüdliche Bewegung, die sich im Takt des Kommens und Gehens der Bewohner dem Chaos des Hauses einschrieb. Der Garten schien ein Gleichnis aus Gedeih und Verderb und allerlei Geheimnissen; die Alten saßen unter den Magnolien, und die Kinder hielten sich die Kelche der Lilien an die Ohren und hörten hinein, als wären sie ein Grammofon, das zu großen Abenteuern riefe. Alles wuchs und starb nebeneinander in diesem Garten, in dem die Menschen, den Pflanzen gleich, ihre Stühle dem Sonnenstand hinterherrückten und erst ihre Gesichter dem Licht zuwendeten und später die Köpfe müde hängen ließen, wenn es dunkel wurde.

Für Anton Winter war die Kindheit vollgestopft mit hohen Gräsern und Teerosen und grünen Äpfeln in den Bäumen, die man den ganzen Sommer über so begehrlich ansah, dass sie irgendwann schüchtern erröteten. Die Alten und Kranken waren zu Hause, und durch die dünne Haut fiel ihnen das Sonnenlicht bis aufs Skelett, wenn sie zwischen den Glockenblumen saßen, so zart, als wären sie eine von ihnen. Die Geburt steckte noch in allen Knochen, so dass man den Tod nicht fürchten musste. Die Welt prahlte mit ihrer Größe, und die Himmel jagten über die kleinen Köpfe so lange, bis man sich an sie gewöhnt hatte. Zu Tausenden brachen die Blüten der Fliederbüsche auf über Nacht, dass man meinte, es ginge ein Rauschen durch den Garten. Die Kinder hockten in den Magnolien und dachten an nichts, und so gehörte ihnen alles. Sie sangen wie Vögel in den Ästen für ihre Urgroßtanten und -onkel und für die Säuglinge und Kleinkinder, die man neben den Alten in die vom Waldrand verschattete Wiese legte. An den Friseurtagen knieten sie weinend auf einem Stuhl und blickten den Haaren, die die Mutter mit blitzender Schere abschnitt, nach, wie sie an ihnen herab zu Boden fielen, während die anderen sie umstanden und lachten.

Alles hatte Platz in diesem Garten. Nichts war unmöglich damals. Der Himmel war so weit entfernt wie der Mond. Neben der Bienenhütte saßen die Tanten mit Hüten, groß wie ein Wagenrad, und tranken heißen Tee in der Sonne. Die Backen der Frauen waren weich wie Kirchenbrot, und wenn sie lachten, wuchsen darin kleine Seen. Die weißen Nacht- und Totenhemden wehten an den Wäscheleinen, und die Kinder schlüpften von unten in den vom Wind geblähten Stoff und taten, als wären sie Gespenster. Starb jemand, standen sie nachts gemeinsam im Garten und sahen himmelwärts zu den Sternen, und es war, als ob durch den Riss des Todes die Zurückgebliebenen dem Toten ins Universum hinterherschauten. Man legte das Ohr auf den Boden, um die Verstorbenen zu hören, und schauderte dann ein bisschen. Nichts roch je lebendiger als die lockere Erde der frischen Grabhügel am Rande des Gartens, über die sie sommers mit bloßen Füßen rannten.

Auf den Grabhügeln standen Himbeeren, die sie einander so gierig in die Münder stopften, als wollten sie sehr groß werden, und die, die es bereits geworden waren, trugen abends mühelos die Urgroßmutter auf den Armen ins Haus, als wäre sie bloß ein Holzscheit. Wenn man es mit den Kinderspielen übertrieb, bekam man glasige Augen und ein Fieber, das einen ins Bett drückte, während die anderen draußen vor den Fenstern weiter herumtobten. Ganze Tage zogen die Kinder umher, und niemanden kümmerte es. Was konnte einem draußen in der Welt schon zustoßen? Es war eine Übereinkunft, über die man nicht sprach. Hinter den Fenstern begann die Welt, und hinter den Zäunen wartete ein Schicksal.

Die Jungen suchten mit der Dringlichkeit des Anbeginns die Wege, die sie gehen wollten, und die Alten gingen in Demut die Wege zu Ende, die sie einst gewählt hatten. Die Kinder waren Kinder aus Stroh, wenn sie über die Sommerwiesen liefen, und Föten, die in den Bäumen schliefen mit hölzernen Kronen, als zöge der Wald sie auf, wenn sie sich ausruhten, nachdem sie tief in ihn hineingewandert waren. Wenn es spät wurde, gab es zu Hause heißen Gugelhupf, an dem man sich die vom Tag kühlen Hände wärmen konnte, und leise Musik aus den Ecken.

Die Alten hielten die Geigen im Schoß, als wären sie Kinder, und spielten auf ihnen von Zeit zu Zeit auf der Veranda, eingemummt in Decken, mit den Bechern voll Apfelsaft und den Tellern voll Butterbrot neben ihren Bänken. Alle strömten herbei des Abends. Die Mütter wiegten die Säuglinge im Takt, und die Väter warfen sie lachend in die Luft. Die Erwachsenen fuhren mit den Wagen aus der Stadt vor, und die Kinder kamen aus allen Richtungen gelaufen. Die Hofhunde umringten die Heimkehrer und leckten ihnen das Blut von ihren aufgeschlagenen Knien. Im Garten dann erzählten sie alle einander von ihren Wanderschaften und Wandlungen und wurden sanft unter der Gelassenheit der Großeltern, die indessen gierig waren nach ihrem Überschwang, bis alle ihre Ruhe fanden. Dann verstummten auch die schimpfenden Vögel in den Bäumen und schliefen stumm wie Früchte mit den Köpfen in ihrem Gefieder, während sich die Blumen langsam schlossen und der Garten feucht und schwarz wurde von der Nacht.

Das Haus war stets erfüllt von Gute-Nacht-Geschichten für die Kleinen, von tausend Schritten und dem sauren Geruch, der aus den Essigleintüchern stieg, die man den Kranken um ihre schmerzenden Beine wickelte. Die Schaukelpferde waren ebenso gute Freunde wie die Hunde, die den Kindern um die Beine liefen. Man hielt das Ohr an den Brustkorb der schlafenden Haustiere und hörte die Herzschläge der Katzen wie Drums. Die Frauen nahmen ihre Ringe und Ohrringe ab und legten sie auf den Nachttisch mit weißen Händen. Ein letztes Mal drehte man den Kindern die Wundertrommel an, dass sie den Bildchen der springenden Pferde hinterherträumen konnten. Den Alten strich man, über die Betten gebeugt, die Falten glatt, und den Brüdern Anton und Leander schlug man lächelnd die Bücher unter den rauen Decken zu.

Der Schatten, der ins Gesicht fiel

Anton glaubte sich noch viele Jahre später zu erinnern, dass die Mutter roch wie ein Engel, wenn sie sich nachts zu ihm setzte, um ihn zu küssen. Und er erinnerte sich an den Schatten, der ihm ins Gesicht fiel, bevor ihn ihre Lippen berührten. Dann gab es nur noch das Kinderlicht, das die Eltern der verwandelten Landschaft der Nacht entgegenstellten, jene winzige Lampe im Bubenzimmer, die Schatten der flackernden Kerzen und die Stimmen der Erwachsenen, die von der Veranda heraufdrangen. Sie lagen mit den Köpfen in ihren großen weichen Locken, hörten den merkwürdigen Geräuschen zu und hefteten die Augen an den kargen Lichtkegel, bis sie ihnen zufielen. Immer war es warm im Bett. Man schlief wie tot, und die Nächte waren so lang. Man liebte sie so sehr, wie man die Dunkelheit fürchtete. Morgens war das Aufwachen ein Wachsen. Den Kindern schien es, als wären sie in den Brutkästen der Nacht ein Stückchen größer geworden und müssten nun hineinwachsen in die Welt und die Glieder strecken, als gingen die Körper auf wie verklebte Blüten mit dem ersten Licht.

In den Kindern wiederholte sich das ewige Wachstum, über das alle Bescheid wussten. Die Bewohner des Gartens erzogen die Kinder zu einer Zukunft, für die man erst genau Maß nahm und die dann akkurat mit dem Leben mitwuchs, die in den kleinen Schritten von gestern und den großen Wünschen von morgen wurzelte. Sie sperrten Schutzengel in Medaillons und verhängten mit den Goldkettchen einen Segen wie ein Urteil über das Leben der Kinder. Sie forderten einander zu Großem auf: groß und größer zu werden. Die Großmutter predigte, dass die Zukunft jene Reihe an stets wachsenden Vorzeichen wäre, die man, rückblickend betrachtet, richtig gedeutet habe. Und der Großvater fügte hinzu, dass die Zukunft auch der Eintritt all der schlechten Vorahnungen sei, von denen man gar nichts gewusst habe, und zündete sich dann auf der Veranda eine Pfeife an, als wolle er sich zum Schutz in Rauch einhüllen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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