Wenn der Künstler zur Muse wird

Das neue Rollenbild begreift den Künstler als Dienstleister: zwischen Psycho- und Physiotherapeut, zwischen Coach und Seelsorger, zwischen Ernährungs- und Vermögensberater. Kunst und Künstler heute: eine Standortbestimmung.

Es fällt nicht schwer, die gegenwärtige soziokulturelle Lage in Form einer Paradoxie zu beschreiben. Sie besteht darin, dass es zugleich zu viel und zu wenig Kreativität gibt. Zu viel Kreativität gibt es, weil so zahlreiche Menschen wie wohl nie zuvor kreativ tätig sind – dies oft zwar nicht hauptberuflich, sondern nur in ihrer Freizeit, doch mit großem zeitlichem, manchmal auch ökonomischem Aufwand. Die demokratische Wohlstandsgesellschaft erlaubt es ihnen, ihren Willen zu eigenen Schöpfungen auszuleben; Authentizität oder Selbstverwirklichung sind nur zwei der Schlagworte, von denen das Kreativsein begleitet wird, das zu unzähligen Produkten – von Gedichtbänden bis zu Blogs, von Gemälden über Theateraufführungen bis zu Gartenanlagen und selbst entworfenen Möbeln – geführt hat.

Zu wenig Kreativität gibt es, weil der Imperativ, selbst kreativ zu sein, bei vielen das Gefühl eines Ungenügens auslöst: Ist man vielleicht doch nicht begabt genug? Sind andere nicht viel kreativer, produktiver, besser? Fehlt es einem nicht an Ideen? Aus der Befürchtung, die Ansprüche auf Kreativität nicht erfüllen zu können, resultiert eine mehr oder weniger hektische Suche nach Quellen der Inspiration. Die als knapp empfundene Ressource Kreativität soll geschöpft werden, wo auch immer sie aufzuspüren sein könnte: in der Wellness-Industrie, bei diversen Konsumprodukten und vor allem auch in der Kunst.

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