Kein Ende, kaum ein Anfang

„Mit Eifer wird aufgebaut, und wo sich der Tod noch vor ein paar Jahren die Leichen zu einem fröhlichen Stoß gestapelt hat, wachsen Büsche zur Erbauung. Gefragt wird wenig. Dafür gehen die Leut ins Kino, in einen Film vom Marischka.“ Der Roman „Watschenmann“ im Auszug.

Kein Rabe für Heinrich. Die ersten zweiRegeln. Vielleicht auch die dritte.
An einen Raben will er denken, an einen, der sich gegen den Wind stemmt. Lydia meint, das stehe ihm nicht zu, das tauge nichts. „Warum?“ „Der Rabe ist zu hoch für dich, zu schön.“ Heinrich versteht nicht gleich. „Wirst schon verstehen“, sagt sie, sagt oft solche Sachen und erklärt sie dann nicht. „An was denkst du, Lydia, wenn du geschlagen wirst?“ Statt einer Antwort spuckt sie vor seine Füße. „Wirst wohl aufhören mit der Fragerei. Wochenlang redest nix, und dann.“

Heinrich weiß schon, dass es schwer ist am Anfang. Du wartest auf den Schlag, auf den Tritt gegen Arm oder Bein. Und weil du wartest, weil alles bereit ist, alle Nerven, weil die Haut sich hindehnt und die Synapsen im Kopf flimmern und zucken, weil das so ist, blitzt es. Wenn sich der Stiefel ins Schienbeinbohrt. Oder der Absatz von Damenschuhen in die Rippen. Auch das gibt's. Dann blitzt es vor den Augen, du gehst in die Knie, windest dich auf dem Boden. Wie ein Wurm, zwischenHundehaufen und Dreck. Windest dich und stöhnst. Oder wimmerst. Noch schlimmer. Dann treten sie stärker, damit du aufhörst. Das hat keine Logik. Und weil es keine hat, hat es eine.

„Da capo!“ Lydia kreischt vor Lachen, hässlich ist sie, als sie es Dragan erzählt. Da liegt einer auf dem Boden und bittet höflich, noch einmal hinzutreten. Heinrich hasst sie in dem Moment. Na, weil sie recht hat. Daher auch das Humpeln. Zu viel Zugabe bekommen. Klappe nicht halten können. So schaut's aus.

Also kein Rabe. Über dem Sturm, nein, über dem Platz. Heinrich hat da so einen Vogel gesehen, kurz vor dem Sturm. Er flog über den Platz, die Bäume griffen in der Luft herum. Die war voller Staub und Sand, von der Baustelle beim Schottenring, wo sie das Hochhaus vom Boltenstern hinstellen. Am Sonntag gehen die Familien Bagger und Baugrube schauen. Die Büro-Väter erklären Bewehrungen und Verstrebungen, und die Hausfrauen-Mütter nicken und sagen, man solle aufpassen, was der Vati erzählt. Und sich nicht schmutzig machen am Bauzaun. Danach gibt es ein Eis am Schwedenplatz. Schöne neue Welt.

Der Vogel flog gegen den Wind. Er stemmte sich quer über die Leute, die ihre Kinder und Taschen packten und gingen, aber Heinrich blieb sitzen und sah dem Raben zu. Weil der so aussah, als würde er schwitzen. Das waren nur seine Federn, die glänzten blauschwarz.

Spät im Sommer war das gewesen. Jetzt liegt Schnee, es ist Jänner. „Warum soll er nicht an einen Raben denken, Lydia? Ein Rabe ist so gut wie jedes andere Tier.“ Dragan zeichnet mit seinem Stock Linien in Lydias Spucke. Dann steht er auf, putzt sich den Dreck von der Jacke, gähnt. „Ich bin hungrig“, sagt er. „Woran denkst du, Dragan, wenn man dich schlägt?“ Dragan sieht ihn an, die hellen Haare, das schmale Kinn. „Hm. An meine Eier, wenn es den Kopf erwischt. An den linken Daumen, wenn es die rechte Hand treffen wird. Wenn sie mir in den Arsch treten, denke ich an dich, psiću.“ Psiću. Kleiner Hund. Er lacht. Und geht. Abgang, Abmarsch. Weg. „Pazzo“, murmelt Lydia.

Lydia und Dragan. Das ist so eine Sache. Seit Heinrich bei ihnen lebt, denkt er über sie nach. Was er halt nachdenken nennt. In seinem Nachdenken sind die beiden ein Paar. Sind Mutter und Sohn, Vater undTochter. Sind gar nichts. Lydia war zuerst da. Heinrich ist in ihr Versteck gestolpert, wäre ihr fast in die Arme gefallen. Versteckdarf er nicht sagen. Dragan meint, es ist andersrum. „Draußen versteckt sich die Welt vor uns.“

Wie er uns gesagt hat, hat Heinrich gewusst, er meint ihn auch. Und ist geblieben. Dragan nennt den Verschlag palata. Lydia sagt, es wäre nicht mehr als eine Bruchbude, eine versaute Dreckshöhle, ein paar Bretter hinter der kleinen Schusterwerkstatt. Wahrscheinlich war das früher ein Schuppen. Wahrscheinlich ist der Schuster tot. Zerschossen. Oder bei den Russen. Heinrich ist das gleich. Es ist ruhig und trocken. Mehr braucht man nicht.

Die Werkstatt ist versperrt. Heinrich presst die Nase so fest an das kalte Glas, dass es knackt. Brich, denkt er, brich einfach. Dann komme ich rein in deine Zeit. Lydia erwischt ihn vor den Fenstern. „Verschwinde“, schimpft sie, „das gehört dir nicht.“ Dass das niemandem mehr gehört, ist ihr egal. Dann gehört es sich selbst. Lydia, könnte er sagen, ich tu doch nichts. Ich nehm keinem etwas weg. Aber er schweigt. Er wartet, bis sie mit dem Stock droht. Bis sie damit auf seine Beine drischt. Bis sie ihn fortschwemmt mit ihren Flüchen. Dragan hat viele Namen für Lydia. Dušo moja. Meine Seele. Hajdraža moja. Meine Liebste. Srećo moja. Mein Glück.

Wenn er das Fluchen und Lachen, den Schuppen und die Werkstatt mit ihrer stillen Zeit hinter sich lässt, erzählt sich Heinrich eine Geschichte: Dragan kommt in die Stadt. Wie John Wayne als Ringo nach Lordsburg,langer Mantel über den Schultern. Das geht leicht. Lydia. Lydia geht schwer. Heinrich grübelt. Stellt sie in eine Bar. Macht sie jünger, ein wenig. Lässt sie hart arbeiten. Lässt sie allen, die sie ansprechen auf eine Art, vor die Füße spucken.

Also Dragan, der steht in der Bar. Jeden Abend. Muss Lydia anschauen, immerzu. Er stellt ihr Fragen. Woher sie kommt. Was sie nach der Arbeit macht. Ob er sie einladen darf. Nicht interessiert. Dragan lässt sie spucken. „Du kommst schon mit“, sagt er. „Wenn du dich leer gespuckt hast, gehst du mit mir mit.“

Heinrich macht wieder die Augen auf und schaut, wo er ist. Gibt er beim Nachdenken nicht acht, landet er an Orten, die nicht gut für ihn sind. Er wird gelandet. Manchmal stößt ihn jemand. Je dichter die Menge, umso eher wird man angerempelt: Das ist die erste Regel des Watschenmannes. Die zweite: Du musst das Mittelmaß finden zwischen Schmutz und Nichtschmutz. Bist du zu schmutzig, wird dich niemand anrühren. Bist du zu sauber, ebenfalls nicht. Es gibt noch mehr Regeln, aber als Heinrich Dragan davon erzählen wollte, meinte der: „Für heute ist es genug.“

Heinrich möchte der beste Watschenmann Wiens werden. Aber dazu muss man vorbereitet sein. Nicht tagtraumgetrieben an Unorte kommen und erst durch den Rempler oder einen Tritt aufwachen, oder durch jemanden, der dir den Weg versperrt, und das Letzte, das du siehst, ist eine Faust, und das Letzte, das du hörst, sind Worte wie Gesindel oder Mauthausen oder, harmloser, Watschengesicht, und dann kriegst du noch was drauf, weil du dem Blutdreck, in den dein Mund deine Nase deine Augen gepresst werden, erzählst, dass es Watschenmann heißt, nicht Watschengesicht.

Das ist der Grund, warum seine Geschichten kein Ende haben. Meistens reicht es kaum für den Anfang, dann wacht er auf. Entweder auf die brutale Art. Oder so.

Von Lydia weiß Heinrich: Wenn man verprügelt wird, darf man nicht da sein. „Stelldir ein Tier vor und verschwinde mit ihm.“ „Welches, Lydia?“ „Keine Ahnung“, sagt Lydia. „Bin ich du? Pazzo.“

Wenn man verprügelt wird, darf man nicht da sein. Ist das die dritte Regel? Dragan fragen, denkt Heinrich. Wird schon stimmen.


Einschub: Vorher. Jetzt.

1953, im Sommer, ist Heinrich aufgetaucht. Man sagt, er stammt aus der Provinz. Rund um Wien ist aber viel Provinz.

Die ist in den Nachkriegsjahren in die Hauptstadt eingesickert mit Vehemenz. Gestrandete, die weder vor noch zurück konnten und geblieben sind. Hungergestalten aus den Lagern. Kriegsgefangene und Soldaten, denen der Frieden die Arbeit genommen hat. Alliierte, einfache Burschen bis hohes Militär, die wichtig die Stadt besetzen und Anspruch erheben auf Aufmerksamkeit. Der Rest, dem der Krieg das Leben zerbombt hat.

Vom Alter her könnte Heinrich vom Spiegelgrund gekommen sein, aus der Psychiatrie. Ein junger Bursch, grad Anfang zwanzig. Blass und knochig, redet fast nixund die Schultern viel zu schmal für seine Läng. Das sagt Lydia, und dass er nicht ganz dicht sei und etwas Lauerndes habe, aber der soll ihr nur dumm kommen, der Heinrich!

Er kommt ihr nicht dumm. Er ist froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, auch wenn es schadhaft ist. Ein Dach kann man flicken. So wie man alles flickt, was Schaden genommen hat. Mit Dragan ist er auf den Schuppen gestiegen, sie haben die kaputten Schindeln leidlich ersetzt, durch alte Bretter, Kisten und eine Autotür, auf die es blechern klopft bei Regen.

Dann liegt Heinrich wach. Mitten inWien, in einem Bezirk, wo zwischen den großen Häusern niedrige stehen und die Straßen frisch gepflastert sind. Wo man sie duldet, die drei, die hinter der Werkstatt leben, weil, es wird geredet, ein Amerikaner hält seine Hand über Lydia. Zu dem geht sie, neidet man ihr den Schuppen. Oder ist es gar Angst vor dem Serben, mit dem sie ein wildes Verhältnis hat?

Soll sein, die Leut sind beschäftigt mit anderen Sachen. Ist sowieso alles noch immer beengt und begrenzt. Jedes Zimmer, jedes Kabinett war lange genug dreifach belegt, man wohnte aufeinander und hatte keinen Platz. Zeit, dass die letzten Ruinen verschwinden.

Mit Eifer wird aufgebaut, werden Lücken geschlossen, und wo sich der Tod noch vor ein paar Jahren die Leichen zu einem fröhlichen Stoß gestapelt hat, wachsen Büsche zur Erbauung. Dort sitzen die Bürger, füttern die Tauben mit Brot, freuen sich am Gurren und Picken und daran, dass ein wenig zum Verfüttern übrig bleibt.

Heinrich besitzt fast nichts. Am Anfang nicht einmal Worte. Man könnte fragen, warum. Nur, was nützt es, einen zu fragen, der keine Antworten gibt? Gut, Dragan ist neugierig wie ein Kater, und dann, im Lauf der Zeit, lernt Heinrich auch wieder zu sprechen. Aber der Serbe ist klug. Und weiß, wie Lydia, man kratzt nicht an frischen Narben.

Gefragt wird generell wenig in den neuen Parks, in den Kaffeehäusern oder in den Wohnungen, die größer werden. Geräumiger. Will man eine Geschichte hören, dann eine schöne. Dafür gehen die Leut ins Kino, in einen Film vom Marischka oder vom Antel. „Saison in Salzburg“, „Hallo Dienstmann“, „Kaiserwalzer“. Darüber verblasstErlittenes, verlieren sich Entbehrungen und Kummer der vergangenen Jahre. Und dass die Stadt besetzt ist und Österreich noch immer nicht frei. Aber lang wird's nicht mehr dauern.

Alles fesch und g'sund, sagen die Filme. Sagen die glänzenden Auslagen in den zahnlückigen Häuserreihen. So soll's sein. Und ist es nicht.

Heinrich hockt drinnen in sich so tief, dass er klarer sieht, seiner Verwirrtheit ganz zum Trotz. Für ihn hat der Krieg noch kein End gefunden, der tobt sich weiter aus. Und wenn sonst keiner kratzt an seinen Narben, Heinrich macht es selbst, bevor sie zuwachsen.

Er glaubt den anderen den Frieden nicht. Späht hinein in ihre Seelen, wo Gewitter leuchten, die man nicht hört. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2015)

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