Zurück führt kein Weg

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Scheinbar zusammenhanglos brechen Wirtschaftsstrukturen, gesellschaftliche Verhältnisse, Umweltprobleme und internationale Konflikte gleichzeitig auf. Ausdruck der Transformation zu einem neuen geschichtlichen Zeitalter? Epochenwende: vom Umbruch der Lebensverhältnisse.

Soeben haben Währungsfonds undOECD die Konjunkturprognosen für das kommende Jahr revidiert. Nach unten. Wieder einmal. Auch fürDeutschland und Österreich, wenn auch nicht sehr. Eher trifft es diesmal die bisher dynamischen Schwellenländer, besonders China.

Warum findet die Politik kein Rezept gegen die Wirtschaftskrise? Die Ökonomenhingegen finden wie gewohnt viele; aber dafür widersprüchliche. 2008 ist die wahnwitzig aufgeblähte Finanzwelt kollabiert. Seitherbleiben die Wirtschaftsdaten in Europa, in den USA, in Japan und auch in China immer weiter hinter dem früheren Trend zurück: kurzatmiges Aufflackern hin und wieder, keintragfähiger Aufschwung. In schlimmeren Fällen Deflation und Rezession.

Die jahrelange Lähmung hat mittlerweile bedenkliche Konsequenzen. In den hoch entwickelten Industrieländern werden 13 Millionen Arbeitslose mehr gezählt als vor der Krise. In einigen Ländern Europas sind ein Viertel oder gar die Hälfte der Jugendlichen als arbeitslos gemeldet; nicht erfasst jene, die von der Meldung beim Arbeitsamt nichts erhoffen und sich „prekär“ durchbringen. Die Zeit, in der sie in ihrer Jugend keiner geregelten Beschäftigung nachgehen konnten, wird ihre berufliche Eignung entwerten und einmal beider Altersvorsorge fehlen. Die Verschuldung der Staatshaushalte hat in Europa im Durchschnitt 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht, was vielfach als kritische Schwelle angesehen wird. Trotz Sparpolitik (oder wegen?) nimmt sie weiter zu. Private und öffentliche Investitionen bleiben aus, obwohl geborgtes Kapital billig ist wie noch nie.

Krise ist nicht überall. In Deutschland brummt der Konjunkturmotor. Die tiefeSpaltung innerhalb Europas stellt die europäische Idee und die Funktionen der Union infrage. Gut qualifizierte Junge wandern aus den Krisenzonen ab ins Zentrum des Kontinents, weniger qualifizierte und Ältere bleiben in den mediterranen Ländern und am Balkan zurück, was dort die Aussichten verschlechtert. Im Süden Deutschlands – auch in Westösterreich – versteht niemand, warum ringsum von Wirtschaftskrise gesprochen wird, wo doch in erster Linie der Mangel an Qualifizierten stärkere Dynamik nicht erlaubt. Europa driftet auseinander. Die deutsche Wirtschaft gewinnt Wachstum und Vollbeschäftigung aus dem Export. Sie erzielt enorme Devisenüberschüsse, größere selbst als China: simple Saldenlogik, dass dieses Rezept nicht auf alle Handelspartner passen kann. Sie machen die Gegenbuchungen: Handelsbilanzdefizite und Kreditaufnahme. Das wird der deutschen Wirtschaftspolitik zum Vorwurf gemacht. Hätten aber die Handelspartner ähnlich kompromisslos der Wettbewerbsfähigkeit den Vorrang gegeben, hätte die deutsche nicht derart das Übergewicht gewonnen.

Die Kaufkraft der Masse der Europäer stagniert oder schrumpft in der Krise. Die Einkommens- und Vermögenssituation klaffen auseinander und polarisieren sich zugunsten schmaler Oberschichten und zulasten des Mittelstandesund der sozial Schwachen. Letztlich zahlen Bezieher von Masseneinkommen und die mit ihnen überwiegend identischen Steuerzahler wehrlos die Zeche: Das ruiniert das Vertrauen in die etabliertePolitik, in Staat und in Demokratie, führt zu Überdruss und Widerstand selbst gegen plausible Reformen und bringt dem politischen Extremismus Zulauf.

Um den Einsturz des Finanzsystems und den nachfolgenden Verlust von Arbeitsplätzen auch in der Realwirtschaft nicht noch mehr eskalieren zu lassen, haben sich viele Staaten hoch verschuldet. Wenn sich nicht wieder mehr wirtschaftliche Dynamik durchsetzt, werden Jahre, wohl sogar Jahrzehnte nicht genügen, die Staatsschuldendurch Sparen auf ein tragbares Niveau zu senken. Denn ab nun wird auch noch Mehraufwand für die Sozialsysteme und für die Umwelt unabweisbar. Die Bildungseinrichtungen, deren Qualität den entscheidenden Systemschlüssel für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts darstellt, werden schon heute zu kurz gehalten und zu eng geführt.

Schicksalhaft fällt die wirtschaftliche Krise mit Entwicklungen zusammen, die eine Erholung zusätzlich erschweren: Längst abzusehen waren die ab nun einsetzenden Effekte der demografischen Alterung. Sie beschränken sich nicht auf die Finanzierung der Altersvorsorge. Dazu das Klimaproblem: Wenngleich in Details noch unsicher, gibt es keine seriösen Zweifel mehr, dass verbindliche Maßnahmen und höherer Aufwand keinen weiteren Aufschub dulden. Schließlich: Ausgerechnet in dieser Situation sind unerwartet politische Konflikte aufgeflammt, haben Bürgerkriege, Brutalität und Menschenjagd in der Nachbarschaft Europas um sich gegriffen und gewaltige Ströme von Flüchtlingen Richtung Europa in Bewegung gesetzt, auf der Suche nach Sicherheit, Frieden und Zukunft. Die erschreckende Erfahrung beginnt gerade, Mittel und Hilfsbereitschaft zu überfordern. Europa kann sich nicht wie bisher auf seine internen Probleme zurückziehen, sondern muss Verantwortung für benachbarte Regionen übernehmen. Ohne erheblichen Mehraufwand wird das in der ohnehin schon angespannten Situation keinen Erfolg haben.

Scheinbar zusammenhanglos brechenWirtschaftsstrukturen, gesellschaftliche Verhältnisse, Umweltprobleme und internationale Konflikte gleichzeitig auf. Das ist keineswegs die „Delle“ der um Beruhigung bemühten Konjunkturprognosen. Hingegen: eingesellschaftlicher Umbruch? Beginn einer säkularen Stagnation mit sehr schwer wiegenden Konsequenzen? Eine umfassende gesellschaftliche Entwicklungskrise, Umbruch der Lebensverhältnisse (WolfgangPetritsch), Ausdruck der Transformation zu einer neuen geschichtlichen Epoche?

Wenn sie gerade wieder einen „Gipfel“ oder einen Wahlkampf absolvieren, beschwören Politiker ihr Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum. Sie wollen glauben machen, über die gottähnliche Fähigkeit zu verfügen, Arbeitsplätze zu „schaffen“. Tatsächlich fällt ihnen dazu nicht viel mehr ein, als gar nicht wenig Kredite und Steuergelder in die Hand zu nehmen und in Tunnels unter den sinnlos herumstehenden Bergen zu vergraben. Als ob davon die Zukunft abhinge. Das wirkt heute nicht mehr wie früher als Initialzündung für den Aufschwung aus der Rezession.

Die Aufgabe ist bei Weitem vielschichtiger. Weder die Politik noch die Bevölkerung akzeptiert bisher die Einsicht, dass eine gänzlich andere, eine epochal neue Situation vorliegt. Ahnungen und Ängste breiten sich aus. Wenn ein Politiker verspricht, dafür zu sorgen, dass alles wieder so wird „wie früher“, fliegt ihm die Zustimmung der Bevölkerung zu. Nur: Zurück führt kein Weg, und der in die Zukunft ist nebelverhangen, umstritten und jedenfalls mühsam.

Ein so hartnäckiger Rückschlag ist seit der Weltwirtschaftskrise vor 85 Jahren nicht mehr aufgetreten. Die führte damals in eine schreckliche Katastrophe. Freilich sindwichtige Umstände heute anders: Insgesamt ist die Gesellschaft viel wohlhabender, die Bildung angehoben, soziale Sicherheit und private Vorsorge sind ausgebaut. Gar nicht wenige sind reich oder noch reicher geworden: Dicke Hochglanzbroschüren für Luxusuhren ab 10.000 Euro liegen jeder Zeitung bei. Man begnügt sich auch nicht mehr mit einem Golf, sondern braucht einen SUV. Der bedeutend höhere materielle Wohlstand macht Massenverelendung wie damals vermeidbar. Aber auch dieses Mal sind wachsende Schichten der Bevölkerung von Armut betroffen.

Obwohl die seismischen Erschütterungen von Amerika ausgegangen sind und in allen Teilen der Erde spürbar waren, scheint der „alte“ Kontinent Europa als Epizentrum der Krise. Handelt es sich eher um eine Krise Europas oder doch um eine Trendwende der Weltwirtschaft? Vor allem aber: Kann die Situation überhaupt als Wirtschaftskrise verstanden und primär wirtschaftspolitisch behandelt werden?

Die Krise gefährdet das noch unfertige Projekt der Europäischen Union. Sie stieß nicht nur an wirtschaftliche und finanzielle, sondern mehr noch an Grenzen des „immer engeren Zusammenschlusses der Europäer“. Die Auffassungen von der „Finalität“ des Projekts könnten unterschiedlicher nicht sein, je nachdem, ob man auf die Union von den Ufern der Themse, der Spree oder der Seine blickt. Vom Ufer der Donau blickt man gar nicht; abgesehen von düsteren Ansichten aus Budapest.

Schon immer wurden Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik in Deutschland anders gesehen als in den meisten Mitgliedsländern. Zähe Auseinandersetzungen, Missverständnisse und faule Kompromisse waren die Folge. Die Maastricht-Kriterien sind ein solcher. Deutschland als stärkstes Mitglied, ohne das die EU nicht denkbar ist, vertritt „Ordnungspolitik“. Anderswo wird das pragmatischer, weniger doktrinär gesehen. Daran sind bisher praktikable, doch unerlässliche institutionelle Voraussetzungen für eine stabile Währungsunion gescheitert. In Griechenland sind fatale Traditionen des politischen Systems bis an den Rand des Abgrunds völligen Staatsversagens eskaliert. In extremis konnte das Land von den widerstrebenden Partnern aufgefangen werden: Zeitgewinn, nicht die Lösung des Problems.

Der rasch alternde europäische Wohlfahrtsstaat ist von der Krise unmittelbar bedroht. Sein Leistungsniveau aufrechtzuerhalten wird rasch zunehmenden Aufwand erfordern. Da die weltweite Konkurrenz wirklich keinen Anstieg der Sozialkosten mehr erlaubt, erscheinen Abstriche an den individuellen Ansprüchen unvermeidlich. Das belastet Solidarität,Akzeptanz und Fairness innerhalb der heutigen Gesellschaft und zwischen aufeinander folgenden Generationen.

Nach Jahren, in denen steigende Lebenserwartung eine „demografische Dividende“ abgeworfen hat, drehen sich die Effekte der demografischen Generationenablöse, wie längst vorhergesehen, ins Gegenteil. Da geht es nicht nur um Pensionsfinanzierung. Aber auf der anderen Seite sind positive Optionen auf „mehr Leben in die Jahre“ statt „mehr Jahre ins Leben“ noch wenig geläufig. Während die sozialpolitische Tagesdebatte noch realistische Einschätzungen unter den Teppich kehrt, weil sie vor unpopulären Schritten zurückscheut, übersieht sie, dass sich Generationenkonflikte in der verunsicherten Gesellschaft vor allem der europäischenWohlfahrtsstaaten aufschaukeln können. Um zu erkennen, dass das „Jahrhundert heller wird“, muss man sich schon sehr bemühen.

Dennoch beschränken sich die Entwicklungen, die in die Krise führten, keineswegs auf Europa. Das früher so erfolgreiche Japan sucht mittlerweile schon zweieinhalb „verlorene Jahrzehnte“ nach Auswegen aus einer ähnlichen Krise. Auch die hat der Zusammenbruch einer hemmungslosen Immobilienspekulation gezündet. Die frühere Dynamik endete abrupt und auf Dauer. Seither haben sich Mechanismen der Stagnation und wohl auch die Erschütterung des Vertrauens in die Zukunft verfestigt. Eine Kultur- und Generationenablöse läuft ab. Was wäre, wenn auch Europa zweieinhalb „verlorene“ Jahrzehnte bevorstünden? Auf die eigentlichen Schicksalsfragen bleiben Ökonomen eindeutige Antworten schuldig. Natürlich haben sie mit der Reparatur ihrerbeschädigten Denkmodelle begonnen. Dass die doktrinäre Deregulierung des Finanzsystems seit den Achtzigerjahren fatale Risiken übersah, ist mittlerweile anerkannt. Entgegen der neoklassischen Doktrin hat sich das Finanzsystem als immanent labil und störungsanfällig erwiesen. Riesige Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen und mangelnde währungspolitische Koordination haben als Nährboden eine Rolle gespielt. Aber erst einseitige Ideologie, fahrlässige Lockerung der Kontrolle, irrationale Euphorie, unkalkulierbare Risiken, systemische Ansteckung und Multiplikatoren konnten so verheerend wirken.

Historisch hat überzogene Finanzspekulation schon oft besonders hartnäckige Wirtschaftsrückschläge ausgelöst. Der Verlust an Vertrauen – „Kredit“ kommt vom lateinischen „credere“ = „Vertrauen schenken“ – ist nicht kurzfristig zu beheben und bewirkt andauernde Risikoaversion und Zurückhaltung bei Investitionen. Die Volkswirtschaften sind einer „balance sheet recession“ ausgesetzt. Priorität hat „De-Leveraging“: Staat, Unternehmen und Private müssen den Überhang ihrer Finanzrisiken abbauen. Die Weltwirtschaft leide nach der Überdosis lockerer Kredite derzeit an einem heftigen „Kater“, aber sie liege nicht im Koma, meint Kenneth Rogoff. Sind die dämpfenden Effekte des De-Leveraging einmal überwunden, spreche wenig gegen einen neuen Aufschwung.

Larry Summers stellte dagegen die unheimliche Hypothese einer „säkularen Stagnation“ in den Raum. Sofort zerfiel, wie üblich, die Welt der Ökonomen in gegensätzliche Lager: Geringe Nachfrage sei die Ursache. Aus mehreren Gründen werde zu viel gespart und zu wenig investiert: eine „keynesianische“ Situation, die im Prinzip durch tollkühne Ausweitung der ohnehin hohen Schulden behoben werden könne. Das andere Lager vermutet retardierende Tendenzen auf der Angebotsseite. Der Produktivitätsfortschritt werde geringer. Kreativität sowie Risikobereitschaft nähmen in einer alternden Gesellschaft ab, der Anstieg des Bildungsniveaus nach dem Krieghabe sich verflacht.

Aber schon 1987 rätselte Robert Solow über die paradoxe Beobachtung: „Wohin man blickt, sieht man die Computer, nur nicht in der Wirtschaftsstatistik.“ Wo bleiben die Wirkungen der Cyberwelt, der mobilen Personal Computer und des Internet? Vielleicht hat der technische Fortschritt eher Unterhaltung und Spieltrieb als die Produktivität gefördert? Oder: Ist etwa die konventionelle Messung der Wirtschaftsleistung (durch das Konstrukt Bruttoinlandsprodukt) auf längere Sicht schlicht falsch: weil sich „Qualität“ regelmäßig der statistischen Erfassung verweigert? Der Umsatz der Supermärkte ist ein irreführender Indikator für Qualität des Lebens.

Sehr gefragt ist heute die Hypothese, die Wachstumskrise sei der Preis für zunehmende Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Einkommen aus Kapitalbesitz wachsen rascher als Arbeitseinkommen, und Kapitalbesitz konzentriere sich immer mehr auf schmale Oberschichten (Thomas Piketty). Die moderne Gesellschaft sei der Machtergreifung durch die Finanzbranche erlegen (Joseph Stiglitz). Sie zahle den Preis dafür in Form schreiender Ungleichheit, Umweltschäden, Arbeitslosigkeit und schließlich in einem Werteverfall, der das stoisch hinnimmt.

Konträre Hypothesen zur anhaltenden Stagnation überraschen nicht. Sie schließen sich auch nicht gänzlich aus. Auch in derWirtschaftswissenschaft lassen sich Probleme selten monokausal und kaum je in der Hochreinatmosphäre der abstrakten Theorie erklären. Mehrere Komponenten kamen zufällig oder systematisch zusammen. Die Stagnation der Wirtschaft ist nicht allein das Resultat einer Finanzkrise. Sie ist mehr als ein Konjunkturproblem,das mit herkömmlicher Wirtschaftspolitik zu behandeln wäre. Sie ist derauf ökonomische Dimensionen reduzierte Ausdruck einer vielschichtigen, fundamental veränderten gesellschaftlichen Realität: eines Umbruchs, einer Epochenwende, eines historischen Paradigmenwechsels. Schon längst schwelende Entwicklungen wurden durch den Finanzkollaps brisant. Bald nach der Jahrhundertwende – Nine-Eleven (2001), Nine-Fifteen (2008), nur wenige hundert Meter voneinander entfernt – markierten Donnerschläge ein neues Zeitalter.

Die moderne Gesellschaft ist in eine Epoche sprunghaft erhöhter Komplexität eingetreten: Probleme treten gehäuft, vernetzt, intransparent und mit unkontrollierter Eigendynamik auf. Vor allem nationale Institutionen sind dem nicht gewachsen. Zwar ist die Krise durch fatale wirtschaftspolitische Fehler und Ignoranz erst möglich geworden. Aber die Welt und die Situation der modernen Menschen in ihr haben sich verändert: Globalisierung betrifft nicht nur wirtschaftliche Interessen. Sie beeinflusst Lebensumstände auf allen Ebenen, macht scheinbar weit entfernte Zusammenhänge unmittelbar, stellt unvorstellbare Mengen an Information (Big Data) überall auf der Welt bereit. Und schränkt dennoch die Sicht auf die Zukunft ein. Sie blockiert Politik für das Gemeinwohl und Weitsicht.

Gewiss sind revolutionäre neue Technologien absehbar. Keine Frage, dass sie für manche akuten Probleme Lösungen bieten: etwa die Einschränkungen überwinden, denen die Nutzung von Energie heute noch unterliegt. Naturwissenschaftlicher Fortschritt wird aber nicht genügen, zumal in der Risikogesellschaft technologische Lösungen regelmäßig neue Risken mit sich bringen.

Entscheiden wird Fortschritt im Zusammenleben der Menschen: gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Fortschritt. Die Wirtschaftswissenschaft arbeitet eifrig an Modellen, die postmodernen Einsichten Rechnung tragen und die simultan wirtschaftliche, soziale und ökologische Rahmenbedingungen („ökosozial“) optimieren können. Die OECD, die Organisation der Industriestaaten, stellt, um verlorene Relevanz wiederzuerlangen, neue Ansätze zur Diskussion (NAEC 2015): da werden Unsicherheit, systemische Risiken und Spill-over, Netzwerkeffekte und komplexe adaptive Modelle, neue Ansätze der öffentlichen Steuerung („governance“) diskutiert sowie die Ablöse der fatalen Beschränktheit der Konvention „Bruttoinlandsprodukt“ durch „Lebensqualität“. Und, endlich doch: „Einsichten aus anderen Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Geografie und Geschichte“. Nein, keine Ent-Ökonomisierung der OECD. Aber immerhin „Ansätze“.

Genügt das? Ohnehin beschert die Sinn- und Perspektivlosigkeit der materialistischenKonsumgesellschaft dem Gewerbe der Philosophen eine auffallende Hochkonjunktur. Nun urgieren noch dazu die Flüchtlingsströme unerwartet, aber gebieterisch Antworten auf die Frage: Wohin? Was könnte, was sollte „Fortschritt“ im 21. Jahrhundert bedeuten? Wie weit könnte De-Materialisierungder Werteskalen tragen? Könnten damit die Grenzen des Wachstums überwunden werden? Oder kämen mühsam gewonnene Einsichten zu spät? Das „Anthropozän“, das Zeitalter des menschengemachten Kurses des Raumschiffs Erde, wirft verdammt schwierige Fragen auf. Das wird noch ein langer Lernprozess. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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