Drama? Nur auf der Bühne!

„Ich will Produktionen für diese Stadt machen, das interessiert mich viel mehr als eine spektakuläre Starbesetzung.“ Nora Schmid, Leiterin des Grazer Opernhauses, über das Zuhören, ihre Gesangsausbildung und das „Natürlichste der Welt“ – „ein Kind zu haben“. In der Reihe Österreichs Intendantinnen im Gespräch.

Dergleichen passiert vermutlich nur Frauen an Intendantenstellen. Spazierte doch neulich ein unbekannter Mann, einen Blumenstrauß in der Hand, ganz ungeniert in die Direktionsetage des Grazer Opernhauses, um der Frau Direktorin persönlich mitzuteilen, wie sehr ihm die Aufführung gefallen habe. Nora Schmid erzählt die Episode mit einem leisen Unterton der Entrüstung. Aber seit sie im November 2014 an ihre neue Wirkungsstätte übersiedelt ist, musste sie sich an Popularität gewöhnen, und dass die Grazer sehr kontaktfreudig sind und keine Berührungsängste kennen, hat durchaus sein Gutes. Sie bekommt spontane, authentische Rückmeldungen, wenn sie in der Früh über den Markt auf dem Kaiser-Josef-Platz geht, und genießt insgesamt das schöne Gefühl, dass das Opernhaus grundsätzlich geschätzt wird. „Ich spüre, wie stark das Haus in der Region verankert ist, und dass es für die Menschen eine Bedeutung hat, selbst für jene, die keine Vorstellungen besuchen. Das ist eine gute Basis“, freut sie sich über das offene kulturelle Klima der Stadt und über die „ausgesprochen gute Resonanz“, die sie auf ihren Saisonstart bekommen hat.

Acht bis 15 Stunden dauern die Arbeitstage von Nora Schmid. Ihre Wohnung befindet sich in Gehweite, das war ihr wichtig, damit sie rasch und unabhängig von Verkehrsmitteln zu Hause sein, aber auch rasch wieder ins Theater zurückkehren kann, wenn nötig. Vor ihrem Amtsantritt hat sie auch im Privatleben wichtige Entscheidungen getroffen, hat geheiratet und ein Kind bekommen. Ihr Mannist als Kulturmanager viel unterwegs, und sie ist glücklich, dass sie für den knapp zweijährigen Sohn problemlos einen Platz in einer Kinderkrippe gefunden hat, „wo er noch dazu sehr gern hingeht“. Für verlässliches Back-up in der Betreuung sorgen die Großmütter aus Bern und aus Wien, die jeweils für längere Perioden in Graz Quartier nehmen.

„Ich glaube schon, dass es für Frauen früherer Generationen viel schwieriger war, Beruf und Familie zu vereinbaren“, räumt sie ein, „aber es gehört doch zum Leben dazu, und es ist das Natürlichste der Welt, ein Kind zu haben. Ich sage immer, dass wir im Theater Geschichten vom Leben erzählen. Da kann man das nicht kategorisch ausschließen!“ Wirklich anstrengend sei nur die Vorbereitungszeit gewesen, in der sie mit dem Baby zwischen ihrer früheren Arbeitsstätte in Dresden und Graz hin- und her pendeln musste.

Wenn Nora Schmid von ihrem Werdegang spricht, ist viel von glücklichen Zufällen die Rede, von „Begegnungen, aus denen sich etwas entwickelt hat“: „Es gab immer wieder Menschen, die mir etwas zugetraut haben“, sagt sie, und zählt diplomatisch Namen auf. Nach Studienabschluss war sie zunächst am Institut für Musikwissenschaft in ihrer Heimatstadt Bern tätig, ehe sie in die Praxis ging: Auf Jobs im Orchestermanagement bei der Basel Sinfonietta und in der Marketingabteilung der Berliner Staatsoper Unter den Linden folgte ihre erste Position als Musikdramaturgin am Theater Biel Solothurn. Von dort wechselte sie 2007 ans neue Opernhaus im Theater an der Wien, wo sie in Kontakt mit großen Künstlerpersönlichkeiten kam. Den entscheidenden Schub brachte wohl die kurze Arbeitsbeziehung mit Ulrike Hessler, die Nora Schmid zu ihrem Amtsantritt als Intendantin der Semperoper 2010 als Chefdramaturgin engagierte. „Ich war ihr mehrfach empfohlen worden, sowohl von Regisseuren als auch von Dirigenten und von organisatorischer Seite“, lässt Schmid einen Hauch von Stolz erkennen. Trotzdem hat sie sorgfältig überlegt, und Hessler habe ihr für die Entscheidung „viel Zeit gelassen“.

„Ich bin für vieles eingesprungen“

Der Wechsel vom Stagione-Betrieb in Wien an das renommierte Repertoire-Haus in Dresden sollte ein großer Neustart werden. „Ich war überzeugt, dass ich dort Wurzeln schlagen werde“, sagt Nora Schmid. Sie genoss die vertrauensvolle Atmosphäre im engen Austausch mit der Intendantin, die sie als „eine Mischung aus Chefin, Freundin und Mutter“ erlebte, und stürzte sich in die vielfältigen Aufgaben, freute sich darauf, gemeinsam mit Komponisten Auftragswerke zu entwickeln und neue Formate für Konzertreihen zu konzipieren. Doch dann erkrankte Ulrike Hessler schwer. „Wir haben ein Interims-Team gebildet, und ich bin für vieles eingesprungen, war in ständigem Kontakt mit ihr, aber sie hat mir gefehlt“, erinnert sich Nora Schmid an die unruhige Zeit, in der sie als Hesslers persönliche Referentin mit vielen zusätzlichen Agenden konfrontiert war. „Wenn schon eine leitende Position, dann richtig und unter anderen Voraussetzungen“, dachte sie damals im Stillen, ohne jedoch konkrete Überlegungen anzustellen. Als Hessler im Juli 2012 starb, war die Situation traurig und unklar.

„Eigentlich habe ich nie den Entschluss gefasst, aus Dresden wegzugehen, und es gibt auch nicht viele Häuser, die ich mir hätte vorstellen können“, meint Nora Schmid im Rückblick. „Es war wirklich eine Häufung von Zufällen.“ Sie hatte die Grazer Oper seit den 1990er-Jahren mit Interesse beobachtet, hatte in ihrer Wiener Zeit manchmal Aufführungen besucht und angenehme Wochenenden in der Stadt verbracht, und an der Semperoper hatte sie bereits zwei Koproduktionen mit Regisseur Stefan Herheim betreut. Das Terrain war nicht fremd, die Atmosphäre sympathisch, das schöne Haus – mit 1400 Plätzen immerhin das zweitgrößte Österreichs – beeindruckend. Und dann war sie auf Urlaub in Österreich und erfuhr zufällig aus der abendlichen „Zeit im Bild“, dass die Grazer Opernchefin Elisabeth Sobotka zur Intendantin der Bregenzer Festspiele bestellt worden war. „Aha, dachte ich, wie geht's jetzt in Graz wohl weiter? Später habe ich die Stellenausschreibung in der ,Zeit‘ gefunden. Den Ausschnitt habe ich lang mit mir herumgetragen. Lustigerweise wurde ich dann aus meinem persönlichen Umfeld mehrfach darauf angesprochen, ob das nicht etwas für mich wäre, und irgendwann dachte ich: Bewerben kannst dich ja.“

Sie tat es mit der Professionalität der Dramaturgin, als die sie sich auch weiterhin fühlt: „Ich liebe diesen Beruf und gehe vieles aus dieser Perspektive an, wenn ich überlege, wer welches Stück machen soll und warum. Und mich interessiert der Ort, für den ich Theater mache. Ich will Produktionen für diese Stadt machen, das interessiert mich viel mehr als eine spektakuläre Starbesetzung.“

Dementsprechend legte sie nach gründlicher Beschäftigung mit der Geschichte des Grazer Opernhauses mit ihrer Bewerbung maßgeschneiderte Musterspielpläne vor. Im April 2013 wurde die damals 35-Jährige unter 43 Kandidaten, von denen 19 ins Hearing kamen, einstimmig zur geschäftsführenden Intendantin bestellt, mit einem Vertrag für fünf Spielzeiten. Was denkt sie selbst, warum man sich für sie entschieden hat? Sie zögert. „Ich denke, ich habe glaubhafte Begeisterung vermittelt, ich hatte sehr klare Ideen, und ich habe offenbar den Eindruck erweckt, dass ich mich nicht scheue, meine Vorhaben auch umzusetzen.“

Für die unerlässliche Verschränkung des Künstlerischen mit dem Wirtschaftlichen bringt die Musikwissenschaftlerin, die miteinem Budget von 28 Millionen Euro in der ersten Runde zehn Neuproduktionen auf die Beine stellt, dank eines Studiums der Betriebswirtschaft beste Voraussetzungen mit. Sie hatte seinerzeit lange überlegt, ob sie ans Theater gehen oder doch etwas ganz anderes machen sollte. „Es gab so vieles, was mich interessiert hat: Medizin, Architektur, Mikrobiologie . . .“ Die Entscheidung fiel, als sie entdeckte, wie viele Tätigkeitsfelder sich im Theater hinter der Bühne eröffnen – und dann fand sie, dass ein wirtschaftlicher Background nicht schaden könne. Eine Schlussfolgerung, die man an der Universität Bern nicht ohne Weiteres nachvollziehen konnte. Die gewünschte Studienkombination war nicht vorgesehen, und sie musste ihre Begründung in einem schriftlichen Gesuch darlegen. Sie lacht. „Da war ich ein komplizierter Fall. Ichhabe aber nicht locker gelassen. Das war eine wichtige Erfahrung: Dass man bei der ersten Hürde nicht gleich aufgeben soll.“

Hinter der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der Nora Schmid ihren Karrieresprung gesetzt hat, steckt aber auch eine Menge Arbeit auf der menschlich-empathischen Ebene: „Es braucht viel Engagement, viel Hinhören, Nachfragen, Überdenken, Beobachten, vielleicht auch Ausgleichen, Moderieren,manchmal muss man auch einstecken, darf nicht alles persönlich nehmen“, umschreibt sie die nicht messbaren Anteile erfolgreichen Kulturmanagements.

Für diese Fähigkeiten war die profunde musikalische Ausbildung wesentlich, die sie genossen hat. „Während meiner Gesangsausbildung habe ich viel über mich gelernt. Wenn ich wo angerannt bin, war das nicht immer ein technisches Problem, sondern es gab sonst wo einen Knoten. Das schärft die Wahrnehmung.“ Noch tiefer als das Singen hat sie aber das Geigenspiel geprägt, das sie ab ihrem vierten Lebensjahr fast 20 Jahre hindurch begleitet hat. Sie war auch im Orchester und hat Kammermusik gemacht. „Da lernt man, aufeinander zu hören. Man kann nicht musizieren, wenn man nur die eigene Stimme spielt. Ein sehr erfahrener Intendant hat mir im Privatgespräch kurz vor seiner Pensionierung anvertraut, dass er erst viel zu spät gemerkt habe, wie sehr es aufs Zuhören ankommt.“

„Theaterarbeit ist Teamarbeit“

Auf eine Einschätzung, ob sich Frauen in Führungspositionen anders verhalten als Männer, mag sie sich aber nicht einlassen. Für sie selbst steht eines fest: Mit jener Spezies von Intendanten, die sich so sehr an ihren künstlerischen Visionen berauschen, dass der „Betrieb“ mit den Menschen, die ihn am Laufen halten, auf der Strecke zu bleiben droht, hat sie nichts gemein. „Wir haben so viel Drama auf der Bühne, wir brauchen das nicht auch noch hinter den Kulissen.“ Würde sie im Krisenfall eine Inszenierung selbst in die Hand nehmen oder auf andere Weise künstlerisch in Erscheinung treten? – „Sicher nicht!“ Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Theaterarbeit ist Teamarbeit, die muss ich beobachten und begleiten. Ich bin präsent und ansprechbar, die Leute sollen wissen, sie können kommen, wenn es ein Problem gibt, sie können angstfrei kommen, und was in meinem Büro besprochen wurde, bleibt in diesen vier Wänden.“

Was das Sängerensemble betrifft, hat sich Nora Schmid „bewusst für ein paar Wechsel entschieden“. Der erfolgreiche steirische Bariton Markus Butter ist auf diese Weise endlich zum überfälligen Grazer Debüt gekommen. Im Orchester hat Nora Schmid die vakante Position des ersten Konzertmeisters wieder besetzt; Robin Engelen hat sich inzwischen bei zwei Premieren auch als Dirigent bewährt. Ein gelungener Wechsel erfolgte nicht zuletzt mit der Verpflichtung des neuen Ballettchefs, Jörg Weinöhl, den Schmid als Tänzer aus der Compagnie von Martin Schläpfer kennt, als diese noch in Bern aktiv war.

Dass sie Spaß daran hat, sich mit den Teilbereichen des Operngenres auseinanderzusetzen, merkt man dem Spielplan an. Unter den Musiktheater-Premieren dieser Saison finden sich die Grazer Erstaufführung (!)von Verdis „Luisa Miller“ ebenso wie pfiffige Musicals und die Operette „Der Opernball“ des Grazers Richard Heuberger. – Beim traditionsreichen Ballereignis des Hauses, der Grazer Opernredoute, wird die passionierte Tänzerin Nora Schmid wohl ebenfalls gute Figur machen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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