Durch das Feld, durch das Land

„Last Shelter“: Zu Gerald Igor Hauzenbergers Dreijahres-Dokumentation über Flüchtlinge in Österreich.

In Spielfeld, auf einem Platz an der österreichischen Staatsgrenze, gingen im Zickzack zwischen den vielen Zäunen zwei Clowns, die in diesem November in der nahen Stadt den „Coriolanus“ übersetzen und proben, denen soeben, als sie noch ungefähr aussahen wie Coriolanus, ein Polizeioffizier das Betreten des Platzes untersagt hatte. Genauer gesagt untersagt hatte, den Aktionsraum zu betreten, draußen vor dem weißen Zelt, in dem die Helfer arbeiteten und den vielen Ankommenden, den Zeitzeugen der Welt, den Kriegs- und Reisemüden, den Pilgerinnen und Pilgern Speisen und Getränke zubereiteten: Bevor Sie weiterarbeiten, hören Sie mir bitte zu – es ist allen Mitarbeiten von Rotem Kreuz und TWO streng verboten, den Aktionsraum vor dem Zelt zu betreten.

Zwei Mitköche, zwei Freiwillige oder Willige, zwei Ehrenamtliche, clownfähig wie alle Menschen auf der Welt, nahmen sich zwei Besen und sprachen mit dem Offizier: In dem Aktionsraum liegen Brotreste, Verpackungen, Mineralwasserflaschen, Taschentücher, zertretene Kekse, irgendetwas Cremiges und noch andere Dinge. Wir möchten den Platz kehren und sauber machen und vorbereiten, für die Nächsten, die sich dort niederlassen werden und auf dem Asphalt sitzend ihr Essen zu sich nehmen. Machten die zwei Straßenkehrer den Aktionsraum wieder zu einer Straße zwischen slowenischem und österreichischem Zollgebäude? Machten sie die Straße zu einem sauberen Essplatz, zu einem vorbereiteten provisorischen Tisch. Tisch oder Aktionsraum, Straße der Hände, Straße der Pilger? Tisch unter freiem Himmel – kein Dach über dem Kopf(aber der Körper hat doch mehr als einen Kopf?), aber Asphalt unter dem Arsch. Und was für ein Asphalt, der nicht riecht wie Asphalt. In den Tisch gesickert und getrocknet Urin. Heute ist es ein ruhiger Tag für die etwa 30 Köchinnen und Köche, genug für mehr als 2000 Portionen wird heute ohne Eile gekocht, 300 um die Mittagszeit, 600 am Nachmittag, am Abend sind 1000 bis 1600 Reisende angekündigt. Am nächsten Morgen steht in der in der nahen Stadt erscheinenden Tageszeitung die Schlagzeile: „Neuer Ansturm: So rüstet sich Spielfeld.“

SMS an den Filmregisseur, der soeben „Last Shelter“ abgeschlossen hat und in Wien uraufführt: lieber i, ich arbeite gerade in spielfeld in der grenzküche. morgen werden viele tausend reisende hier erwartet. heute sind es „nur“ 2000. du solltest hier filmen, glaube ich. viel viel viel hilfe. – Antwort, als wäre es schon in Gedanken abgemacht: Ich war vorgestern in Spielfeld und habe jetzt zwei Tage lang in Kroatien recherchiert und werde morgen wieder gegen 13:00 in Spielfeld sein. – SMS an den Regisseur: bist du noch in spielfeld? in der schrift über deinen film möchte ich über den grenzübergang spielfeld schreiben und die fortsetzung deiner arbeit. – Antwort: Ich bin schon wieder in Wien, Spielfeld macht für mich mehr Sinn ohne Kamera: Einfach mithelfen, wo es notwendig ist. Das habe ich auf meinem Radar für Ende November. – lieber i, es ist gut möglich, dass es die two-küche in spielfeld in wenigen tagen nicht mehr geben wird und zivilgesellschaftliche hilfe nicht mehr möglich sein wird. die regierung versucht eine militarisierte zone zu schaffen. vielleicht sollte man die außerordentliche arbeit der two-küche dokumentieren.

Akt 1, Szene 1, „Last Shelter“, Film von Igor Hauzenberger: Vor der mit einem Schlagbaum geschlossenen und von blau uniformiertem Wachpersonal bewachten Einfahrt in das große Lager in Traiskirchen, die ein paar Sekunden später noch verschlossener sein wird, indem die Wachen die Tore schließen, stehtein kleiner Lastwagen. Umihn herum eine Schar von Rednern und Rufenden. An den ums Lager laufenden Zaun sind in Abständen von einigen Dutzend Metern kleine Tafeln angeschraubt, darauf ist zu lesen die an Genitiven reiche „Verordnung des Gemeindeamtes der Stadtgemeinde Traiskirchen über das Verbot des Übersteigens der Einfriedung der Betreuungsstelle Traiskirchen“, erlassen am 31. Oktober 1994. Die Worte der Rufenden und Redner – Urdu und Englisch – übersteigen unsichtbar den Zaun und das geschlossene Tor. Die Worte und Rufe sind keine Personen – Para. 2: „Das Übersteigen der Einfriedung der Betreuungsstelle Traiskirchen ist sowohl fremden Personen als auch den Bewohnern der Betreuungsstelle verboten.“ Oder ist das Übersteigen doch sichtbar, wir haben es ja mit einem Film und mit Bildern zu tun? Die Worte fliegen ins Lager hinein und in die offenen Fenster. Bald ist eine Schar versammelt auch auf der anderen Seite des Zauns. In diesem Augenblick, am Anfang von „Last Shelter“, fliegt ein Ball über das Tor, es ist, glaube ich, ein Spielzeugball, und die Einfahrt wird für kurze Zeit zu einem Spielplatz. Was wird auf Spielplätzen, Spielfeldern, in Spielen sichtbar? Dieser Ball ist kein Spielball, kein Spielball der Mächtigen. Man kann es auch so sagen: Der Spielball der Mächtigen ist gar kein Spielball. Der Ball in Traiskirchen bringt alle zum Fliegen, auch die, die im Kino sind. Er hebt alle über die Zaungrenze. Es ist vielleicht ein Clown gefunden. Ein Clown ist kein Zaun.

Dem wieder unsichtbar gewordenen Ball,dem anders sichtbaren Ball und dem Fliegen über die gezogene Grenze begegne ich in der Votivkirche in Wien wieder, die kurz vor Weihnachten 2012 zur halb verbotenen, fast illegalen neuen Aufnahmestelle für die Grenzgänger aus dem Lager wurde, 30 Kilometer entfernt von jener offiziellen „Erstaufnahmestelle (EAST) Ost“ in Traiskirchen – obgleich das ein paar Hektar große Lager nicht klein genug ist, um eine Stelle zu sein, und auf den kleinen Verbotsschildern, die rund um die Betreuungsstelle am Zaun hängen, zu lesen ist, dass die Kletterer in den „überwiegenden Fällen an schwer einsehbaren Stellen“ über den Lagerzaun oder Stellenzaun klettern. Eine Zaunstelle übrigens ist ein kleines Gestell zum Überschreiten.

Über die Grenze sprechen – über die Grenze gehen: „When we were putting our mattresses here, we got some worst sayings from the priest. He said: You are Muslims, why are you not going inside your mosque? Why you come inside the church?“ S. K.s Ratlosigkeit bei diesen Worten. Er fragt: Wie ist der Name Ihres Gottes? – Antwort: Gott. – Der Name meines Gottes ist auch Gott. Dieses ist Gottes Haus. – Ich denke mir, Igor Hauzenbergers Kamera ist ein Ball, sie kann fliegen. Siebraucht Hände, um fliegen zu können. Sie ist in dieWiener Votivkirche hineingeflogen. In der Kirchefliegen die Worte vonW.s pashtunischem Lied, übersetzt bedeuten sie: „Nach unendlich langerZeit fern der Heimat / bekam ich einen Brief. / Ich bekam einen Brief aus meiner Heimat.“

Wird eine Grenze gezogen, in dem Gespräch während des langen Hungerstreiks in der Votivkirche, und wird sie vom Gesprächspartner wieder geöffnet? Es sprechen zwei, die ihre Verantwortung wahrnehmen und die Verantwortung nicht mehr tragen können, denn die Hungerstreikenden setzen ihreGesundheit und ihr Leben aufs Spiel: „We cannot assume the responsibility that some of you die here. Then I go to prison. Then I am in prison! Do you understand?“ Es antwortet ihnen A. K., mit geschwächter Stimme, nein, mit lebenslustiger Stimme, und er spricht anders vom Sterben. Auf die Sorge des anderen, if you die I go to prison, antwortet A. K.: „Then better that we all go on the road and then we die all together.“ Sterben, um den anderen zu schützen? Spricht ein Clown, ein Evangelist die Worte? Steht A. K. auch in diesem furchtbaren Moment auf einem Spielfeld, hat er den seltsamsten Spielraum der Welt?

Der andauernde, strafende Orgelton, S. macht ihn zum Mitspieler. Den andauernden Ton wendet S. kurzerhand um in das Überdauern, in stamina, die Kraft, Erschöpfung und Entbehrung zu überdauern – the capacity to permanence. Der Orgelspieler, der vier oder fünfmal Woche für Woche die Treppe hinaufsteigt zu seinem Instrument, spielt nicht – es sind die Hungerstreikenden in der Kirche, die spielen, mit dem Organisten spielen. Und es ist S., der dann vor der Kirche, nahe begleitet von der durch die Grenze fliegenden Kamera, eingezäunt wird, von einer Menschenmauer eingesperrt wird, als er auf dem Rückweg zur Kirche ist, von einem Gespräch im nahen Kaffeehaus. Der abgemagerte junge Mann steht eingesperrt in der Mitte von Polizisten und Polizistinnen, Polizeibeamte in Zivil sind auch da, er ist wieder in einem Lager, im allerkleinsten, auf dem Roosevelt-Platz in Wien. Bei einer sofortigen Überprüfung stellt sich heraus, dass S. K. kein Aufenthaltsrecht hat, er wird auf der Stelle verhaftet. Der friedliche Mann kommt in Schubhaft und wird angezeigt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.

In „Last Shelter“ sind die Behörden schweigsam. Es scheint, dass sie es aus gutem Grund sind. Sie haben keine Sprache, keine solche schöne wie die Refugees und Pilger. Einmal spricht ein Vertreter der Behörde, der Leiter der Pressestelle der Polizei, schon wieder eine Stelle, die kaum klein genug ist, um eine Stelle zu sein: „Grundsätzlich ist die Caritas, die hier diese Abzuschiebenden laufend unterstützt hat, davon in Kenntnis, dass für jene acht Personen die Asylbescheide rechtskräftig negativ beschieden worden sind. Sie sind auch davon in Kenntnis, weil sie ja immer wieder bei den Besprechungen mit dabei waren, dass diesen Personen eben zur freiwilligen Ausreise geraten wurde, ihnen auch aufgezeigt wurde die Art und Weise, wie dieses am besten möglich ist, und deswegen kann ich eine gewisse Aufregung nicht ganz verstehen.“

Als es zu dieser Umzingelung und Verhaftung kommt, erlaubt sich der Film, nur dieses eine Mal, eine genaue Zeitangabe. Unten links im Filmbild steht: Zwei Stunden später. Zwei Stunden sind vergangen – seit wann? Seit der Bestrafung, seitdem J. und S. in der Kirche über die strafende Orgel gesprochen und mit ihr gespielt haben? Bloß zwei Stunden nach der Orgelstrafe wird S. draußen vor der Kirche bestraft. Der Spaßmacher wird verhaftet . . .

Zollamt Nickelsdorf, 5. September 2015. M. geht zwischen den Pilgern und geht zu einzelnen hin. Dem einen schüttelt er während des Gesprächs die Hand, dem anderen klopft er auf die Schulter. Ich erinnere mich an die Straße der Hände in Spielfeld. Im Spielfelder Pilgerzug haben einige eine Hand gelegt auf die Schulter der vor ihnen gehenden Person. Vor dem österreichisch-ungarischen Grenzübergang stehen viele Krankenwagen kreuz und quer. Es sieht aus wie nach einem Unglück. Wie nach dem Unglück der Wanderung und Fahrt durch Ungarn.

Die letzten Bilder: Der hohe silberne Zaun wird an der Grenze Europas errichtet, von ungarischen Soldaten. Familien und Einzelne gehen auf einer Bahnlinie, die übers Feld führt. Per ager: durch das Feld, durch das Land. Daraus ist peregrinus entstanden, der Fremde, die Ausländerin, die auf der Suche nach einem besseren Land sind. Die Pilger. Die übers Feld Gehenden. Über das Spielfeld? Ist die südsteirische Gemeinde Spielfeld eigentlich ein Pilgerfeld, sind über diese Grenze und dieses Feld immer schon die Pilger gegangen? Das Pilgerfeld, Spielfeld? ■


Gerald Igor Hauzenbergers Dokumentarfilm „Last Shelter“ – der österreichische Filmer begleitete Flüchtlinge drei Jahre lang – kommt am 27. November in die Kinos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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