Wenn man zweimal stirbt

Wozu die EU fähig ist – ein Besuch auf Zypern. In der Serie „Expedition Europa“.

Weil wir nach zweieinhalb Jahren schon vergessen haben, wozu die EU fähig ist, fliege ich nach Zypern. In der Nacht des 1. März 2013 enteignete die Eurogruppe zum ersten Mal europäische Sparer, die Kunden der Laiki Bank verloren alle Einlagen über 100.000 Euro. Die Insider zogen ihr Geld rechtzeitig ab, die Ahnungslosen wurden enteignet, Zypern war gerettet. Ich fliege von Brüssel nach Zypern. Die Insel liegt weit entfernt, kurz vor Syrien. Von Larnaka landeinwärts sehe ich eine aride Halbwüste, geborstenes, schmutzigweißes Gestein, lichte Schwaden eines staubigen Nebels. Zypern ist das einzige EU-Land, aus welchem Kommissare abends nicht in ihr Brüsseler Bettchen zurückkehren können; vier Stunden Flug.

Ich gehe in Nikosia zu einem Anwalt, der beim Europäischen Gerichtshof klagen will. Vor der Altbauvilla wartet ein alter Mann, klein und hager. Durch seine Hände gleitet ein Kettchen, Kompoloi genannt. Ich begreife nicht gleich, dass er auf mich wartet. Sein Anwalt hat den ernsten Alten für mich ausgewählt: Seine Enkelinnen wurden von gleich zwei Katastrophen der zypriotischen Geschichte geschlagen.

Ich spreche separat mit Anwalt Michael Ioannides. Ein gehetzter Typ, der mir mit stechend schwarzen Augen 2013 beschreibt: „Das war nicht wie Portugal, in Zypern wurde das Gespenst der türkischen Aggression wachgerufen. Das war ein Druck, als würde Zypern untergehen.“

Statt 670.000 Euro nur 100.000

Er schätzt die Zahl der enteigneten Laiki-Kunden auf 8000, 2000 wurden von Zyperns Höchstgericht ans Zivilgericht verwiesen. Die Klage in Luxemburg ist noch nicht eingereicht, „weil diese Leute jetzt arm sind“. Ich darf nicht schreiben, wie viele Enteignete seine Klienten sind. Es sind sehr viele. Im Besprechungsraum Neoklis Neokleous, 61. Er gibt das Kompoloi-Kettchen selten aus der Hand. „Ich verkaufe meine Uhr und kaufe mir einKompoloi“, zitiert er ein griechisches Lied, „damit ich meine Erwartungen und Leiden zähle.“ Er fügt hinzu: „Bei mir sind es Leiden. Zu viele Leiden.“ Elpida war vier Jahre alt und Evangelia anderthalb, als ihre Eltern für fünf Urlaubstage nach Prag flogen. Die Mädchen blieben bei den Großeltern. Der 14. August 2005 war ein Sonntagmorgen. Nach dem Kirchgang rief ihn ein Freund an: „Ein Flugzeug ist abgestürzt.“ Die Waisen, die ihr Opa „Babys“ nennt, sind seit dem „Helios Air Crash“ bei den Großeltern.

2007 zahlte Boeing der Familie eine Entschädigung von 1,2 Millionen Zypernpfund. Das Geld musste für die Waisen angelegt werden, Laiki bot die besten Zinsen. 2009 schrumpfte die Summe wegen einer Fehlinvestition der Bank, 2013 hatten die Mädchen aber je 670.000 Euro auf der Bank. Der 1. März 2013 war ein Freitag. Am Abend erfuhr Neokleous aus dem Fernsehen, dass noch 100.000 übrig waren. „Der Vorschlag, dass alle zahlen, ging im Parlament nicht durch. Also haben sie's von den Babys genommen.“

Als Polizist ist er schon elf Jahre pensioniert, als Hebamme kann seine Frau gut mit Kindern, und doch hat er „das Gefühl, dass ich gescheitert bin“. Die Waisen weinen fast jede Nacht. Sie weinen, wenn die Lehrerin einen Aufsatz über die Mama aufgibt. Zehn Jahre beim Psychologen für die Katz. Die Ältere will abschließen, die Jüngere sperrt sich ein und will Anwältin werden. Ihr Opa sagt: „Dieses Geld steht für zwei Leben, die zwei Mal genommen wurden.“

Ich frage den bitteren Alten, ob er für den Beitritt Zyperns zur EU gestimmt hat. Er sagt ja: „Ich glaube an Europa.“ Dann bringt ihn ein Taxi heim nach Limassol. Was soll man sagen. Merkel stand vor einer Wahl, die Babys hatten Pech, Zypern ist weit weg. Und wir haben schon vergessen, wozu die EU fähig ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.