„Ich singe einfach“

Die Durchschnittsdauer ihrer Affären betrug zwei Jahre. Als ihren tiefsten Liebesakt bezeichnete sie freilich ihre Auftritte – die Verbindung mit dem Publikum. Die Jahrhundertstimme des Chansons: Edith Piaf zum 100. Geburtstag.

In der beengten Pariser Wohnung (heute „Musée Edith Piaf“) lehnt die Papiermaschee-Figurine von Madame. Daneben: ein Teddybär. Beide sind gleich groß: 1,47 Meter. Das riesige Plüschtier war ein Geschenk an diejenige, die als 18-Jährige hier wohnte. Theo Sarapo, ihr zweiter Ehemann, hat das Spielzeugtier für die kleingewachsene, stimmlich größte Chansonbegabung Frankreichs ausgesucht.

Dabei war in der letzten Beziehung der Edith Piaf nicht sie, sondern der 20 Jahre jüngere Theo das Kind. Für ihn ließ sie eine elektrische Eisenbahn das gemeinsam bewohnte Luxusappartement am Boulevard Lannes durchqueren. Doch im Garten der griechischstämmigen Eltern Theos steckten sich die Verliebten Kirschen hinter die Ohren: zwei alterslose Kinder . . .

Theo blieb sorgend an ihrer Seite. Bis zum 11. Oktober 1963, dem Tag, als ihr starker Lebenswille kapitulierte vor den vielfältigen Krankheitsbildern des geschwächten Körpers. Bei der Hochzeit, nur ein Jahr vor ihrem frühen Tod, war Theo 26. Die Piaf 46. Frisch vermählt sang das ungleiche Paar im Duett „À quoi ça sert l'amour?“: Wozu ist die Liebe gut? Edith Piafs Lebensgeschichte gibt eine Antwort: „Für mich gibt es nur zwei Dinge in meinem Leben: die Liebe und meine Chansons. Meine Chansons sind Teil dieser Liebe“, bekannte der „Spatz aus Paris“. Mit schüchterner Sprechstimme erläuterte sie: „Die Qualität eines guten Chansons macht für mich zuerst die Poesie aus. Erst dann die Musik. Sie muss einfach sein, populär und nicht vulgär. Dazu eine schlichte Geschichte, nicht kompliziert – eine Reflexion des Lebens.“ Ihres Lebens?

Edith Gianna Gassion wird als Kind einer italienisch-berberisch-stämmigen Kaffeehaussängerin und eines Zirkusakrobaten am 19. Dezember 1915 geboren. Ihre Großmutter, die ein Bordell betreibt, reist mit der kleinen Enkelin nach Lisieux. Bei der heiligen Therese betet die Puffmutter für das Augenlicht des Kindes. Tatsächlich wird Klein-Edithvon einer wohl auf mangelnde Hygiene zurückzuführenden Bindehautentzündung, die sie erblinden ließ, geheilt.

Als das Mädchen sieben ist, holt sie der Vater. Sie soll auf der Straße singen. Dort wird sie, Jahre später, der Impresario und Nachtclubbesitzer Louis Leplée hören. Er engagiert sie 1936 in seinen Pariser Club „Le Gerny“, adoptiert sie und verpasst ihr den Künstlernamen „Môme Piaf“ (kleiner Spatz). Als Mentor Leplée ermordet in seinem Bett aufgefunden wird, verhört man auch die junge Sängerin. Verdachtsmomente ergeben sichkeine, doch ihre Karriere ist unterbrochen. Sie geht in die Provinz. Ohne Engagements versucht sie, sich in anderen Berufen durchzubringen. Bald nimmt sie wieder ihr Wanderleben auf, singt sich die Seele aus dem Leib, ob im Bordell oder in der Kaserne – meist aber auf der Gasse.

Intelligenz, Ehrgeiz, Fleiß

Der nächste Mann, den sie auf einer Straßenkreuzung aufhorchen lässt und der sie unter seine Fittiche nimmt, ist der Komponist Raymond Asso: Ihr „Mister Higgins“ finanziert ihr Gesangsstunden und bringt ihr Äußerlichkeiten des Showbusiness bei – um ihr enormes Talent zu „optimieren“. Neben einer Jahrhundertstimme verfügt Edith über angeborene, intuitive Intelligenz, Ehrgeiz und Fleiß. In den 1930er-Jahren nimmt sie Lieder für Schallplatten auf, hat das Schicksal ihres Daseins-Parallelogramms aus Armutund Tristesse aus eigener Kraft durchbrochen. Einmal pro Woche trifft sie ihren leiblichen Vater im Café, um ihm eine Rente auszubezahlen. Das ist großzügig von ihr – verhindert aber vor allem, dass der Schlangenmensch seine berühmt gewordene Tochter nach Auftritten in der Pariser ABC-Music-Hall abholt, um mit dem Hut in der Hand absammeln zu gehen.

Generosität, ein äußerst lockeres Verhältnis zum Geld, zeichnet die Piaf zeitlebens aus. Sie unterstützt Freunde, lässt sich auch bestehlen. Ihr großes Appartement nahe dem Bois de Boulogne ist nur spärlich eingerichtet. Aus Möbeln oder gar Antiquitäten macht sie sich nichts (sie lebt lieber in der Küche als im Salon). Dennoch verschwinden Dinge, sogar das wertvolle Speiseservice dezimiert sich, nicht durch Bruch.

Dass sie gut verdient, kann sie nicht zum Sparen animieren. Für eine Alterspension will sie nichts zurücklegen. Ahnt sie (bestärkt durch eine Wahrsagerin) ihren frühen Tod? Mit ihren Gagen fördert sie junge Künstlerkollegen wie Yves Montand, Charles Aznavour und Georges Moustaki.

1963 – die Piaf ist weltberühmt – wird sie gefragt, was eine Frau brauche, um glücklich zu sein: „Die Liebe und eine Aufgabe, die sie erfüllt“, ist ihre Antwort. Erstere erlebt und erleidet sie, immer wieder. Ihre Lebensaufgabe, ja -droge, ist nicht der Alkohol, wie manchmal behauptet wurde, sondern das Singen. Edith Piafs Stimme entzieht sich verbalen Beschreibungen. „Madame, sie singen wie eine weiße Negerin“, versuchte es ihr Künstlerkollege Charles Trenet. „Niemand hat seine Seele weniger geschont als sie“, formuliert Jean Cocteau Nachrufworte für seine Freundin – als er wenige Stunden vor seinem eigenen Tod von ihrem Ableben erfährt.

Doch die Seele, die sie auf der Bühne unvergleichlich zum Schwingen und Klingen bringt, ist während vieler Tag- und Nachtstunden in einen strengen Arbeitsraster eingespannt. Die Piaf hört nie auf zu lernen. In kleine Schulhefte schreibt sie Chansontexte, prüft ihr angebotene Lieder. Zwei Stunden vor jeder Vorstellung ist sie am Auftrittsort. Bei Proben bestimmt sie sämtliche Ton- und Lichteinstellungen selbst.

„Wenn ich nicht mehr singen kann, sterbe ich.“ Dieses Bekenntnis kam bei ihrer labilen Gesundheit einer dramatischen Drohung gleich. Arthritis-Schmerzen sowie die Krankheitsfolgen mehrerer schwerer Autounfällen zwingen sie, Medikamente zu nehmen. Kortisonpräparate (das Medikament ist damals neu auf dem Markt) und andere Mittel, die sie laut ärztlicher Verschreibung über einen Zeitraum von 24 Stunden einnehmen soll, schluckt sie alle auf einmal. Die Folge sind unter anderem Magengeschwüre. Es folgen Operationen und Entziehungskuren wegen Medikamentenmissbrauchs. Schließlich verabreicht ihr die Krankenschwester, die sie in letzten Jahren begleitet, Placebos. Ihr Zustand verschlechtert sich stetig. Ein untersuchender Arzt formuliert es drastisch: Ihr Tod sei nur auf kurze Bewährungszeit aufgeschoben. Ihm scheine, er komme von der Autopsie einer Lebenden.

Gelenksschmerzen erlauben ihr nur das Tragen speziellen Schuhwerks. Bei einem Pariser Nobelschuster deckt sie sich mit 20 Paaren ein, schließlich trägt sie zum Auftritt die alten, bequemen. Ihre legendären „kleinen Schwarzen“ sind maßgeschneidert. DochMode und Schmuck interessieren die Piaf so wenig wie die Wohnungseinrichtung.

Der berufliche Erfolg ermöglicht ihr einen kleinen Hofstaat. Die Köchin braucht nicht für Abwechslung zu sorgen, Madame isst periodisch. Am liebsten die ganze Woche lang ein und dasselbe Menü. Nur keine Burger, auch nicht in Amerika.

Die Durchschnittsdauer ihrer Affären beträgt zwei Jahre. Als ihren tiefsten Liebesakt bezeichnet sie ihre Auftritte – die Verbindung mit dem Publikum. Vor dem Gang auf die Bühne pflegt sie ein Ritual: berührt den Boden, bekreuzigt sich, umfasst das Medaillon der heiligen Therese oder das Kreuz, das sie stets um den Hals trägt. Sie singt auch während des Krieges. 1943 reist sie in Begleitung von französischen Kollegen nach Berlin zwecks Promotion für das französische Chanson. Eine kommunistische Zeitung in Marseille wird ihr das 1945 zum Vorwurf namens „Kollaboration“ machen. Doch die Piaf hat nachweislich in deutschen Stalags für französische Kriegsgefangene gesungen. Aus dort entstanden Fotos sollen Köpfe herausmontiert und damit falsche Identitätskarten hergestellt worden sein. Dass die Piaf Fluchthilfe geleistet hat, bestätigt ihr nach dem Krieg auch ihre Sekretärin, ein Resistance-Mitglied.

Die große Zäsur im Leben der Piaf ist die Begegnung mit einem Boxer: Den siegreichen Champion Marcel Cerdan lernt sie in New York kennen. Edith weiß, dass ihre Lebensliebe verheiratet und Vater dreier Buben ist. Sie akzeptiert das, will „nur, dass er glücklich ist“. Das Geistige ist ihr wichtig - wenn Marcel bei ihr in Paris ist, absolvieren die beiden ein Bildungsprogramm. Sie lässt ihn teilhaben an ihrer täglichen Lektüre: zehn Seiten Sokrates oder Platon. Aus ihrer großen Plattensammlung hören sie Tschaikowsky. Um schneller wieder bei ihr zu sein, nimmt Marcel nach einem Boxkampf im französischen Troyes nicht das Schiff, sondern den Flieger nach New York. Just dieses Air-France-Flugzeug stürzt über den Azoren ab. Edith ist paralysiert, hört auf zu essen, quält sich mit Arthritisanfällen und singt ihr Gebet für ihn: „Mon Dieu“. Zu Weihnachten ist sie in Casablanca, um Cerdans Witwe und seine Kinder reich zu beschenken.

Schlafen? „Eine Form des Todes!“

Jedes Mal, wenn sie auftritt, vermeinte man, ihre Seele würde zum letzten Mal zerreißen – so Jean Cocteau. Diese hohe Expressivität verspürt auch das Publikum. 1960 fragt das berühmte Pariser „Olympia“ an – Piaf erholt sich gerade von einer Bauchspeicheldrüsenoperation. Der Arzt sagt nein. Sie sagt ja. Der Erfolg ist so eminent, dass das Etablissements vor dem Konkurs gerettet wird.

Sie hat nicht nur nichts bereut („Non, je ne regrette rien“), sie hat auch nichts vorzuspielen. Mit übertriebenen Höflichkeitsattitüden und Blumengeschenken kann niemand bei ihr punkten. Der Natur kann sie wenig abgewinnen. Anlässlich von langen Autofahrten strickt sie lieber, als die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Auch Momente beim Canastaspielen färben ihr Leben für Momente „rosa“ („La vie en rose“). Schlafen empfindet sie als Zeitvergeudung, „eine Form des Todes“. Bevor sie zu Bett geht, betet sie. Knieend, auch wenn ihr das größte Schmerzen bereitet. Sie glaubt fest an ein Jenseits: „Der Tod existiert nicht. Nach dem Tod werden wir all diejenigen treffen, die wir wahrhaftig geliebt haben. Das ist sicher.“ Für ihre große Liebe, Marcel Cerdan, hat die Piaf Messen lesen lassen, musikalisch umrahmt von Johann Sebastian Bach und Gabriel Fauré. Ihre beiden Ehemänner werden 1970, innerhalb von zwei Wochen, sterben.

Anlässlich des 100. Geburtstages von Edith Piaf am 19. Dezember veranstalten die „Amis d'Edith Piaf“ einen Gottesdienst in ihrer Taufkirche, St. Jean Baptiste de Belleville. Organisator ist Bernard Marchois, Hüter des eingangs erwähnten Piaf-Museums und Autor eines Bandes, „Die wahre Piaf“, in dem Zeitzeugen zu Wort kommen.

Marlene Dietrichs Diktum „Das einzige Wort, das Paris ersetzen könnte, ist: Piaf“ hätte die Künstlerin gefreut, nicht aber hybrisch gemacht. Sie blieb schlicht. „Was ist notwendig, um eine erfolgreiche Sängerin zu sein?“, hat man sie gefragt. „Das weiß ich nicht. Ich singe einfach“, hat sie geantwortet. So war sie. Wie? Nachzuhören in „Comme moi“: „Wie ich . . .“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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