Die anderen Flüchtlinge

„Expedition Europa“: an der serbisch-kroatischen Grenze.

Čubura“ soll im Türkischen „Café am Wegesrand“ bedeuten, ich habe von meiner Billigkammer im gleichnamigen serbischen Wirtshaus Ausblick auf den Flüchtlingsstrom. Ich sehe, wie mehrmals täglich etwa zehn Flüchtlingsbusse vor dem Grenzbahnhof Šid ankommen und direkt abgefertigt werden für den Sonderzug nach Kroatien. Kinder blicken schüchtern um sich, der Kameramann der BBC hält drauf, meiner Begleiterin steigen Tränen in die Augen. Ich sehe eine routiniert von UNHCR-Mitarbeitern abgewickelte Völkerwanderung, Freiwillige sind nicht mehr vonnöten. Erleichtert registriere ich, dass in diesem Moment nur wenige „unbegleitete männliche Minderjährige“ eintreffen.

Ich komme wegen einer anderen Flüchtlingswelle: Die serbische Kleinstadt Šid und das kroatische Grenzdorf Tovarnik sind einander durch die Vertreibungen im serbisch-kroatischen Krieg verbunden. 5000 von einst 7000 Kroaten verließen Šid unter Druck, schreibt die kroatische Wikipedia; in Tovarnik fiel der serbische Anteil von 22 auf sechs Prozent, weiß die serbische Wikipedia. 1942 ermordeten die kroatischen Ustascha 121 Serben, schildert die serbische Wikipedia, einem „schnitten sie beide Hände samt Schultern ab, damit er unter den größten Qualen stirbt“. 1991 verübten „örtliche und serbische Tschetniks ein Massenverbrechen“, berichtet die kroatische Wikipedia, „sie ermordeten 68 Tovarniker“.

„Nema problema“?

Ich komme am Tag der serbisch-orthodoxen Weihnacht. Tovarnik nebenan wirkt auch an diesem normalen kroatischen Werktag leblos. Viele vernagelte Häuser, eine mit feuchtem Heu zugestopfte Veranda. Ich sehe mehrere Denkmäler gegen die „großserbische Aggression“, befragte Passanten versichern mir aber: „Nema problema“, man lebe gut zusammen, allenfalls seien einige Serben freiwillig weggezogen. Ich gehe in ein Café, in dem die Kriegsgeneration vor einem Bildschirm versammelt ist. Am Nebentisch sitzen ein alter Serbe und zwei ältere Kroaten zusammen, einer will mir mit gedämpfter Stimme vom Krieg erzählen. „Manche können nicht vergessen“, flüstert er, „in Tovarnik müssen wir aber vergessen.“ Mit rollenden Augen weist er auf einen kahlen, unrasierten Typen, der anderthalb Meter weiter sitzt: „Er hat auf serbischer Seite gegen uns gekämpft. Er hat drei Jahre dafür gesessen. Und jetzt feiert er hier Weihnachten.“ Der serbische Veteran muss mitbekommen, dass wir über ihn tuscheln. Er verzieht keine Miene.

Am Abend wieder in Šid. Das „Čubura“ ist eigentlich per Plombe des Finanzamts zugesperrt, durch eine Seitentür gelangt man aber in die Gaststube, gut gefüllt mit UNHCR, Medien, Polizei. Der alteWirt geht hüftsteif mit einer bauchigen Flasche herum und schenkt selbstgebrannte Marille aus. Er hebt unermüdlich die 25 in Šid lebenden Nationalitäten hervor; tatsächlich ist der Kellner Rusine, undmir begegnen Vojvodiner Slowaken.

Am Abend der serbischen Weihnacht sind die Bars voll. Eine ist mit Porträts hingerichteter Politiker behängt, Gaddafi, Saddam. Als mir „Flüchtlinge“ über die Lippen kommt, ruft der betrunkenste Serbe: „Flüchtlinge, wir sind Flüchtlinge! Aus Vukovar!“ Sein Vater, erzählt der Mittzwanziger, habe auf serbischer Seite gekämpft. „Wir wohnen immer noch zur Miete, wir haben nichts.“ Drei Viertel der aktuellen Flüchtlinge seien Terroristen, merkt er an, insgesamt kommt mir aber in Šid und Tovarnik ein wenig mehr Mitgefühl unter als anderswo in Osteuropa.

Am nächsten Morgen hält der Kameramann wieder drauf, diesmal nicht für die BBC. Die Aufschriften der Flüchtlingsbusse erinnern an alte Verheißungen: VIP Class, Como Tours, Travel. Der Aushang für das W-Lan der Heilsarmee endet mit den Worten: „. . . für Ihre Reise durch Europa“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2016)

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