Der Kalte

(c) EPA (Salvatore di Nolfi)
  • Drucken

Ein früher und maßgeblicher Mitgestalter der Moderne: Johannes Calvin. Zum 500. Geburtstag: warum uns der Genfer Reformator heute so fremd ist.

Kennen Sie eigentlich Calvin? Nicht Calvin Klein, auch nicht die Comic-Figur von Bill Watterson aus „Calvin und Hobbes“. Den Reformator von Genf, der vor 500 Jahren geboren wurde. – Calvin, Calvin, richtig, war da nicht die Geschichte mit Michael Servet, dem spanischen Arzt, der die Trinitätslehre bestritt und auf Calvins Betreiben hin 1553 auf dem Scheiterhaufen endete? Dann das sprichwörtliche calvinistische Arbeitsethos, nach Max Weber eine Triebfeder des modernen Kapitalismus. Rigorose Moral und strenge Kirchenzucht, Bilderverbot und schmucklose Kirchen. Und über allem steht die fatalistisch anmutende Lehre von der doppelten Prädestination, der Glaube also, dass alles im Leben – auch unser allein selig machender Glaube oder Unglaube – von Gott vorherbestimmt ist und dass von Anbeginn der Welt die einen von Gott erwählt und die anderen verdammt sind.

Unter den Reformatoren gilt JohannesCalvin nicht gerade als Sympathieträger. Er selbst hielt sich für schüchtern, sanft, zaghaft. Zeitgenossen beschreiben den Genfer Reformator, der auf den Porträts so ernst undstreng, bisweilen auch müde dreinblickt, dagegen als energisch, ungeduldig, reizbar und rechthaberisch. Übrigens ist nicht belegt,dass Calvin jemals fürein Bild Modell gesessen hat. Klaas Huizing, Theo- logieprofessor in Würzburg, charakterisiert ihn in seiner (glänzend geschriebenen) Calvin-Studie als widersprüchliche Mischung aus Härte und Milde. Calvin konnte ironisch sein, doch mangel- te es ihm im Unterschied zu Luther an Witz, Humor und Wärme. Auch Calvins Familienleben kann mit dem des Wittenberger Reformators, dem Urbild des evangelischen Pfarrhauses, nicht mithalten. Nur wenige Jahre dauerte Calvins Ehe mit Idelette de Bure, der Witwe eines von ihm bekehrten Wiedertäufers. Sie starb 1549. Das einzige gemeinsame Kind lebte nur wenige Tage. Mitbewohner im Haus des Reformators war sein Bruder Antoine, der sich pikanterweise von seiner Gattin scheiden lassen musste, dadiese ihn mit dem Hausdiener betrogen hatte. Luther und Calvin sind einander übrigens nie begegnet. Der 26 Jahre jüngere Calvin versteht sich freilich durchaus als Schüler Luthers, auch wenn er manche Akzente in der reformatorischen Lehre anders setzt. Luther seinerseits spricht von Calvin mit Wertschätzung. Ob er ihn wirklich gelesen oder seine Schriften nur vom Hörensagengekannt hat, ist ungewiss. (Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Reformatoren stellt Gerhard Rödding anschaulich in einem fiktiven Briefwechsel dar.)

Dem notorischen Imageproblem des Genfer Reformators versucht der SchweizerEvangelische Kirchenbund durch eine trendige Kampagne Abhilfe zu schaffen. Calvin 09heißt die offizielle Website des Calvin-Jahres. Das erinnert ein wenig an Euro 2008, die Fußballeuropameisterschaft. Kirche 08, amBall – seit 2000 Jahrenlautete der ökumenische Slogan der Kirchen zur Euro 2008.Nach Kirche 08 nun also Calvin 09 mit calvin bio, calvin theo, eventpool,materialpool und medienpool online.

Das Internationale Museum der Reformation in Genf betreibt mit Calvin-Bier, Calvin-Schokolade und Calvin-Kartenspielen Sympathiewerbung für den Jubilar. Bier undSpielkarten! Wo doch das Glücksspiel unter Calvin in Genf verboten wurde und die Gasthäuser zeitweise zusperrenmussten, da sich die Bürger der Stadt stattdessen in sogenannten Abteien an Bibelsprüchen erbauen sollten. Calvin wirdsich vermutlich im Gra- be umdrehen, das allerdings nicht mehr auffindbar ist, weil der 1564 gestorbene Reformator sich einen Grabstein verbat.

Heute einen Zeitgenossen für Calvin zu begeistern fällt nicht leicht. „Von allen Seiten“, klagt Georg Plasger, Theologieprofessor in Siegen, „ist viel Unrecht geschehen, auch von reformierter.“ Wie er plädieren auch viele andere Autoren für mehr Fairness und historische Ausgewogenheit. Aber eben dieser apologetische Grundton, der auch aus manchen kirchlichen Broschüren zum Calvin-Jubiläum so deutlich herauszuhören ist, zeigt, wie fremd uns der Genfer Reformator heute ist, und dies, obwohl er die Moderne ganz maßgeblich mitgeprägt hat.

Zu Recht gilt Calvin als einer der bedeutendsten Theologen der gesamten Kirchengeschichte (wiewohl er von Haus aus Jurist war). In Genf wirkte er als Prediger, Kirchenreformer, theologischer Lehrer. 1559, also vor450 Jahren, gründet er die berühmte Genfer Akademie, die zum geistige Zentrum des Calvinismus in ganz Europa wurde. Neben Calvins dogmatischem Hauptwerk, der 1559 in dritter Auflage herausgekommenen „Institu-tio Christianae religionis“ (Unterricht in der christlichen Religion), und seinen Schriften zur Kirchenreform – Genfer Katechismus,Genfer Kirchenordnung – ist an seine umfassenden Bibelkommentare zu erinnern. Calvins Theologie ist die Frucht intensiver Bibellektüre. Besondere Wertschätzung erfährt das Alte Testament. Auch für den heutigen christlich-jüdischen Dialog lässt sich von Calvin viel lernen. Ebenso bedeutsam sind Calvins Überlegungen zu einer Theologie des Rechtes und seine Sozialethik. Zu seinem Erbe gehört das leidenschaftliche Ringen um soziale Gerechtigkeit.

Die „Institutio“ betont gleich zu Beginn den engen Zusammenhang zwischen Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, also von Glaube und Subjektivität. Das ist sehr modern. Der Untertitel der 1536 erschienenen ersten Auflage bezeichnete das Werk passenderweise als „pietas summa“, als Summe der Frömmigkeit also – nicht als Summe theologischer Lehren. Der Glaube besteht fürCalvin nicht im Nachbeten irgendwelcher dogmatischen Lehrsätze, sondern beruht auf persönlicher Erfahrung. Und auch die Lehre von der doppelten Prädestination – so fragwürdig ihre kalte Logik auch erscheint – ist eigentlich als seelsorgerliche Vergewisserung gedacht, dass Gott den Menschen bedingungslos annimmt, dass die Annahme des Sünders in alle Ewigkeit gilt und Gottes Liebe keinen Schwankungen unterliegt.

Plasger bietet eine allgemein verständlicheEinführung in die Theologie Calvins. Anders als Huizings Essay richtet sich Plasgers Buch eher an ein kirchlich beheimatetes Publikum. Der Autor geht zwar auf Kritik ein, et- wa an Calvins Prädestinationslehre, versucht aber mögliche Einwände zu entkräften. So sieht er Calvins Erwählungslehre als solche durch kritische Anfragen an einzelne Sätze nicht berührt. Und auch das Verhalten Calvins im Ketzerprozess gegen Servet sieht Plasger lediglich „kritisch“, um rasch hinzuzufügen, dies sei kein Verfahren Calvins, sondern des Rates der Stadt Genf gegen Servet gewesen. Das mag formal stimmen, ändert aber nichts daran, dass Calvin im Fall Servet eine denkbar schlechte Figur gemacht hat. Zwar war der Spanier schon im französischen Vienne von der katholischen Inquisition in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, aber bereits in diesem Verfahren hatten von Calvin lancierte Beweismittel eine Rolle gespielt. Und schon Jahre vor dem Genfer Prozess hatte Calvin an Guillaume Farel, den ersten Reformator von Genf, geschrieben, sollte Servet jemals die Stadt an der Rhone betreten, werde er dafür sorgen, dass er sie nicht lebend wieder verlassen würde.

Historisch ungerecht ist jedoch die Parallele, die Stefan Zweig in „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“, geschrieben 1935/36 im Exil, zur nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zieht. Das muss auch gegen Huizing gesagt werden, der Zweigs Urteil „ohne Abstriche“ übernimmt und selbst von „Barbarei“ und „theologischem Terrorismus“ spricht. Dass Servets Verurteilung unserem heutigen Verständnis von Gewissens- und Glaubensfreiheit widerspricht, bedarf keiner Diskussion. Aber das Genfer Urteil entsprach dem geltenden Recht im Heiligen Römischen Reich und war so gesehen kein Akt von willkürlichem Staatsterror einer gewissermaßen reformierten Talibanherrschaft.

Falsche Assoziationen weckt auch das Urteil des Schweizer Historikers Volker Reinhardt – der im Übrigen eine gute, an den Quellen gearbeitete Einführung in die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge und den Verlauf der Reformation in Genf bietet –, Calvin habe in Genf eine „Tyrannei der Tugend“ errichtet. Reinhardt überträgt auf Calvin eine ursprünglich auf Robespierre gemünzte Wendung. Zwischen dessen Terrorherrschaft mit Revolutionstribunal und Guillotine und Calvins Versuch, ein christliches Gemeinwesen nach reformatorischen Grundsätzen aufzubauen, bestehen erhebliche Differenzen. Ebenso unterscheidet sich das Kirchenverständnis des Genfer Reformators von dem der Wiedertäufer, die als Kirche nur gelten lassen, wenn in jeder Hinsicht – so Calvin – „eine engelhafte Vollkommenheit“ herrscht. Calvins Ziel war jedoch, wie Huizing richtigstellt, keineswegs eine moralisch makellose Kirche. Hinter seinem Konzept der Kirchenzucht steht vielmehr der Gedanke eines von brüderlicher Zuneigung getragenen Gemeindelebens, das sehr genau die Gebrechlichkeit des Menschen kennt.

Calvin war kein Diktator, er hatte in Genf nie ein politisches Amt inne. Er war ein französischer Flüchtling, der aus Noyon in der Picardie stammte und 1533 als Student wegen seiner reformatorischen Gesinnung aus Paris fliehen musste. Sein Weg führt ihn zunächst nach Basel. Es war Farel, der Calvin für die Unterstützung der Reformation in Genf gewann. Doch seine Reformbestrebungen gingen dem Rat der Stadtrepublik an der Rhone in Vielem zu weit, weshalb er und Farel 1538 ausgewiesen wurden. Als man Calvin 1541 von Straßburg nach Genf zurückrief, folgte er dem Wunsch des Rates erst nach längerem Zögern, und auch in der Folgezeit kam es zu Konflikten zwischen dem Reformator und Teilen der Bürgerschaft.

Calvin hat leidenschaftlich für die Sache Gottes gestritten. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Der Gedanke derSouveränität Gottes dient bei Calvin nicht etwa der Legitimation von weltlicher Monarchie und kirchlicher Hierarchie, sondern begründet im Gegenteil ein Modell der Gewaltenteilung. Dem Papsttum sprach er mit überzeugenden Argumenten jede theologische und biblische Legitimation ab. Nicht nur stritt Calvin für die Freiheit der Kirche vom Staat, sondern begründete mit seiner antihierarchischen Lehre vom vierfachen Amt in der Kirche – Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone – und seiner Lehre von der Gleichrangigkeit aller christlichen Gemeinden das Modell einer presbyterial-synodalen Kirchenordnung, das heute auch in den lutherischen Kirchen gilt. Der Calvinismus wurde damit zu einem Wegbereiter der modernen Demokratie (wenngleich deren Wurzeln nicht ausschließlich in der Reformation zu suchen sind).

Einiges für sich hat auch die These Huizings, wonach Calvins Idee der Kirchenzucht eine starke Affinität zur modernen demokratischen Lebensform aufweist. Calvin ging es um Transparenz und um Öffentlichkeit: Forderungen, die sich heute umstandslos auf die demokratische Zivilgesellschaft mit ihren Mitteln der parlamentarischen Kontrolle und des investigativen Journalismus übertragen lassen.

Last, not least war Calvin ein großer Ökumeniker. Und er dachte in europäischen Dimensionen, wie seine weitverzweigte Korrespondenz belegt. Das gilt zunächst innerprotestantisch. Calvin versuchte, zwischen Luther und Zwingli theologisch zu vermitteln und die sich anbahnenden Spaltungen des evangelischen Lagers zu verhindern. Der Genfer Reformator bemühte sich aber auch um den Dialog mit der katholischen Kirche. Gerade die jüngere katholische Calvin-Forschung würdigt die strukturellen Parallelen zwischen Calvins Kirchenverständnis und dem Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Josef Bohatec, einer der bedeutendsten Calvin-Forscher, der von 1916 bis zu seinem Tod 1954 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien lehrte, nannte Calvins Theologie eine „Theologie der Diagonale“. Denkt man diese Theologie kritisch weiter, ist sie auch für die spätmoderne Gesellschaft ein Gewinn. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.