Haben wir uns selbst verloren?

Sollten es die IS-Terroristen auf unsere Werte abgesehen haben, sind sie die Angeschmierten. Und zu spät dran. Wir sind gerade dabei, unsere Ideale von einst zu verschachern.

Nun verteidigen wir Europäer also unsere Werte, unsere Freiheit. Das sagen wir. Es hört sich auch gut an und richtig. Allerdings, wir machen uns was vor. Hinter der Fassade des stolzen Demokraten, der seine Freiheits- und Bürgerrechte verteidigt, steckt jemand, der es ziemlich billig gibt; der via Facebook, Google, Apps & Co seine Privatsphäre längst zum öffentlichen Gut gemacht hat, der seiner Versicherung für einen Preisnachlass sogar seine Biodaten überlässt und generell der Cloud intimste Informationen anvertraut.

Kurzum: Die meisten von uns finden nichts mehr dabei, ihr Innerstes zu veräußern; finden es ganz normal, ihre Privatsphäre aufzugeben, die als Basis für unbestechlich freies Denken, Reden und Handeln aber doch unabdingbar ist.

Um uns das Leben bequemer, billiger, einfacher und unterhaltsamer zu machen, jagen wir bereitwillig Pulsfrequenz und Partnerwahl, Physis und Psyche, Standort und Stimmungslage, Bankdaten und Befindlichkeiten, Konsumvorlieben und Konditions-werte, An- und Abwesenheiten, Fotos und Filme, Freunde und Feinde, ja eigentlich unser Leben ins Netz. So juckt es uns auch nicht, wenn dieser unser Normalzustand nunzwecks Terrorabwehr Ausnahmezustandheißen sollte – lediglich weil unser gläserner Zustand um ein paar uns unwesentlich erscheinende Details ergänzt wird.

Unser individueller Wertekanon hat sich in den vergangenen Dekaden gewandelt, wurde mitunter öfters hinuntergefahren als manches Betriebssystem, die alte Version gelöscht. Von dem, was einmal unsere Wertegesellschaft genannt wurde, ist nicht mehr allzu viel übrig. Als Konsum- und Kommunikationsgesellschaft hingegen arbeiten wir höchst erfolgreich an unserem persönlichen Ausverkauf. Unsere Ideale von gestern sind unser Pragmatismus von heute.

Nun ist es bekanntlich so, dass nicht nur Menschen die Umstände machen, sondern auch die Umstände die Menschen. Wer könnte dieser Tage den 84 Prozent der Franzosen daher vorhalten, dass sie bereit sind, ihre Freiheitsrechte aufzugeben, wenn sie nur wieder in Sicherheit Kinos, Konzerte und Restaurants besuchen können. Der Wunsch ist allzu verständlich.

Offenkundig ist damit aber, welche Freiheit und welche Werte gemeint sind, wenn wir heute davon sprechen, sie uns vom Terror nicht nehmen zu lassen. Keineswegs meinen wir, wie man aufs Erste annehmen möchte, die seit der Aufklärung universellen Bürgerrechte, etwa Gleichheit vor dem Recht oder das Festhalten an der Unschuldsvermutung. Ebenso wenig haben wir den Schutz des Menschenrechts auf Privatsphäre im Sinn, die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es geht uns nicht mehr um die großen Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und wir schätzen auch nicht mehr den Wert der Selbstbestimmung. Auch er ist zur Verhandlungsmasse verkommen, zum Spieleinsatz, mit dem wir uns ein Quäntchen mehr Sicherheit zu erkaufen hoffen.

„Wer die Freiheit aufgibt . . .“

Diese Haltung ist nachvollziehbar. Sonderlich schlau ist sie nicht. Denn was Benjamin Franklin bereits vor mehr als 200 Jahren sagte, gilt heute gewiss noch mehr: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“

Jener Logik können wir auch etwas abgewinnen, doch unser Reflex ist ein anderer: Einer „Kurier“-OGM-Umfrage zufolge sprechen sich 55 Prozent der Österreicher dafür aus, den Ausnahmezustand samt teilweiser Ausschaltung des Rechtssystems nach dem Vorbild Frankreichs auch hierzulande auszurufen. Inklusive der Möglichkeit, Menschen ohne richterlichen Beschluss zu verhaften und wegzusperren, inklusive der Option, willkürlich ganze Stadtviertel mit Sonderkommandos auf den Kopf zu stellen. Aus vorsorglicher Sorge sozusagen. Ausschaltungder Demokratie als prophylaktische Maßnahme. Eliminierung der Freiheitsrechte, um zu verhindern, dass Terroristen die Freiheitsrechte eliminieren.

Nicht allein Terror also, selbst die bloße Möglichkeit von Terror lässt uns in einen inneren wie äußeren Ausnahmezustand geraten. Erschreckend, wie rasch das angebliche Wertefundament Europas zu erschüttern ist. Acht Männer mit Kalaschnikows und Bombengürteln reichten. Erschreckend auch, wie rasch Europa bereit ist, unter anderslautenden Beteuerungen bereit ist, seine hehren Grundwerte und Freiheiten auszusetzen. So also steht es um uns, so steht es um die Verfasstheit Europas.

Die Terrorgefahr ist nicht nur der Anlass, der uns zwingt, unsere europäischen Werte auf Nachhaltigkeit zu prüfen. Sie ist darüber hinaus der Anlass, der uns zu erkennen zwingt, dass wir jene zivilisatorischen Werte länger wohl schon nicht mehr leben. Sie schmeichelten uns, deshalb mochten wir sie. Sie schmückten uns. Nicht nur westliche Konsumverwöhnte waren wir dank ihnen, nicht bloß Hedonisten, sondern Menschen, die die kulturelle europäische Lebenseinstellung lebten, die frei dachten und frei handelten, die reflektiert abwogen (wie die alte Griechen es uns gelehrt hatten), und die vorgeben konnten, stolz zu sein auf die seit der Französischen Revolution errungenen Bürgerrechte und Freiheiten. Tatsächlich aber halten wir nicht mehr jene Werte, sondern nur noch deren Etiketten hoch. Deshalb fällt es den meisten von uns wohl auch so leicht, sich aktuell im Namen der Sicherheit von ihnen zu trennen.

Anschläge in Überwachungsstaaten wie den USA, Russland und China führen es uns vor Augen: Selbst wenn wir uns für schier lückenlose Überwachung, Freiheitseinschränkungen und umfassende Polizei- sowie Geheimdienstbefugnisse entschieden, bekämen wir dafür keine Garantie auf Sicherheit. Gewiss hingegen führten derartige Reaktionen gegen den Terror dazu, dass wir uns selbst terrorisierten. Es wäre eine Selbstdemontage sondergleichen. Nach Sicherheit uns sehnend, fänden einkaserniert wir uns wieder.

„Aufklärung“, sagte Kant, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Doch kann es sein, dass wir gegenwärtig an einem gewissen Grad an Unmündigkeit Gefallen finden? An der Abgabe von Verantwortung? Am Zurückziehen auf die einfachsten archaischen, lukullischen, bacchantischen Bedürfnisse?

Fragt man Kleinkinder (ich tat es), ob sie lieber Haushasen oder Feldhasen wären – Haushasen, die Tag für Tag gefüttert werden und deren warmer Stall von einem Zaun umgeben ist, sodass sie zwar nicht hinaus können, der Fuchs aber auch nicht hinein; oder eben lieber Feldhasen, die in Freiheit leben, ihr Futter aber selbst suchen müssen, ebenso einen Unterschlupf zum Schutz vor Wind, Wetter und Fuchs – bekommt man ohne Umschweife die Antwort: Haushasen wollen die Kleinen sein, umsorgte, eingezäunte Haushasen, keine freien Feldhasen. Nun ist diese Reaktion bei fünf- oder sechsjährigen Kindern naheliegend und nur natürlich. Könnte es aber sein, dass selbst Erwachsene sich heutzutage für die sichere Enge anstatt die unsichere Freiheit entscheiden würden? Erleben wir aktuell womöglich eine neue Lust am Unselbständigsein? Eine Verkindlichung der Gesellschaft?

Benötigen wir vielleicht auch deshalb eine Allergenkennzeichnung, die uns wissen lässt, dass in Haselnusscreme Nüsse enthalten sind? Werden wir vielleicht deshalb von der Tonbandstimme in der U-Bahn gewarnt, dass sich zwischen U-Bahn und Bahnsteig ein Spalt befindet? Hinweise, Vorschriften und Regeln brauchen wir anscheinend für jede Lebenssituation, um halbwegs unbeschadet durch den Tag zu kommen.

Verlernen wir das Menschsein?

Wir Menschen sind drauf und dran, so scheint es, das Menschsein zu verlernen. Oder, um es wertneutral zu sagen: Wir sind dabei, das Menschsein neu zu definieren. Im Zweifelsfall verbieten und regeln und überwachen wir, was frei und ungeregelt womöglich zu Leben, ungewissem Leben führen könnte.

Nach Vorschriften sehnen wir uns auch, damit andere nicht mehr dürfen, als wir wollen. Schränken wir uns freiwillig ein, sollen auch andere beschränkt sein, gezwungenermaßen. Tickt eine Gemeinschaft so, wird Minderheiten Zug um Zug verboten, was die aktuelle Mehrheit für nicht opportun hält. Und da freilich jeder in irgendeiner Lebenssituation, auf irgendeine Weise zu einer Minderheit gehört, wird sich am Ende jeder unfreier wiederfinden als zuvor. Ergebnis ist eine Gesellschaft, die sich selbst ihrer Ecken und Kanten beraubt. Ergebnis ist eine dienstwillige Masse, die Einschränkung um Einschränkung, Vorschrift um Vorschrift gelernt hat, sich anzupassen an die normative Mitte.

In einer solchen Gesellschaft gilt eben nicht mehr die einstige Selbstverständlichkeit, dass Freiheit so weit zu reichen hat, soweit sie nicht die Freiheit anderer einschränkt. Die meisten in einer solchen Gesellschaft kämen nicht mehr auf die Idee, sich gegen Bevormundung, Durchleuchtung,Überwachung zu wehren, denn gewiss geschieht all das nur zu ihrem Besten und gewissermaßen auf eigenen Wunsch. In einer solchen, ihrem einstigen Selbstverständnis, ihrem einstigen Werterückgrat beraubten Gesellschaft würde unter Freiheit nur noch die Freiheit verstanden, zu konsumieren und sich zu unterhalten. Brot und Spiele; Shopping und Surfing.

Noch freilich stemmt sich unser aufgeklärtes, unser demokratie- und freiheitsliebendes Ich gegen jene Einfalt in uns, die ausschließlich ihre Ruhe und Sattheit und Sicherheit will. Noch haben wir die über Jahrhunderte uns angeeigneten europäischen Freiheitswerte, die auch unseren Wert und unsere Ästhetik mit ausmachen, nicht restlos aufgegeben. Erinnern wir uns: Stets, wenn wir uns lossagten von jenen Werten, ging mit ihnen auch Europa verloren, und: gingen wir uns verloren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

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