Wo bleiben in Aspern die Geigen?

Nur Billa, Bipa, Libro und Die Erste sind schon da. Ob sie der Siedlung wirklich Leben schenken können? Seestadt Aspern: Notizen nach einem Besuch.

Der Bericht über einen Grätzlbesuch im „Spectrum“ der „Presse“ vom vergangenen Herbst lud zu einem Spaziergang in die Seestadt Aspern ein. Es würden mich„bravouröse Antworten auf zentrale ökologische und soziokulturelle Fragen zur menschengerechten Stadt“ erwarten.

Also los! Mit der U2 über Prater/Messe (Ist hier nicht irgendwo auch der Campus der Wirtschaftsuniversität?) – Stadion – Donauspital erreiche ich die großzügig angelegte Endstation Seestadt. Draußen empfängt mich eine riesige verwitterte Betonfläche, einige Hütten und Baustellenreste stehen verstreut, zur Rechten glänzt in einer großen Schottergrube Wasser. Weiter weg das gelobte Grätzl, leuchtend neuweiß. Bei Regen und Kälte wird der Weg eher ungemütlich. Hügel des Wienerwaldes wellen den Horizont, der harte Wind pfeift ins Marchfeld.

Wie haben Landschaftsarchitekten auf diesen Ort und seine Eigenart reagiert, auf die Spuren seiner beachtlichen Geschichte?

Aus den Medien ist mir noch das erste, zart konsumistische Rendering der Planenden in Erinnerung: die Seestadt Wiens. Also, wo ist heute der aufgeweckte Hund, wo sind die g'schmeidigen Genießer?? Wo ist der See?! Ich quere die Sonnenallee (ein Zitat aus Alt-Ostberlin?) und finde jene öffentlichen Räume, in denen „eine Partitur Schlüsselmomente einer stadtplanerischen Erfolgsgeschichte erfahrbar machen soll“.

Ich durchwandere staunend die schütter frisch begrünten Räume. Das einzige Element, das sie von den öden Gemeindeanlagen der 1950er-Jahre unterscheidet, sind „Geländegestaltungen“ – da und dort milde Hügelchen. Eines ist sogar in blauem, mit weißen Punkten dekoriertem Fallschutzboden ausgeführt – gegen Bergunfälle? Dazu die Information: „. . . kann als Abstraktion eines Bergrückens im Wienerwald interpretiert werden“. Vielleicht wären auch Kleine Karpaten oder Hundsheimer Berge mögliche Lesarten.

Sonst Wiese, ein paar Normbäumchen aus dem verpflichtenden Angebot der Gartenverwaltung, Bänke, Mistkübel, robuste Leuchten, eine „dezente“ Stampfbetonmauer. Alles „bewusst funktionsoffen konzipiert“. Ein eingezäunter Kinderspielplatz mit korrekt sicherheitsüberprüften Geräten (Piktogramm auf der Schaukel: Bitte mit beiden Händen festhalten!) soll auf die Geschichte des Flugfeldes Aspern verweisen. Ob ein paar lustige himmelblaue Spielgeräte mit dieser Aufgabe nicht überfordert sind?

Aspern war der erste internationale Flughafen von Wien, vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte er sich zu einem der größten Europas. Zahlreiche bedeutende Luftfahrtereignisse, Rekorde und Erstflüge aller Flugzeugklassen fanden hier statt. Wo blieb der sonst allgegenwärtige Denkmalschutz für technische Objekte?

In den Wohnhausanlagen der Wiederaufbauzeit stellten noch Skulpturen einen künstlerischen Anspruch: „Mutter und Kind“, „Haustiergruppe“ oder „Abstrakte Form“ in Naturstein. Dieser Tage dominiert in den funktionsoffenen Räumen der Seestadt die Info-Stele. Information unter „Willkommen“: Wien ist anders / Unsere Gärten / Europäische Union / StadtWien / Mit Europa für Wien / eu.wien.at – alles umschwebt von vielen Sternen in Weiß, Orange und Gelb.

Sechs Piktogrammegeben Hinweise für reinliches, parkgerechtes Verhalten: „Wer Tauben füttert, füttert auch Ratten“ und so weiter. Scharf zukunftsweisend angesichts der zarten Jungbäume ist die Warnung, sich bei Sturm (in etwa 50 Jahren) nicht unter ihren mächtigen, vielleicht schon morschen Ästen aufzuhalten. Weiters wird in ausführlichen Texten aufgeklärt: „Spielen und Verweilen kann hier für Jung und Alt neu entdeckt werden“, „. . . bietet die Plattform Raum für Mitbestimmung und Partizipation sowie temporäre Gestaltungsideen“ oder „ein rotes Laufband bildet ein farbgebend-identitätsstiftendes Element zumsportlichen Anreiz“. Schlusszeile: „Die Errichtung des Parks wurde EU-kofinanziert.“ Wie kommen eigentlich Bürger von Turku, Cork oder Rimini dazu, diese soziokulturellen schildbürokratischen Streiche und damit das lustige Leben von Textern des Wiener Stadtgartenamts kozufinanzieren?

Jenseits von Planer-Planungen und Jury-Diplomatie gibt es einen klaren Weg für die Entwicklung einer neuen Stadt. Unterschiedliche Theorien haben ja Sitte und Mumford, Rossi, Venturi, Lampugnani und andere verfasst. Faktisch aber wäre der erste Schritt die Wahrnehmung von Landschaft, die Achtung für den „Spirit of the Place“, für Gelände, Boden, Pflanzen und Tiere.

In Aspern wären das die dominante Marchfeldebene mit ihrem ganz eigenen Himmel, die Vegetation der Weikendorfer Remise (ältestes Naturschutzgebiet Österreichs) und der nahen Donau-Auen sowie der Respekt vor dem stetigen Wind. Dazu die Legende des Ortes als Rohstoff für jede neue Überformung. Sie ist als Schlachtfeld präsent, etwa im Werk von Anton Fernkorn, der in der Sprache des Historismus mit der Reiterfigur Erzherzog Karls auf dem Wiener Heldenplatz und mit dem Löwen von Aspern gewaltige Zeichen setzte. Bis in die Gegenwart zeigt der Boden aber auch Spuren des Flugfeldes, das nach Jahrzehnten seine wichtige Rolle an Schwechat verlor. Die Pisten waren noch in den 1960er-Jahren Ort für populäre Flugplatzrennen mit Helden des Sportkults wie Stirling Moss, Jochen Rindt und Niki Lauda.

Welch kostbare, unverwechselbare Basis für die neue Stadtgründung hätten große Landschaftsarchitekten wie Kim Wilkie oder Pascal Cribier mit einem künstlerischenKonzept für die riesige Asperner Brache schaffen können! Man hätte sich glatt das Vernichten der Pisten, die dürre Idee eines künstlichen Sees, das Graben eines Riesenlochs und einen Wettbewerb zur Suche nach Identität ersparen können – diese war in reichem Maß vorhanden, nur für Planungsbürokraten offensichtlich nicht erkennbar! Oder anders gesagt: Statt auf Sonnenallee-Erfinder hätte man auf Leute wie den Architekten Jacques Herzog hören sollen, der meint, dass alles zuerst als Landschaft gedacht werden sollte, und für den Architektur nur ein Teil davon ist.

Graue Theorien? Schon eine kurze Reise nach Italien würde Planungsverantwortliche praktisch lehren, wie aus einer Siedlung Stadt werden kann – Padua: Palazzo della Ragione, Cappella degli Scrovegni, Orto Botanico; Vicenza: Piazza dei Signori, Teatro Olimpico; Lucca: eine Stadtmauer; Cremona: Geigen! Wo bleiben die Geigen in Aspern? Wo bleibt urbaner Raum zum Spielen, Streiten, Beten, Tanzen, Kämpfen? Nur Billa, Bipa, Libro und Die Erste sind schon da. Ob sie der Siedlung wirklich „buntes Leben“ schenken können? Ich fürchte, nicht einmal „Quartergold“ von Armani, Hermès, Louis Vuitton, Prada oder Versace würden reichen. „It's the landscape, stupid!“ Damit sich Stadtleben entzünden kann, muss zuerst qualitätsvoller Freiraum als demokratischer Luxus geschaffen werden, Platz! Reiche Gärten, professionelle Sportfelder.

Vergangenen Oktober publizierte das führende deutsche Magazin „Brand eins“ den Artikel „Wien, du hast es besser!“ mit großer Anerkennung für die Leistungen im sozialen Wohnbau und Fokus auf die Architektur der Seestadt. Der Grünraum wurde allerdings mit keinem Wort erwähnt. Auf die Frage nach einem kulturellen Konzept für die Zukunft präsentierte die Development AG eine ganze Reihe von Vorhaben: ein Eden Project für die pannonische Flora; europäische Literaturtage („Draußen in der Wachau beziehungsweise im Marchfeld“); Arche Noah/Schiltern übernimmt große Teile der Grünflächen für Gemüseanbau; Impulstanzwochen; das Parlament soll die alte Hütte am Ring verlassen und sich in zeitgemäßer Architektur in Aspern neu konstituieren; eine Tennisakademie unter der Leitung von Jürgen Melzer; eine Zotter-Schokoladenmanufaktur; einen Sakralbau von Heinz Tesar; Hallen für die Kunstsammlung der Generali Foundation; Werbestände für Caritas, Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen und andere; einen prächtigen Pavillon für die Dauerleihgabe des Kunsthistorischen Museums (Jan Vermeer, „Die Malkunst“); ein soziokulturelles Casting für den Zuzug von Bewohnern, Gästen, Asylanten und Bürgern, denen man hier die Realisierung ihrer Projekte ermöglicht. Der Hamburger Reporter meint zwar, man hätte mit einigen dieser Projekte den Bau der Stadt beginnen sollen, aber er verspricht freudig, in zwei Jahren wiederzukommen.

Zurück zur traurigen Realität: Wie kann die gegenwärtige erschreckende Schwäche und Uniformität der Landschaftsarchitektur überwunden werden, die das Ergebnis einer Wettbewerbskultur ist, die bisher nicht mehr erbracht hat als moderne Varianten des gründerzeitlichenBeserlparks? Das Engagement Einzelner reicht nicht. Für eine innovative Entwicklung ist eine umfassend erneuerte Szene unabdingbar. Dazu gehören: informierte, mutige Entscheidungsträger und Investoren; Aktivisten in den Medien mit Neigung zu Gartenkunst, Geschichte der Landschaft und natürlich entsprechender privater Passion; unermüdliche Kuratoren in Museen und Galerien. Wie wichtig wurden für einen breiten Bewusstseinswandel Architekturzentren! Architekturzentrum Wien, Architektur und Tirol Innsbruck, Haus der Architektur Graz und so weiter. Es gibt noch nichtsVergleichbares für die Landschaft.

Man denke an die Ausstellung „Smart Life in the City“ im Museum für angewandte Kunst, die Ideen für den städtischen Alltag der Zukunft konzipierte. Dabei wurde das Thema Freiraum nur mit nachbarschaftlicher Gemüseernte am Schwendermarkt abgehandelt. Angesichts solcher Herausforderungen wie der Investorenbrache in der Donau-City, dem Betongelände auf dem WU-Campus oder der inhaltlichen Leere in der Seestadt ist das wohl nur als Kapitulation vor den Problemen der Landschaftsarchitektur zu verstehen.

Nicht zuletzt werden sich die Landschaftsarchitekten von ihrer Rolle als billige Tapezierer des öffentlichen Freiraums emanzipieren müssen. Sie werden für komplexe Aufgaben wie in Aspern radikal neue Modelle erstellen und eigenständige künstlerische Positionen sichtbar machen müssen. Partner für diesen Kampf werden sie nicht unter Magistratsbeamten oder Jurymitgliedern finden, sondern im neuen „Art Director“ der Seestadt, dem die jetzigen Fragmente von Aspern voll verantwortlich übergeben werden und der seine Arbeit ehebaldigst aufnehmen wird. Aktuelle Kandidaten: Robert Wilson, Teresa De Keersmaeker, Alexander Horvath, Daniel Barenboim. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

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