Schnee und Vergessen

„Immer tiefer stampfen sich die frierenden gefühllosen Füße in den Schneeboden hinein. Das Gewehr ist vereist. Mit verzweifelter Energie starrt der Mann durch den engen Ausschnitt der Schießscharte.“ Trenker, Hemingway und der Erste Weltkrieg: Ein Freilichtmuseum erinnert an ein Gefechtsfeld in den Karnischen Alpen.

Ein lauer Wind streicht über den Plöckenpass, die Grenze zwischen Österreich und Italien. Eine verlassene Grenze. Nur im Wirtshaus auf italienischer Seite herrscht etwas Leben. An einem der groben Tische sitzen drei Männer vom Entminungsdienst des österreichischen Bundesheeres und essen Spaghetti. Jedes Jahr kommen sie für zwei Wochen hierher, an die ehemalige Front des Ersten Weltkriegs, tragen Blindgänger, nicht explodierte Granaten und rostige Waffen zusammen, um sie zu sprengen.

Jahrzehntelang lag das Kriegsmaterial in den Felsen der Karnischen Alpen. Erst 1972 wurde es anders: Damals setzte sich der österreichische Bundesheeroberst Walther Schaumann aus persönlichem Interesse auf die Spuren des alten Frontverlaufs, damit nicht Gras und Vergessen über diesen Abschnitt wachsen. Seither arbeiteten Jahr für Jahr Freiwillige an der Freilegung der alten Stellungssysteme. Der Verein Dolomitenfreunde wurde gegründet, und die „Friedenswege“, „Le Vie della Pace“, entstanden, ein Freilichtmuseum auf 300 Kilometer alpinem Weg, das das Ausmaß jener Kämpfe vorstellbar machen soll.

Als am 23. Mai 1915 Italien der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erklärte, war plötzlich eine weitere Front im Ersten Weltkrieg entstanden: jene im Süden, eine 1000 Kilometer lange Angriffs- und Verteidigungslinie von Triest an der Adria bis ins Gletschereis des Ortler. In zwölf Schlachten am Fluss Isonzo sowie im Gebirgskampf der Alpen verlor eine Million Soldaten ihr Leben.Die drei Männer vom Entminungsdienst sind inzwischen vom Plöckenpass aus aufgestiegen zum Kleinen Pal auf 1867 Metern. Ihm gegenüber, getrennt durch den Pass, liegt der Cellon, ein steiler Fels, in dem die Österreicher damals einen Stollen zur Spitze gebohrt hatten, weil die Italiener jeden Aufstieg an der Wand sehen konnten. Heute ist dieser Stollen Österreichs einziger unterirdischer versicherter Klettersteig.

Um den Kleinen Pal zu erreichen, nehmen die Männer den Alpinisteig auf der italienischen Seite. Sie kommen an Felswänden vorbei, aus denen Eisenstäbe als Trittstufen und Leitern ragen, passieren verwachsene Stellungen. Als sie auf dem Gipfel angelangt sind, ist Nebel eingefallen. Vorsichtig bewegen sie sich in dem Gewirr aus freigelegten Laufgräben und Postenständen vorwärts, um nicht auf den feuchten Steinen auszurutschenoder die Orientierung zu verlieren.

Auch zwei Schriftsteller, zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, waren an dieser Front im Einsatz und haben ihre Erlebnisse Jahre später in Romanen verarbeitet: der Südtiroler Luis Trenker auf österreichischer und der Amerikaner Ernest Hemingway auf italienischer Seite. Trenker beschreibt in seinem 1931 erschienenen und gleich darauf von ihm verfilmten Roman „Berge in Flammen“ die anfängliche Begeisterung seiner österreichischen Landsleute für ein vermeintlich kurzes kriegerisches Intermezzo, so als zögen sie nur ins Manöver. Es wird für sie zu einer Hölle, besonders im Winter.

Der im Nichts verirrende Blick

Dann ist der Posten in wenigen Minuten von dem dicken Flockenwirbel, der in wachsender Höhe an ihm hinaufgreift, eingehüllt, er mauert ihn förmlich ein; denn er ist an seinem Platz festgehalten, den er sich nicht nach dem Wetter und der Windrichtung aussuchen kann, den er unter keinen Umständen verlassen darf. Immer tiefer stampfen sich die frierenden gefühllosen Füße in den wachsenden Schneeboden hinein. Das Gewehr ist vereist. Mit verzweifelter Energie starrt der Manndurch den engen Ausschnitt der Schießscharte hinaus, sieht, wie sie langsam zuweht, sich schließt, bis seine Faust durch das Schneegestöber stößt, um dem im Nichts verirrenden Blick Sicht zu schaffen. Der einsame Mann, der eine lange Stunde draußen steht, ist völlig wehrlos, erschöpft. Zu Ende ist seine Kraft. Zwei solche Wachstunden vor dem Feind in der Nacht auf den winterlichen Bergen hält kaum jemand ruhig aus.

In der Hütte auf dem Kleinen Pal ist Mittagspause. Mehr als ein Dutzend zumeist junger Menschen aus unterschiedlichen Nationen schart sich um einen Topf heiße Gemüsesuppe mit Rindfleisch, den die Materialseilbahn nach oben geschafft hat. Sechs Wochen verbringen die Freiwilligen auf dem Berg, machen Laufgräben von Steinen und Erde frei, betonieren eingestürzte Mauern und Schießscharten neu, stellen Hinweisschilder auf, bergen altes Kriegsmaterial.

Einer von ihnen, Alex Kabas, war früher Hafenmeister in Triest. Er ist schon zum 26. Mal hier oben im Einsatz. Er übernachtet nicht in der anderen Hütte wie die übrigen Helfer, sondern 176 hohe Stufen im Stein höher, in einer in den Fels gehauenen Soldatenunterkunft, von der er bei klarem Wetter bis zum Großglockner und zum Großvenediger sieht. Kabas nennt die Kaverne liebevoll „Villa Tropfstein“.

Hier oben auf dem Kleinen Pal lagen sich Österreicher und Italiener vor hundert Jahren auf Rufweite gegenüber. „Man konnte fünf Meter weit voneinander entfernt sein und in der Nacht die Gedanken und den Herzschlag des Gegenübers ahnen“, sagt Kabas. „Ich glaube, das war das Schrecklichste: zu erkennen, dass man vor sich einen anderen Menschen hat. Und morgen oder übermorgen muss ich ihn töten – das ist keine gute Entscheidung.“

Der Wind pfeift um den Gipfel, die Steine sind glitschig, die Holzleitern in die Laufgräben und über rostigen Stacheldraht rutschig. Das Szenario erscheint unwirklich: In dieser Bergidylle, in der Stille der Natur mit ihrer unberührbaren Schönheit tobte jahrelang ein grausamer Kampf auf Leben und Tod. Ein Gefechtsfeld hoch in den Alpen, weit entfernt von den bekannten Schützengräben – scheinbar unerreichbar für den Krieg, und doch ein besonders grausames Kapitel des Weltdramas zwischen 1914 und 1918.

In einem Seitental, gleich hinter dem Kleinen Pal, auf österreichischer Seite, liegen einige Soldatenfriedhöfe verstreut im Wald. Noch einmal sind sie angetreten in Reih und Glied, die Soldaten der Armee einer großen Monarchie: Schmale silberne Kreuze tragen Täfelchen mit zumeist nicht deutschen Namen und sind exakt nebeneinander ausgerichtet. Das Sterbedatum vieler ist gleich: Eine Lawine oder ein Kampf hat ihrem Leben ein Ende gemacht.

Wenige Kilometer landeinwärts zeigt ein Foto im „Museum 1915/18“ in Kötschach-Mauthen einen Lawinenabgang im Dezember 1916 auf der Marmolata: Mehr als 300 Soldaten kamen ums Leben, als der Schnee ein österreichisches Barackenlager fortriss. Gemäß der Idee von Walther Schaumann zeigt das Museum das Umfeld des einfachen Soldaten. „Sie werden bei uns keine glänzenden Waffen sehen, keine schönen Uniformen von Generälen, sondern Gegenstände, die im Laufe der Jahrzehnte von unseren Mitarbeitern gefunden worden sind“, sagt Kustodin Karin Schmid. „Die Dinge sollen sprechen.“

Nicht Helden stellt dieses Museum unterhalb des Plöckenpasses aus, nicht Befehlshaber, Schlachten, sondern den aufs Überleben ausgerichteten Einsatz des Soldaten: wie er Schützengräben in den Fels schlägt, Steige in senkrechte Bergwände haut. Schneebrillen und Tabaksbeutel sind ausgestellt, Reste von Petroleumlampen, Menage-Schalen, Kämme und Gewehre. Fotos zeigen das höchst gelegene Geschütz des Ersten Weltkriegs auf dem Vorgipfel des Ortler, auf 3850 Meter Höhe. In kleinste Teile zerlegt, haben es die Soldaten auf dem Rücken oder mit Maultieren nach oben geschafft und dort wiederum zusammengebaut.

1917 gab es nur zwei Tage ohne Minustemperaturen. Schnee und immer wieder Schnee. Und das alles, weil es galt, um jeden Preis die Berge zu halten oder zu erobern, weil sonst das Land dahinter verloren wäre. Es war ein verbissener Kampf, ein Anrennen gegen die Gipfel und Pässe, das jedes Mal aufs Neue Opfer forderte, ein ewiges Hin und Her am Isonzo-Fluss. Der damals 19-jährige Hemingway, der als Sanitäter auf italienischerSeite eingesetzt war, wurde dabei selbst verwundet. In seinem 1929 erschienenen Roman„In einem andern Land“ verarbeitet er seine Erlebnisse.

„Mein Knie war nicht da“

Die Straße war mit Schutzwällen versehen, weil die Österreicher sie vom jenseitigen Ufer sehen konnten. Durch all den Lärm hindurch hörte ich ein Husten, dann kam das tschu, tschu, tschu – und dann ein Aufflammen, als wenn die Tür eines Hochofens aufgerissen wird. Ich versuchte zu atmen, aber mein Atem blieb weg, und ich fühlte, wie ich sausend meinen Körper verließ, und ich wusste, dass ich tot war. Dann trieb ich dahin, und anstatt dass es weiterging, fühlte ich mich zurückgleiten. Ich atmete, und da war ich wieder. Meine Beine fühlten sich warm und nass an, und in meinen Schuhen war es auch warm und nass. Ich wusste, dass ich verwundet war, und ich beugte mich vornüber und fasste mit der Hand nach meinem Knie. Mein Knie war nicht da. Meine Hand ging hinein, und mein Knie war unten, wo mein Schienbein war.

Viele der dort eingesetzten Soldaten versuchten, der Grausamkeit des Kriegs standzuhalten, indem sie ihre Erlebnisse gleich niederschreiben. Überraschend viele Schriften von damals sind erhalten: Ein deutscher Blogger etwa veröffentlichte 100 Jahre danach die Einträge in die Kriegstagebücher seines Urgroßvaters im Internet. Ein anderer Text stammt von dem aus der Steiermark gebürtigen Hans Pölzer. Er hatte schon früh begonnen, sich literarisch zu betätigen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich der gerade 19-Jährige freiwillig an die Front. In einem schmalen Band beschreibt er seinen Einsatz unter dem Titel „Drei Tage am Isonzo“. Darin erzählt er realistisch und detailgenau so grauenerregende Szenen, dass die Zeilen nur als Antikriegstext verstanden werden können. So wie Hemingway wird auch Hans Pölzer verwundet. Am Schluss von „Drei Tage am Isonzo“ schreibt er: Im Spital, da ich meinen Schädel einmal mit Muße betrachtete, fand ich zahlreiche weiße Haare; ich glaube, ich habe sie an jenem letzten Tag da unten bekommen.

Möglicherweise wäre Hans Pölzer später ebenfalls Schriftsteller geworden. Doch er fällt, 21-jährig, Ende 1917 in der letzten, der 12. Isonzoschlacht. So wie eine Million andere auch an dieser Front. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2016)

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