In den kleinen Kasachstans

„Expedition Europa“: wenn Deutsche und Griechen Freunde werden – in Mittelasien.

Dass wir eines der raren Beispiele deutsch-griechischer Freundschaft den Stalinschen Deportationen ganzer Völker in die kasachische Steppe verdanken, darauf wäre nicht einmal ich gekommen. Ich kam nur deshalb drauf, weil ich mir im ärgsten Russenghetto Deutschlands die Birne wegblasen wollte.

Nirgendwo war der Anteil sowjetischer Spätaussiedler so hoch wie in Lahr, beinahe ein Viertel der badischen Kleinstadt. Im Netz fand ich Reportagen: Diskoverbot für Russen, „gibt nur Stress“; immer mehr Russlanddeutsche im Jugendknast; eine Sozialberaterin nur für „Klein-Kasachstan“; Plastikblumen in der Auslage und zehn Sorten Wodka im Regal; Tabletten und Heroin, weil „Kiffen ist was fürdeutsche Weicheier, bei Russen muss es richtig knallen“; 58 Polizisten mehr „zum Schutz vor gewalttätigen Aussiedlern“. Nach 2008 keine Berichte mehr.

Am Fuße des Schwarzwalds angekommen, wurde mir gleich fad. Die gelbgrauen Zinskasernen am „Kanadaring“, 1993 von kanadischen Soldaten verlassen, wirkten normal deutsch. Oje, dachte ich, die haben sich integriert wie Helene Fischer. Ich ging in Lahrs letzte Russendisko. Alles war original, nur das Publikum jener Samstagnacht war spärlich und ältlich; dieJungen pfeifen auf Russenpop. Immerhin begoss der Inhaber seinen Geburtstag mit mir. Sehr sowjetisch fand ich die schlaue Miene, mit der er mir von seinem einzigen Besuch in einer deutschen Wahlzelle erzählte: Er trat sofort wieder heraus und verlangte statt des aufliegenden Bleistifts einen Kuli. „Ich bin doch kein Trottel, mich betrügen die nicht.“ Auch seine schöne russische Frau stellte sich einen etwaigen Wahlbetrug in Deutschland als händisches Ausradieren von Millionen Stimmzetteln vor.

Brot backen die Usbeken

In einer anderen Nacht streifte ich durch Menidi. Der Inhaber der Lahrer Russendisko hatte mir von seiner südkasachischen Heimatstadt Schetissai erzählt: „Dort haben zur Hälfte Deutsche und zur Hälfte Griechen gelebt. Die Griechen sind jetzt in Griechenland, seither mache ich jedes Jahr Urlaub in Athen.“ Menidi war eine rauhe Athener Vorstadt, viele Autowerkstätten, vom Flanieren riet man mir ab. Einer von vier geschorenen Burschen schrie etwas aus einer Karre heraus. Schätze, etwas Ordinäres. An jeder Ecke konnte wer Russisch, viele hatten kasachischen Deportationshintergrund. Einige bestätigten mir, dass sie zwei Jahrzehnte nach der Aussiedlung noch Freundschaft zu ihren Deutschen in Deutschland pflegten.

Auf einem Gehsteig stand ein sehnigerAlter in einem Trainingsanzug „Admiral“. Er grillte entspannt Hammelfleisch und Feta. In seinem nüchternen Café dahintereine Festtafel mit Wodka und aufgegossenem Johnny Walker. Männer in ihren Fünfzigern und Sechzigern, Pontosgriechen aus der Gegend von Schetissai. Einer feierte Namenstag. Ein Gratulant in Military-Jacke kroch unter dem Tisch durch. Sie luden mich ein.

Sie holten eine dreisaitige Lyra hervor, einer mit edel geschwungener Nase begann zu singen. Getragene Balladen in pontischem Griechisch, die so alt sein mochten wie Euripides' auf der Krim spielende „Iphigenie“; da lebten die Pontier schon am Schwarzen Meer. Bald sangen und tanzten sie alle. „Stinjasu!“, prosteten sie, und einer sagte oft: „Mein Blut.“ Drei Ukrainerinnen kellnerten. Groß und blass, in ihren Dreißigern, sinnlich, hergekommen durch dann gescheiterte Ehen. Eine war aus dem Kriegsgebiet Donbass. Sie trank Wodka mit, blickte mit zerbrechlich-suchender Anhänglichkeit um sich. Nachts wurde Fladenbrot gebracht, heiß, weich und duftend. „Das backen uns die Usbeken“, erklärten die stolzen Pontier. „Dafür haben wir sie aus Kasachstan geholt.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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