Der alte Wilde und die Musik

Das störrische, unangepasste Kind. Der Deserteur als Hüttenwirt im Karwendel. Der Student, der Vortragende mit hinterfotzigen Fragen aus dem Konzept bringt.Der Komponist, der sich in seinem Garten mit eigener Hände Kraft eine kleine Kapelle baut. Friedrich Cerha zum 90. Geburtstag.

Vor ein paar Monaten im Großen Saal des Wiener Konzerthauses. Eine Spezialveranstaltung vonMartin Grubingers famosem Percussion Planet Ensemble. Am Beginn Friedrich Cerhas „Etoile“, dem jungen Schlagwerkvirtuosen gewidmet. Allein der Aufbau der Instrumente nimmt vier Stunden in Anspruch. Das Werk selbst dauert eine knappe halbe Stunde und ist von der ersten bis zur letzten Minute eine Überraschung. Wie hier „Suspense“ erzeugt, Erwartung geweckt und enttäuscht wird, mit welcher Fantasie die Instrumente klanglich ausgereizt sind, mit welchem Vergnügen Tierlauteffekte, Sirenengeheul und ein schrecklicher Pistolenschuss zum Einsatz kommen, weist den Komponisten nicht nur als Meister aus, sondern vermittelt eine souveräne Heiterkeit. Eine Heiterkeit, die bereits „von anderen Planeten“ zu künden scheint.

Der alte Wilde und seine Musik. Ich habeihn einmal gefragt, ob man an der musikalischen Ausdrucksweise erkennen könne, ob ein Komponist eine intensive Beziehung zur Natur hat. Nachvollziehbarkeit sei ihm immer wichtig gewesen, hat er mit der üblichen Zurückhaltung geantwortet, die „innere Logik“ einer Komposition beschäftige ihn sehr; „Entwicklungsvorgänge“ sollten in seinen Werken für die Hörer „eine stets erlebnismäßig fassbare Rolle spielen“. Sein eigener Weg als Musiker, dessen Instrument die Geige war, seine Leidenschaft für die Singstimme, auch eine intensive Beziehung zu Dichtung, speziell zu Lyrik, waren wohl ein Kompass, der half, gegenüber dem strengen seriellen Kurs der Darmstädter Schule kritisch zu bleiben, ohne auf die dort empfangenen, entscheidenden Anregungen zu verzichten. In dieser Mischung sind wahrscheinlich die Eigenart, der Reichtum und gewissermaßen die menschliche Dimension von Cerhas Musik begründet.

Friedrich Cerha und die Natur. Das Domizil im halb verwachsenen Jugendstilhaus in Hietzing, mit dem großen Garten, wo im Glashaus die Kakteensammlung gehegt wird. Der verschwiegene Sommersitz hoch über der Donau, südlich der Wachau, wo der Kuckuck nicht die übliche kleine Terz ruft, sondern zuweilen sogar einen Tritonus – zum Wohlgefallen des Komponisten. Die Kapelle – ein heimliches Hauptwerk des Friedrich Cerha, eigenhändig erbaut nach dem Vorbild der steinernen Kapellen, die er auf Kreta bewundert hat. „Einen Ort der Stille und Meditation“ habe er sich schaffen wollen. Die jahrelange, schwere körperliche Arbeit war vielleicht wichtiger als das Ergebnis, das freilich überwältigt: ein magischer Raum voll von archäologischen Fundstücken, mit einem selbstbehauenen Altarstein aus rosa schimmerndem Carraramarmor. Beim Werkzeugkauf hatCerha der Bildhauerfreund Karl Prantl beraten. „Die Materialien schaffen eigentlich schon die Regeln, sie tragen sie in sich, und man muss ihnen nachspüren. Das ist in der Musik genauso.“ Ob ein „Ort der Stille und Meditation“ nicht auch einfacher zu haben gewesen wäre? „Die Leichtigkeit des Lebens war für mich nie ein Kriterium.“

Was Menschen Menschen tun können

Ein Wilder war Cerha von Anbeginn. Ein störrisches, unangepasstes Kind, von der Mutter, die wohl um seine Entwicklung besorgt war, mit besonderer Strenge behandelt. In dieser Situation entwickelte er früh das Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, daher seine „kritische Einstellung gegenüber herrschenden Meinungen“: „Ich konnte mich nie irgendwo als Mitglied fühlen.“ Vom Vater, Elektriker von Beruf, wurde der Bub mit großer Liebe im selbstständigen Denken gefördert, in seinen Interessen bestärkt. Als Siebenjähriger bekam er Geigenunterricht, als Neunjähriger begann er zu komponieren, und als er mit elf aus eigenem Antrieb in der Musikschule Hernals vorsprach, weil er bemerkte, dass ihm dafür die Grundlagen fehlten, pfiffen ihn die Eltern nicht zurück.

Bei den Großeltern, Weinbauern und Weinhändler in der Nähe von Zistersdorf,viel Freiheit, viel Kontakt mit Menschen, die ganz anders waren: slowakische Dienstboten, fliegende Handwerker und Händler, „Zigeuner“; unwiderstehliche Neugier auf deren ungebundenes Leben.

In Wien das Heraufdämmern des Nationalsozialismus, das prägende Erlebnis des Februars 1934, als der Vater ihn an die blutigen Schauplätze des Bürgerkriegs führte, auf dass er nie vergesse, „was Menschen Menschen tun können“.

Religion besitzt in Cerhas Leben große Bedeutung. Er wuchs katholisch auf, ging am Sonntag in die Messe, begleitete aber auch seinen jüdischen Schulfreund am Sabbat in die Synagoge. „Das Judentum hat mich fasziniert, weil es die einzige monotheistische Religion ist, die keine Mission betrieben hat.“

Friedrich Cerha gehört zu jener fast ausgestorbenen Generation, die den Krieg als Soldat mitgemacht hat. Im November 1944 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und zur Offiziersausbildung nach Dänemark geschickt. Anfang 1945 ist er zweimal desertiert. Beim ersten Mal wurde er erwischt und an die Front nach Pommern versetzt. Beim zweiten Mal konnte er sich zu Fuß nach Österreich durchschlagen, lebte als Hüttenwirt auf dem Lamsenjoch im Karwendel und als Bergführer in den Ötztaler Alpen.

Im November 1945 kehrte er nach Wien zurück. Das subversive Potenzial seiner Persönlichkeit fand in der Folge den idealen Nährboden am legendären Tonhof von Maja und Gerhard Lampersberg in Maria Saal. Ein intellektuelles Biotop, in dem alles möglich und erlaubt schien. Die vorsätzlich ad absurdum geführten Streitgespräche, in denen man„das konstante Negativieren“ kultivierte – wer hätte vermutet, dass Thomas Bernhard diesen Konversationston zum Stilmittel erheben würde? Wer hätte überhaupt gedacht, dass man sich damals in einem Zirkel bewegte, der aus heutiger Sicht das Who's who der österreichischen Kulturgeschichte der 1950er- und 1960er-Jahre versammelte?

Der schöpferische Kosmos aus Musik, Literatur und bildender Kunst, den Cerha am Tonhof genoss, blieb fortan bestimmend. Freundschaften, über alle Sparten hinweg. Freundschaften fürs Leben, manche schon in der Kindheit und Jugend geschlossen, etwa mit Adolf Frohner und Hans Kann. Freundschaften, wie sie heute kaum mehr vorstellbarsind, von Neugier und neidlosem Interesse getragen; vor allen anderen mit György Ligeti, der in einem eigenen Aufsatz ausführte: „Warum ich meinen Freund bewundere“.

Der bereits erwähnte Karl Prantl. Ein prachtvoller weißer Marmorblock markiert die Einfahrt zum Haus in Maria Langegg; ein Geschenk Prantls anlässlich der ersten Gesamtaufführung von Cerhas „Spiegel“-Zyklus. In der Komposition „Monumentum“, uraufgeführt 1989 in der Felsenreitschule, hat er ihm seinerseits einen Denkstein gesetzt. „Die radikalsten Stücke der musikalischen Statik“, befand Ligeti.

Wie Prantl und Ligeti sind die meisten der Freunde längst gegangen. Der wichtigste Mensch aber ist immer noch an Friedrich Cerhas Seite: Gertraud, allgemein Traude genannt, kaum jünger als er, mit ebenso wachem Geist und bewundernswertem Gedächtnis; Mutter der beiden Töchter. Als Musikpädagogin und später als Dozentin an der Musikhochschule hat sie fast 40 Jahre lang entscheidend zum Familieneinkommen beigetragen. Als Pianistin und Cembalistin sowie als engagierte Publizistin hat sie die Arbeit ihres Mannes kompetent begleitet und nach außen hin vertreten. Sie hat das Ensemble „die reihe“ mit aufgebaut, legendäre Kämpfe mit Veranstaltern ausgetragen und war für die Außenwelt stets erste Anlaufstelle. „Zwölfton-Einzi“ hat man sie manchmal genannt. Sie wusste es als Kompliment zu nehmen.

Immer noch managt sie Büro und Haushalt, hält ihm alles vom Leib, was ihn in dem schöpferischen Kontinuum stören könnte, das er nun endlich erreicht hat, jetzt, wo er nicht mehr unterrichtet und nicht mehr dirigiert. Sein Ausdrucksspektrum reicht ja über die Komposition weit hinaus. Er ist ein literarisch aktiver und wortgewaltiger Zeitgenosse, der das eigene Werk auf unübertrefflich präzise Weise kommentiert. Und parallel zu seiner musikalischen Produktion ist ein umfangreiches bildnerisches Werk entstanden, mit mehr als 900 Öl- und Materialbildern und unzähligen Arbeiten auf Papier.

Die musikalische Laufbahn war auf ihrer Seite übrigens deutlicher vorgezeichnet als auf seiner. Unter ihren Vorfahren gab es zwei Komponisten, die bei Bruckner studiert hatten. Gertraud Möslinger wuchs als Tochter eines Tierarztes in Gmunden auf, im obersten Stock von Schloss Orth, mit weitem Blick über den See – und fand sich in einem finsteren Hofkabinett im sechsten Bezirk wieder, als sie zum Studium nach Wien übersiedelte. Begegnet sind das Schlossfräulein und der junge Wilde einander in langweiligen Lehrveranstaltungen für Musikerziehung an der Akademie, wo sie in der letzten Bank manchmal strickte. Er fiel ihr vor allem deshalb auf, weil er nur sporadisch erschien und dann meist einen provokanten Auftritt absolvierte, indem er den Vortragenden mit hinterfotzigen Fragen aus dem Konzept brachte. Sie schien ihm unter den weiblichen Anwesenden, denen er durchaus lebhaftes Interesse entgegenbrachte, ein eher langweiliges Mauerblümchen: „das strickende Mädchen aus der Provinz“.

Fritz und Traude: „Relazioni fragili“

Wie Fritz und Traude dennoch sehr rasch zusammenkamen, und wie es ihnen gelang, in nunmehr 65 gemeinsamen Jahren, über Krisen aller Art hinweg, ein Paar zu werden und zu bleiben, ist eine eigene Geschichte. „Relazioni fragili“ heißt das Konzert für Cembalo und Kammerorchester, das er ihr gewidmet hat. Er hat vielleicht nicht gleich gewusst oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen, was er an ihr hat, aber inzwischen ist auch das längst Gewissheit. „Unser Verhältnis in der Ehe ist immer harmonischer geworden“, bekannte er 2004 in einem TV-Interview. „Ich hoffe, dass keiner von uns beiden lang allein zurückbleibt.“

Cerhas erfolgreichste Oper ist zweifellos „Baal“, entstanden zwischen 1974 und 1980, nach dem gleichnamigen Stück von Bert Brecht. Darin gibt es die Parabel vom Ichthyosaurus, die Cerha als ersten seiner Baal-Gesänge vertont hat, um den Protagonisten zu charakterisieren: als Anpassungsverweigerer um jeden Preis, selbst um den seines eigenen Lebens. Der Ichthyosaurus wollte nämlich keinesfalls mit anderen im selben Boot sitzen und daher auch die Arche Noah nicht betreten, als die Sintflut kam. Er war allgemein unbeliebt, als er ersoff, resümiert Brecht lakonisch.

Es gibt eine charmante Karikatur von Friedrich Cerha. Sie zeigt ihn als Dirigenten, der Kopf mit der charakteristischen Haarmähne sitzt dabei auf einem Saurier-Körper, der wild und urtümlich aus dem Frack quillt und in grässliche Klauen ausläuft.

Zoologisch betrachtet war der Ichthyosaurus für seine Gattung auffallend klein gewachsen. Er soll aber über ein besonders gutes Gehör verfügt haben. Und dass Friedrich Cerha am heutigen Tag allgemein unbeliebt wäre, kann man gewiss nicht behaupten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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