Der Ruck

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Neuland erkunden, Wagnisse eingehen, aufbrechen ins Offene: wie schön, wie jung, wie mutig! Aber ach, nicht jeder Aufbruch verdient diesen Namen. Woher? Wohin? Eine kleine Philosophie des Aufbruchs.

Nur aus einem Ruhezustand, einer Phase der Immobilität lässt sich aufbrechen. Das Mindeste, was einem Aufbruch vorhergehen muss,ist die Rast, das Äußerste, was zu ihm treibt, kann ein Zustand sein, der ein Verweilen zunehmend unerträglich macht. – Jeder Aufbruch ist ambivalent. Wir können nicht leben, ohne nicht immer wieder zu etwas Neuem aufzubrechen, und doch durchzieht die Trauer des Abschieds so manchen Aufbruch. Dass es Zeit sei, aufzubrechen – wer, der in geselliger Runde diese Mahnung hört, spürt nicht das unangenehm Fordernde des Aufbruchs. Manchmal bricht man auch auf – aus einem Restaurant, aus einer Gesellschaft, aus dem Urlaub, aus der Fremde –, um zurückzukehren. Man war aufgebrochen,um sich, nach einem Abend, einer Nacht, einigen Wochen, einem halben Leben, wieder auf den Weg zu machen – dorthin, von wo man aufgebrochen war.

Das Pathos des Aufbruchs lebt vom Gestus des großen Horizonts: aufbrechen ins Offene, sich dem Risiko des Ungewissen aussetzen, Neuland erkunden. Ins Unbekannte aufzubrechen versetzt uns in eine andere Spannung als ein routinierter Wechsel des Ortes. Der Aufbruch oszilliert so immer zwischen Erwartung und Abschied, zwischen Zukunft und Herkunft, zwischen Hier und Dort, zwischen Stillstand und Bewegung. All diese Begriffe und ihre Spannungsverhältnisse, die sich der Logik des Ortswechsels verdanken, behalten ihre Gültigkeit als Metaphern für unser Denken und Leben. Es gibt den physischen und den geistigen Aufbruch, es gibt den Aufbruch von Individuen und Organisationen, es kann ein Ruck durch eine Gruppe und durch ein ganzes Land gehen. – Allerdings: Die Moderne versteht sich als Gesellschaft in Bewegung. Sie ist immer schon aufgebrochen, hat erstarrte Verhältnisse hinter sich gelassen, alles Stehende und Ständische zum Verdampfen gebracht. Und seitdemheißt es: nur nicht verharren, nur nicht innehalten, immer dynamisch bleiben, immer vorwärts. Die schöne Spannung zwischenStillstand und Bewegung, zwischen Innehalten und Weitergehen, zwischen Verweilen und Aufbrechen, zwischen Muße und Aktivität geht in einer Zeit verloren, in der Unterwegssein zur einzig legitimen Daseinsform erklärt wird.

Um in solch einer Gesellschaft überhauptwieder aufbrechen zu können, müssten erst die Orte und Zeiten der Ruhe, der Muße, der Kontemplation geschaffen und aufgesucht werden können, die jene Erfahrung erlauben,die jeden Aufbruch grundiert: Jetzt, nach einer Phase des Verweilens, ist es Zeit zu gehen. Erst dann könnten wir auch wieder fragen: Und wohin soll es gehen? – Aus einer Bewegung aufzubrechenerfordert so zumindest eine Zäsur; eine Unterbrechung; eine Rast. Diesemag nur dem erschöpften Körper, dem müden Geist wieder die Kraft zum Weitergehen verschaffen, siekann aber auch einen Punkt markieren, an dem man die Ziele neu definiert. So wie der Wanderer, der sich verirrt hat oder aufgrund geänderter Verhältnisse eine Rast einlegt, um sich neu zu orientieren, und dann, mit anderem Ziel und neuen Kräften, aufbricht, so könnten auch Menschen, Unternehmen und Kulturen ihre Rastlosigkeit unterbrechen und wenigstens kurz innehalten, um sich über ihre weitere Vorgehensweise klar zu werden, und dann vielleicht in eine andere als die bisher eingeschlagene Richtung aufbrechen.

Vielleicht sollte man den Phasen, in denen sich Einzelne oder Gemeinschaften über die Richtung ihrer Entwicklung klar werden wollen, vielleicht sollte man all den Diskussionen um Standortbestimmungen und Zielvorstellungen wieder verstärkt den Charaktervon Unterbrechungen und Moratorien geben,die es dann erlaubten, eine gelungene Neuorientierung, eine Änderung der Ziele und Perspektiven auch als Aufbruch, als einen Neubeginn, als bewusste Entscheidung zuerfahren und zu zelebrieren. Jeder Aufbruch bedarf auch seiner Rituale. Die Gesten des Abschieds von dem, was man zurücklässt, gehören ebenso dazu wie die Formen und Formeln, durch die man sich seiner inneren und äußeren Bereitschaft versichert, einen neuen Schritt zu wagen.

Im Selbstverständnis unserer Gesellschaftund ihrer Akteure ist für solche Zäsuren und ihre Rituale allerdings kein Raum mehr. Der von allen akzeptierte Imperativ des bedingungslosen Immerweiter erlaubt kein Innehalten, schon gar keine Umkehr. Die Fortsetzung noch der unsinnigsten Reform wird ja gerne mit dem Hinweis begründet, dassman doch nicht zu alten Zuständen zurückkehren könne. Das ist ungefähr so plausibel wie die Empfehlung an einen Autofahrer, der sich in eineSackgasse manövriert hat, doch unbedingt weiterzufahren, notfalls auch gegen eine Wand, denn er werde doch nicht umdrehen wollen und dorthinzurückkehren, wo er schoneinmal gewesen ist. Innehalten, um Fehlentwicklungen zu korrigieren, erfordert auch den Mut, Denk- und Atempausen einzulegen, Distanz zu gewinnen und notfalls zu einem Ausgangspunkt zurückkehren, um von dort eine andere Richtung einzuschlagen.

Die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch erwächst so aus einer Phase der Ruhe und Besinnung, die vielleicht noch immer am besten mit dem etwas aus der Mode gekommenen Begriff der Muße gekennzeichnet ist. Das altgriechische Wort für „Muße“ war „scholé“, von dem sich auch unsere „Schule“ ableitet. Es bezeichnete ursprünglich dieStätte, an der man sich aufhielt, wenn man nicht arbeiten musste. Diese Muße war allerdings alles andere als ein Nichtstun. Sie war keine leere Zeit, die mit Zerstreuungen aller Art gefüllt werden musste, sondern die Zeit, über die man frei verfügte und die man konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnte, die ihren Wert in sich trugen undnicht Mittel für einen Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundschaft, Erotik. Im Müßiggang des Flaneurs mag sich dieses Konzept als Randphänomen auch in die Moderne gerettet haben. Der absichtslose wie dennochhöchst aufmerksame Müßiggang ist dann auch die einzige Bewegung, die in einen Aufbruch umschlagen kann: wenn es irgendwann dann doch etwas zu tun gibt.

Eine Gesellschaft, die sich diese Muße nicht mehr leisten kann, wird aber der Kraft zu einem wirklichen Aufbruch ermangeln. Sie wird wohl in Bewegung bleiben, aber nirgendwohin mehr aufbrechen können. Das ständig präsente Gefühl, von Märkten, Innovationen, dem Wettbewerb und der Konkurrenz getrieben zu sein, die omnipräsente Angst, sofort zurückzubleiben und alles zu verlieren, gönnte man sich nur eine Pause, die fatalistische Vorstellung, dass man nicht der Gestalter der Zukunft wäre, sondern nur auf deren „Herausforderungen“ reagieren könne, die Zustimmung zu einer Welt, in der angeblich die Sachzwänge kaum noch Alternativen zuließen – all dies sabotiert jeden Gedanken an Reflexionsphasen und an ein Innehalten, das den Boden bereiten könnte für einen Aufbruch, der diesen Namen verdient.

Dabei gibt es zahlreiche Fragen unsrer Gesellschaft, für die das Immerweiter unddessen Beschleunigung wohl nicht mehr die beste Lösung darstellen. Die Fetischisierung von Wachstum und Wettbewerb zählt ebenso dazu wie die fantasielose Fortschreibung des europäischen Projekts als bürokratische Anstalt. Dass die Fortschritte von Automatisierungstechnologien im Zuge der digitalen Revolution ein Überdenken unseres tradierten Konzeptes von Lohnarbeit ebenso notwendig macht wie eine Neuorientierung in den Fragen von Bildung und Ausbildung,scheint einerseits unabdingbar, andererseits gönnen wir uns kaum die Zeit, diese Fragen zu diskutieren. Lieber verfallen wir in einen Reformaktionismus, der in der Regel wenig klärt, viel Verwirrung stiftet, bürokratische Selbstläufer freisetzt und die Menschen am Denken hindert. Muße als Chance, Dinge zu reflektieren, erfordert auch den Mut und die Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlich auch hinwill. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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