Was ich alles nicht geworden bin

Die Presse (Clemens Fabry)
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Möbelhändler, Priester, Dolmetsch,Bauer, Schriftsteller, Professor, Zukunftsforscher, Sozialkapital-Pionier? Nein, ich möchte nichts mehr werden. Jetzt bin ich 90. Eine Lebensbilanz.

Von der Herkunft österreichisches Bürgertum, mit Verwandten, die Rechtsanwalt und Juwelier, Schuldirektorin und hoher Eisenbahn-Beamter waren, mit dem Haus der Mutter in der Salzburger Getreidegasse und einer väterlichen Tischlerei hätte ich – wäre die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stillgestanden – wohl eine Laufbahn als Geschäftsmann eingeschlagen. Als Möbelhändler etwa, denn die Tischlerei hätte mein älterer Bruder Fritz übernommen, der, 1911 geboren, schon beim Vater in die Lehre ging, als ich 1926 zur Welt kam.

Doch da war bereits die „gute alte Zeit“ zerbrochen. Mein Vater kam aus dem Ersten Weltkrieg als Alkoholiker zurück, und die Wirtschaftskrise vernichtete seinen Tischlereibetrieb. Er verdingte sich in einer Firma. Die Ehe meiner Eltern zerbrach. Fritz wurde arbeitslos und „ging auf die Walz“ als „ziehender Handwerksbursch“ in Deutschland. Meine drei Schwestern hatten auf dem großbürgerlichen Heiratsmarkt keine Chancen mehr und „gingen in Dienst“, wurden im Gastgewerbe berufstätig. Kurz, ich wuchs in einem dramatisch verarmten Milieu heran.

Jedoch das katholische bürgerliche Regime des Österreich zwischen Hitler und Mussolini fing mich vor dem sozialen Absturz auf: 1936 wurde ich als „begabtes Kind“ in die Bundeserziehungsanstalt (BEA Breitensee) in Wien aufgenommen. Ich lernte stolz Latein und sang tief berührt Kirchenlieder in der Marianischen Kongregation. Wäre die Zeit stillgestanden, lag für einen religiös berührten und familiär wie beruflich desorientierten jungen Menschen eine klerikale Laufbahn nahe. Ich wäre gern Priester geworden, am liebsten gleich Missionar. Aber da war schon der katholische Ständestaat Österreich„heimgeholt ins Reich“.

Mein Bruder Fritz, der vor der Arbeitslosigkeit bereits in der paramilitärischen Österreichischen Legion des deutschen NS-Regimes Asyl gefunden hatte, konnte uns wieder offen besuchen, dann schon in einer schwarzen SS-Uniform – aber nicht sehr glücklich. Auch ihm war, wie uns allen, klar: „Die Zeit ist nicht mehr gut.“ Die Zeichen an der Wand verkündeten Gewalt und Krieg, Grausamkeit.

Die katholische BEA wurde eine Nazi-Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) zur Dressur von Rassenkämpfern – ich flog als untauglich hinaus. Meine Mutter war schon zu meiner Schwester Hilde nach Maria Enzersdorf gezogen – auch meinetwegen. Zuerst noch in einigen Schulinternaten, schließlich bei ihr, schlug ich mich bis zur „Kriegsmatura“ durch. Es war Krieg, von meinem 13. bis zu meinem 19. Lebensjahr. Der Unterricht war elend, viele Lehrer waren eingerückt zum Wehrdienst, andere verrückt vor Fanatismus oder Angst. Mit 16 holte man uns Schüler zur Heimat-Flak, mit 17 wurden wir eingezogen zu Arbeits- und Wehrdienst.

Ich entkam dem allen, durch vorgetäuschte Krankheit, zunehmend besser geübt in Schläue, medizinischer Simulation und Yogi-Tricks. Ich lernte für mich viel Englisch und Russisch, auch in Kontakten mit Kriegsgefangenen und Flüchtlingen. Meine Idee war, nach dem Krieg zum Studium auszuwandern, nach Amerika oder auch Russland, dessen Kultur und Literatur mich ebenso beeindruckten wie die englischen Klassiker.

Man wusste, wenn auch nicht im vollen Umfang, von dem brutalen Morden im rassistischen Wahn. Wir fühlten uns auch in der Familie betroffen. Mein Bruder Fritz, der sich in einer bedrückenden Aussprache bei uns als tief enttäuscht von der feigen Tötung Wehrloser eröffnete, fiel bald darauf in Russland. Meine Idee wurdeimmer fixer, aus dieser verrückt gewordenen Gesellschaft zu emigrieren – und vielleicht in den Siegerstaaten Deutsch-Dolmetschzu werden. Auf den Toiletten der Kasernen las ich verbotene Bücher. Noch1944 wurde ich infolge einer vorgetäuschten Epilepsie als „wehr-untauglich“ aus der Wehrmacht entlassen. In dem Klima des tiefen Misstrauens auch unter Nachbarn machte ich mich – schon im Chaos des Zusammenbruchs – auf, gegen Westen. In Oberbayern begrüßte ich im Frühjahr 1945 die amerikanischen Panzertruppen und erbettelte mir einige Taschenbücher. Diese las ich dann, neben dem händischen Butterrühren bei dem Bauern, bei dem ich Zuflucht gefunden hatte und Heimat für mehr als ein Jahr.

Ich lernte dort Kühe melken, mit der Sense mähen und Heu machen, Holz fällen und Brot backen – und eine vorindustrielle Landkultur, misstrauisch gegen mein Bücherlesen und gegen alle Dogmatik, rechts, links oder religiös. Das nahm mich gefangen, „backto the roots“. Es stand für mich fest, dass ich Landwirt werden wollte. Der einfachste Weg,eine junge Hoferbin zu umgarnen, hätte sich fast angeboten – aber die kulturelle Barriere war zu groß. So kehrte ich nach Wien zurück und studierte, zusammen mit einem Jungbauern aus Laxenburg, an der Hochschule für Bodenkultur. Auf seinem Hof lebend, molk ich am Morgen die Kühe, bevor ich mit dem Rad zu den Vorlesungen fuhr.

Als ich das Diplom als Agrar-Ingenieur bekam, war ich schon Guts-Adjunkt auf dem „Gutenhof“ südlich von Wien und auch schon verheiratet. Den burgenländischen Saisonarbeiterinnen, die das Unkraut von den Zuckerrüben und Erdäpfeln weghackten, erzählte ich Geschichten und lernte von ihnen Kroatisch. Meine Laufbahn in der Urkultur des Landbaus bis hin zur Pension auf einem eigenen kleinen Landgut – nach dem ich Ausschau hielt – schien gesichert.

Da brach freilich die neue „Maschinenzeit“ an. Der Traktor verdrängte das Pferdegespann, die Melkmaschine die Hand am prallen Euter. Und statt der singenden Rübenhackerin saß nun eine junge Frau angestrengt steuernd auf der Hackmaschine, stundenlang im Auspuffgas des Traktors – man verdiente aber etwas mehr als früher. Und der Kampf um Arbeitsplatz und Lohn begann. Immer vor der Ernte wurde gestreikt. Da kammir mein Buchwissen zupass: Ich schrieb für die „Arbeiter-Zeitung“ Artikel über den ländlichen Teil der Arbeiterklasse, sodass mich schließlich Oscar Pollak, der Chefredakteur, einlud, Journalist zu werden. Ich nahm an, wollte aber mehr: ein Schriftsteller der neuen Zeit werden.

Die AZ veröffentlichte auch schon meinen „Roman einer Landarbeiterjugend“ in Fortsetzungen. Man drängte mich aber weg von dem romantisierenden Stil der frühen Arbeiterkultur: hin zu der neuen wissenschaftlichen Zeitkritik mit Statistikenund exakten Analysen, im Dienste von Sozialstaatund Wirtschaftswachstum. Unversehens war ich ander Uni Wien in Soziologie inskribiert. Während ich noch Solschenizyn für die Zeitung übersetzte, verließich das Landleben und versuchte mich in Wien füreine amerikanische Firma im „programmierten Unterricht“, trennte mich von meiner ersten Familie und gab sogar meinen Job als AZ-Redakteur auf – lange bevor diese ruhmreiche Zeitung selbst endete.

Der Wirbelwind des Wirtschaftswunders hatte auch mich erfasst. Noch wollte ich, der Bildungsbürger-Tradition verhaftet, ein Universitätsprofessor werden – und assistierte dem aus den USA zurückgekehrten Soziologen Leopold Rosenmayr als „Research Associate“. Doch dann bot mir Karl Blecha die Zusammenarbeit beim Aufbau des Umfrageunternehmens IFES an, wo ich über Jahrzehnte in der Markt- und Meinungsforschung engagiert blieb. Was ich da nicht geworden bin, zählt nicht viel: nicht Politiker wie Blecha, der Minister wurde, nicht Symbol wie Lazarsfeld mit seiner Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, nicht wenigstens Vater einer Ministerin wie Karmasin, nicht einmal wohlhabend, wie man es von einem Marktforscher erwarten könnte.

Aber ich bin zufrieden. Als Neunjähriger wurde ich befragt, was ich einmal werden wolle. Und ich sagte ohne Zögern: „Pensionist.“ Das bin ich nun 20 Jahre, seit 1996.

Mit 70, vor der Jahrtausendwende, als ichin Pension ging, dachte ich nicht an „Ruhestand“, sondern an die „große Freiheit“. Und auch das Zeitalter passte dazu: Der Eiserne Vorhang war gefallen, Informatik und Elektronik eröffneten eine neue Zukunft, faszinierend, aber auch bedrohlich. Da wusste ich auch, was ich werden wollte: Kassandra, warnender Zukunftsforscher. Im neu gegründeten „Club of Vienna“ verkündeten wir die „autofreie Stadt“, und ich schrieb das Buch „Reich und Grün“, als Zukunftsmanifest.

Die große Wende war aber schon vorbei. Das neue Jahrtausend brachte bald die Wirtschaftskrise. Und der Aufbruch in die Zukunft versackte in der Realpolitik der kleinen Reparaturen und des Dämmebauens gegen Krieg und Terrorismus, Arbeitslosigkeit und die Auflösung alter Ordnungen. Die Zukunft hatte schon begonnen, und Therapien waren gefragt statt Szenarien.

Da griff ich nach einer neuen Herausforderung. Auf globaler Expertenebene sah manin der Auflösung von Gemeinschaft aller Ebenen ein Menschheitsproblem und rief zurwissenschaftliche Festigung des „Cement of Society“ auf – gegen eine „soziale Klimakatastrophe“. Das Sozialkapital des „Herzens“ und das Humankapital des „Hirns“ wurden gleichwertig zum Finanzkapital der „Börse“ hingestellt. Ich engagierte mich mit Begeisterung. Das Bildungsministerium unddie Pädagogischen Hochschulen unterstützten die neue „angewandte Sozialforschung“. Für die Messung von Sozialkapital entstanden bald Onlineprogramme mit sofortiger Auswertung für ganze Gemeinschaften. Und sie wurden schon 2010 vielfach angewandt, in Schulen, in Geriatriezentren, bei Langzeitarbeitslosen.

Ich sah mich schon als Pionier der neuen Sozialkapital-Praxis, der „Bottom-up Action Research“, einer Symbiose von exakter Messung und davon geleiteter Praxis, in einem „Learning System“. Wie die moderne Medizin schien die moderne computergestützte Soziologie imstande, Schwächen des Zusammenlebens durch gezielte Diagnose und Therapie zu kurieren und zu vermeiden, von der Familie bis zur Weltpolitik. Sicherlich nur in einer längeren, mühsamen Entwicklung – aber die „neue Welt“ schien entdeckt. Und ich wollte in der Crew des neuen Kolumbus sein.Doch auch Kolumbus erreichte nicht Indien, und das Sozialkapital-Programm landete gar nur auf ein paar armseligen Inselchen. Begriff und Theorie wurden von der akademischen Wissenschaft nicht aufgenommen. Dieöffentliche Finanzierung zog sich zurück. Weder die „sozial“ orientierte noch die „kapitalnahe“ Politik benützt den zweiseitigen Begriff. Am ehesten greifen vereinzelt humanitäre Gemeinschaften heute darauf zurück.

Nun bin ich 90. Mit meiner dritten Frau, Botanikerin und Shiatsu-Praktikerin, schaue ich mich noch gern nach Möbeln für unsere Wohnung um, wo wir auf der Terrasse Gemüse und Salat bauen und Tee und Gewürze ernten. Bei islamischen Religionslehrern predige ich Integration, und mit tschetschenischen Flüchtlingen rede ich Russisch. Nur für den Lehrauftrag an der TU, bei kommenden Architekten und Planern, bin ich schon zu alt geworden. Und wenn Staat und Gesellschaft neuerlich um den sozialen Zusammenhalt besorgt sein sollten, gibt es nun genug „akademisches Prekariat“, das auch dieses Feld preisgünstig beackert. Pioniere der nächsten Epoche werden andere sein – oder die elektronischen Medien. Kurz, ich möchte nichts mehr werden.

Was ich nicht geworden bin: Möbelhändler, Priester, Dolmetsch, Bauer, Schriftsteller, Universitätsprofessor, Zukunftsforscher, Sozialkapital-Pionier. Oder doch ein wenig von dem allen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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