Die Straße zum ewigen Leben

Seine Frage lautete nicht: Wie sieht der Mensch das Tier?Sondern: Wie sieht das Tier die Welt? Seine Kunst war zukunftsweisend. Nicht aber systemändernd. Vor 100 Jahren fiel Franz Marc, 36-jährig, vor Verdun.

Die Fotos zeigen drei Nackte, in einer Wiese sitzend oder auch mehr liegend. Ein Mann und zwei Frauen: Die eine, hübsch und schlank, reckt sich kokett in Richtung Linse. Die andere, pummelig, beugt sich nach vorne, in defensiver Haltung. Die Bilder wurden 1906 am bayrischen Kochelsee aufgenommen: Die Unbekleideten sind der Maler Franz Marc, flankiert von seinen beiden Geliebten, der schönen Marie Schnür und der untersetzten Maria Franck. Letztere, vier Jahre älter als Franz, sollte seine zweite Ehefrau werden. Die „erstgefreite“ Marie, elf Jahre älter als er, hat er bereits am Abend der Hochzeitsnacht verlassen, um mit dem Zug alleine nach Paris zu reisen.

Komplizierte erotische Verhältnisse, offen dargelegt, verrät ein Brief Marcs an Maria Franck: „Gestern im tiefen Wald, bei silbernem Mondschein, schluchzte ich auf einmal so bitterlich in Annettes Schoß (die alles weiß und die ich liebe, wie sie mich liebt). Ich weiß ja, ich darf es Dir sagen. Diesen fabelhaften Geist bann ich niemals mehr aus meinem Leben, und wenn ich ihren süßen kleinen Schoß einmal küssen will, bist Du mir nicht gram, nicht wahr?“ Annette von Simon war in der Zeit, als der junge Marc noch im Münchener Stadtatelier in Schwabing werkte, seine um neun Jahre ältere Geliebte. Als Kunstschriftstellerin, Textilkünstlerin undGattin eines Professors verschaffte sie ihm erste Verkäufe, die der mittellose Maler damals dringend benötigte. Erst 1910 besserte sich die finanzielle Schieflage: Bernhard Koehler, ein Verwandter seines Malerkollegen August Macke, überwies Marc monatlich pauschal 200 Mark, wofür er regelmäßig Bilder bezog.

Doch zurück in die Gefilde des Emotionalen: Vielleicht auch, um den verwirrenden Liebesverhältnissen zu entkommen, jedenfalls um einer inneren Reinigung willen, reiste Marc noch 1906 mit seinem Bruder auf den Berg Athos. Ohne Frauen. Die Suche nach dem Spirituellen wird ihn ein Leben lang begleiten. Doch dafür, dass er alleine aus seiner Kunst Sinnlichkeit bezogen hätte, dafür war Marc zu attraktiv. Kollege Wassily Kandinsky schildert ihn so: „Er lebte damals in einem Bauernhaus in Sindelsdorf (Oberbayern, zwischen Murnau und Kochel). Bald entstand eine persönliche Bekanntschaft, und wir sahen, dass sein Äußeres seinem Inneren vollkommen entsprach: ein großer Mann mit breiten Schultern, mit festem Gang, mit einem charaktervollen Kopf, mit eigenartigen Gesichtszügen, die eine seltene Verbindung von Kraft, Schärfe und Milde zeigten. In München erschien er zu groß, sein Gang zu breit. Er machte den Eindruck, die Stadt wäre ihm zu eng. Seiner freien Natur entsprach das Land, und es war für mich immer eine besondere Freude, ihn mit einem Rucksack auf dem Rücken, mit einem Stock in der Hand durch Wiesen, Felder und Wälder marschieren zu sehen.“ Kandinskys Schlussfolgerung: „Es schien, die Natur freue sich über ihn.“

Malereistudium in München

Marc hatte in München seit 1899 Philosophie und Theologie studiert. Den Gedanken, Priester zu werden, gab er auf, und er begann 1900 ein Malereistudium an der Münchener Akademie. Dort standen auch Landschafts- und Aktstudien auf dem Programm. Doch Marc gestand: „Ich empfand schon sehr früh den Menschen als hässlich; das Tier schien mir schöner, reiner.“

Das „unschuldige“ Tier wurde für ihn zum Sinnbild einer guten Welt. Die glaubte er, abseits der Leinwand, eher auf dem Land als in der Stadt zu finden. Marc kehrte München –das damals die deutsche Kunstmetropole und neben Paris ein internationaler Künstlermagnet war – den Rücken. Er zog ins bayrische Alpenvorland, das ihm aus den Urlauben seiner Kindertage vertraut war. Zwischen Bergen und Seen wurde Marc der Kreislauf der Natur zur Metapher für die Zyklen des Lebens. Mit seiner prägnanten Farbsymbolik wollte er die umfassende Harmonie der Schöpfung aufspüren und sichtbar machen.

Mit Malerfreund August Macke, den er liebevoll „August VonderFarbe“ nannte, sprach er über Farbsymbolik. Man startete Versuche, Farbklänge wie in einer Tonleiter in ein System zu bringen. Zu Klaviertönen mischte Marc schließlich Farbtöne, wobei den hohen Noten helle Farben zugeordnet wurden. Blau stand für ihn für das Männliche, Gelb für das Weibliche, Rot für die Materie. Farbexperimente wagten auch andere Künstler dieser Epoche – die an der Wiege des „Blauen Reiters“ standen: Anfang 1909 gründeten im Münchner Stadtteil Schwabing Kandinsky, Jawlensky und Marianne von Werefkin die Ausstellungsorganisation „Neue Künstlervereinigung München“. Die Idee dazu stammte von Alexej von Jawlensky, einem ehemaligen zaristischen Gardeoffizier, der gemeinsam mit seiner Malergeliebten Marianne von Werefkin nach München gereist war.

Marc sah eine der Ausstellungen, die in den Räumen des Kunsthändlers Heinrich Thannhauser stattfanden, und war so begeistert, dass er sich sofort als Mitglied in die Vereinigung einschreiben ließ. Rasch entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihm und Kandinsky. Anfang 1911wurde Marc als Mitglied und dritter Vorsitzender in die „Neue Künstlervereinigung“ gewählt. Doch just an Kandinskys immer abstrakter werdenden Bildern zerbrach schließlich das Lager der Avantgardisten: Aus Protest gegen die Ablehnung eines Kandinsky-Bildes durch die Jury für die dritte Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung“ traten Marc und Kandinsky aus.

Kandinskys Kunst war es, die Marc nachhaltig und tief beeindruckte: „Ich gestehe, kaum je einen so tiefen und schaurigen Eindruck von Bildern erhalten zu haben als hier“, vertraute er Macke an: „Kandinsky bohrt am tiefsten von allen.“ Marc hatte sich augenblicklich infiziert mit dem Streben nach einer neuen Kunst, und er formulierte es so: „In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ,wilde‘, nicht organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Idee.“ Bilder, die sich vom Gegenständlichen lösten – was hatte das mit Marcs Kunst zu tun? Malte er nicht weiterhin gegenständlich? Ja, doch seinen Tieren war eine Veränderung anzusehen: Sie wurden schlichter, symbolhafter, erschienen immer mehr stilisiert. Und sie trugen die verrücktesten Farben! Marcs geistiger Unterbau, seine Ideen waren elaboriert. Seine geradezu organische Verbindung mit der Natur soll sich sogar in der Beziehung zu seinem Hund Russi, einem weißen Schäferhund, gespiegelt haben. Russis Charakterschärfe, aber auch seine Sanftheit sollen auch Marc zu eigen gewesen sein.

Als der Maler und Extheologiestudent Marc, der zeitlebens ein hoch spiritueller Mensch blieb, auch noch aufs Land übersiedelte, sah mancher Zeitgenosse in ihm einen Zivilisationsflüchtling, ja gar einen Nachfolger des Heiligen Franz von Assisi. Anlässlich des Umzuges in ein neues Haus 1914 sollen Marc und Maria den Hund, zwei Katzen und zwei Rehe aus Sindelsdorf nach Ried in einem eineinhalb stündigen Fußmarsch neben den Fuhrwerken begleitet haben, damit sich die Tiere nicht fürchten.

Das ländliche Idyll der Marcs – der französische Malerkollege Robert Delaunay wird Sindelsdorf einmal neben Paris, Moskau und New York als eine der Geburtsstätten der Moderne bezeichnen – wurde zu einem Kristallisationspunkt der Kunstgeschichte. Und zu einem geselligen Treffpunkt: Auch Arnold Schönberg, dessen Beitrag sich im „Blauen Reiter“ fand, soll die Marcs gerne besucht haben. Marcs Kunst war, im Gegensatz zu der Schönbergs, nie verstörend. Die NS-Kunstideologen haben Marc zwar als „Entarteten“ verfemt und 130 seiner Bilder „abgehängt“ – woraufhin eine geradezu verharmlosende Wiedervereinnahmung nach dem Krieg erfolgte, als man seine bunten Füchse und Pferde per Poster und Kalenderbilder nach Hause holte. Einigkeit bestand darüber:Marcs Kunst war zukunftsweisend. Nicht abersystemändernd.

Marc wollte durch seine Verfremdungseffekte eine Reise nach innen antreten, seine Frage lautete: Wie sieht das Tier die Welt? Und nicht: Wie sieht der Mensch das Tier? Auch wenn dem Maler diese „Fremdsicht“ zuweilen gelungen schien – es kam vor, dass er seine Pferdebilder am Ende des Sommers wieder zerstörte. Mit Kandinsky gründete Marc schließlich den „Blauen Reiter“: Beide liebten sie die Farbe Blau, „Marc Pferde, ich Reiter. So kam der Name wie von selbst“, und zwar beim gemeinsamen Kaffeetrinken in Sindelsdorf, erinnerte sich Kandinsky 1930. Die Ausstellungen moderner Kunst samt dazugehörigem Almanach, dem „Blauen Reiter“, sollten eine Bestandsaufnahme der modernen Kunst abgeben – unter Einbeziehung der Volkskunst und aller Disziplinen.

Frankophon und frankophil

Nach einem Band, den das zweiköpfige Redaktionsteam unter Einbeziehung von 140 Bildern und 19 Artikeln sowie drei Musikbeilagen geschaffen hatte, erschien kein zweiter mehr. Der Krieg stoppte den „Blauen Reiter“. Sein Held, Franz Marc, fiel im Kampfe. „Wir wussten nicht, dass so rasend schnell der große Krieg kommen würde“, meinte der Maler, der sich sofort als Freiwilliger an die Front gemeldet hatte – gemäß seiner Überzeugung, das Volk müsse „durch die Schule des großen Krieges gehen“. Im Krieg sah Marc zwar den „Boden für die großartige Bewegung des vierten Standes“, doch er relativierte: „Die Kunst zieht eine andere Straße zum ewigen Leben.“ Marc, der während des Krieges über eine deutsche Leitkultur schrieb,war frankophon und frankophil. Seine Mutter hatte ihm als Elsässerin das Französische perfekt beigebracht. In seiner Jugend war er mehrmals in Paris, um dort bewundernd durch Museen und Galerien zu ziehen. Der Krieg bewirkte, dass Marcs Pferde und ihr Reiter plötzlich auf der feindlichen Seite galoppierten. Wie differenziert und distanziert er während dieser Zeit wirklich dachte, das bekunden Marcs Briefe aus dem Felde, die weitgehend überliefert und von seiner WitweMaria publiziert wurden.

Am 4. März 1916, dem letzten Fronttag, bevor Marc in den Innendienst versetzt worden wäre, fiel er 36-jährig vor Verdun. Er war zu Pferde für einen Aufklärungsritt aufgebrochen, als ihn Granatsplitter am Kopf tödlich trafen. Den Tod hatte er nicht gefürchtet, doch wollte er noch nicht sterben, da er sein Werk nicht vollendet sah. Anlässlich von Marcs 100. Todestag am 4. März zeigt das Franz-Marc-Museum in Kochel am See eine Leihgabentrilogie von drei Hauptwerken des deutschen Expressionisten, allerdings hintereinander: „Das arme Land Tirol“ reist aus dem Guggenheim Museum an, die „Weidenden Pferde IV“ kommen aus Cambridge, USA, zurück nach Bayern. Das schon Krieg und Konflikt ahnen lassende Bild „Kämpfende Formen“ aus dem Jahr 1914 wird aus München nach Kochel übersiedeln.

Else Lasker-Schüler konstatierte anlässlich von Marcs verfrühtem Tod: „Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten. Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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