Josef K. und die Wende

ARCHIVBILD JOSEF KLAUS
ARCHIVBILD JOSEF KLAUS(c) APA (Gindl Barbara)
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Vor 50 Jahren: Start der ÖVP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Klaus. Tabubruch oder Erlösung? Über ein politisches Wagnis – samt einem ersten Blick in die unbekannten Notizhefte des Josef Klaus.

Es war sicherlich kein Erdbeben, aber doch ein Ruck, der am 6. März1966 durch Österreich ging. Die vorgezogenen Nationalratswahlen bescherten der Österreichischen Volkspartei die absolute Mehrheit. Eine Institution geriet ins Wanken: die Große Koalition. Sie war seit 1945 an der Macht, sofern man in Österreich überhaupt Macht besitzen und ausüben konnte. Zumindest war sie allgegenwärtig. Die damals 20-Jährigen hatten nie etwas anderes gekannt. Die Älteren konnten es vielleicht als eine Art positive Anknüpfung an die gute alte Kaiserzeit sehen: Viribus unitis. Die Sache hatte nur einen Schönheitsfehler: Die vereinten Kräfte konnten längst nicht mehr miteinander. Da wurde gestritten, wurden im Zeichen des Proporzes Geschäfte nach dem Gegenseitigkeitsprinzip gemacht, so wie es im Koalitionsabkommen von 1963 nachzulesen gewesen war: Tausche die Anhebung des Milchpreises für die Bauern um ein paar Groschen gegen eine Steigerung der Molkereiarbeiterlöhne. Dann und wann hatte es auch Korruptionsfälle gegeben. Kurz, man kannte das schon alles und konnte nur mit politischem Desinteresse oder Auswanderung antworten. Die Jungen dachten an Revolte.

Keine Frage: Die Regierung mühte sich, ein Ausbrechen aus dem kaudinischen Joch der Zweisamkeit war allerdings kaum möglich. Josef Klaus, der Bundeskanzler, seit 1964 im Amt, war jedoch nicht zu entmutigen. Er wollte zumindest neue Antworten auf alte Fragen bekommen. Das allein hätte freilich nicht ausgereicht, ihm und „seiner“ Volkspartei einen Wahlerfolg zu bescheren. Doch dann begannen sich die Sozialisten in aller Öffentlichkeit zu beschädigen. Dass man Otto von Habsburg die Einreise nach Österreich verweigerte, war vielleicht ein Rechtsstaatsproblem, das ohnedies kaum jemand verstand. Dass ein Bodenseeschiff den vom SPÖ-Minister in Wien gewünschten Namen „Karl Renner“ bekommenund nicht auf „Vorarlberg“ getauft werden sollte, war etwas, was das „Ländle“ ärgerte. Doch dann demontierten die Sozialisten einen der Ihren, Franz Olah – einst mächtiger Gewerkschaftspräsident, dann Innenminister –, weil er Gewerkschaftsgelder zur Gründung der „Kronen Zeitung“ verschoben und die FPÖ finanziell unterstützt hatte, um mit ihrer Hilfe dereinst Bundeskanzler zu werden. Die Freiheitlichen aber waren für die Sozialisten kein Partner – und Olahs Ambitionen schlicht gefährlich. Also wurde er aus der Partei ausgeschlossen und angeklagt. Und dann war da noch das Rundfunkvolksbegehren von 1964, das die SPÖ nicht wollte – und sich damit gewaltig in die Nesseln setzte. Kurzum: Die Sozialisten hatten etliche Probleme, während die Kanzlerpartei Pluspunkte sammelte. Also ließen sich auch die Weichen Richtung Neuwahlen stellen.

Josef Klaus bombardierte seine Parteifreunde mit Forderungen und Vorschlägen, was während des Wahlkampfs gesagt und getan werden sollte, und hielt die wichtigsten Punkte penibel mit Bleistift in einem Schulheft fest. Er füllte Seite um Seite. 7000 Seiten sollten es insgesamtwerden, die er von 1949 biszum Ende seiner politischen Tätigkeit 1970 teils in Normal-, teils in Kurzschrift und mit unendlich vielen Abkürzungen und Wortfetzen vollschrieb. Im November 1965 begann er das 57. Heft. Immer wieder ging es um Macht, um Willkür und Überbürokratisierung, von denen Josef K. selbst ein Teil war. 24. November: Auf Mehrheit (absolut) lossteuern . . . Jugend, Wohnungsbau, Vorrang für Forschung und Bildung . . . Hochwasserhilfe für Geschädigte . . .Volksfront Drohung absurd! Aber Aufklärung tut not . . . Wir wollen klare Mehrheitsentscheidung . . . An Sieg glauben . . . 13. Dezember:Postsitzung: Sozial Wohnungen, Werbeaktion, Wohnbautagung . . . Ordensverleihung an Tito . . . 17. Dezember: Olympiade. Für Wien dieselben Sportanlagen . . . wie für Tirol . . . ÖBB. Verpolitisierung und Übergewicht Personalvertretung verhindert Wirtschaftlichkeit . . . 22. Dezember: Wahlprogramm: Real Einkommen. ÖBB, Bildung,Subjektförderung, Überbesteuerung, junge Familien, Vermögensbildung . . . 23. Dezember: Kardinal Franz König: auf ÖVP Rücksicht nehmen . . . Katholische Soziallehre. Am selben Tag trug er auch vorsorglich die Daten seiner Auftritte bei Wahlkundgebungen und gesellschaftlichen Ereignissen vom 15. Jännerbis 4. März 1966 ein, Philharmoniker- und Opernball eingeschlossen. Am 14. Jänner 1966notierte er die jüngsten Zahlen der Meinungsforscher:KP 1%, Olah 2,6% . . . FPÖ 5,3%, ÖVP 36,4%, SPÖ 35,3%. Die Termine wurden immer mehr, die Eintragungen in die „Schulhefte“ länger und länger. 1. März: Was noch tun, um die Wahl zu gewinnen? Schlusskundgebung und -reden: weniger starrer Koalitionspakt, mehr echte Zusammenarbeit, mehr Parlament, mehr direkte Demokratie . . .

Zumindest den ausländischen Beobachtern schien der Wahlkampf todlangweilig. Und dennoch: Es wäre das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, meinte der britische Botschafter, John Pilcher, dass man nicht schon die Fortsetzung der Großen Koalition als ausgemachte Sache empfinden musste. Josef Klaus glaubte freilich nicht, dass es ihm und seiner Partei gelingen könnte, die absolute Mehrheit zu erreichen. Doch am 6. März war alles anders. ÖVP 85 Mandate, SPÖ 74 Mandate, FPÖ 6 Mandate. Die ÖVP erreichte die „Absolute“.

Je nach Einstellung konnte man amAbend des Wahltags Menschen jubeln oder trauern sehen. Ein Tabubruch drohte. Tags darauf begann man mit der Ausarbeitung der diversen Strategiepapiere. Auch Josef Klaus konnte die Konsequenzen des ÖVP-Siegs noch nicht abschätzen. Bei der Klausur der ÖVP-Minister am 17. März wurde jedenfalls der Entwurf eines Regierungsprogramms beschlossen, in dem es gleich vorneweg hieß: „Zusammenarbeit VP und SP für die Dauer der Regierung“. Doch dann ging es ans „Eingemachte“ und wurde im Entwurf für eine Regierungserklärung schon einmal festgeschrieben, was für die ÖVP als unabdingbar gelten sollte, und es wurde in den Raum gestellt, etwas anderes als die Übernahme der vollen Regierungsverantwortung wäre Verrat an den Wählern.

Der Vorsitzende der SPÖ, Bruno Pittermann, der sich wohl selbst Mitschuld an der Niederlage seiner Partei geben musste, ortetein seiner Partei eine 50:50-Stimmung hinsichtlich der Fortsetzung der Koalition. Die älteren und die ganz jungen Parteimitglieder seien dafür, in Opposition zu gehen und zu kämpfen. Die mittlere Generation sei für die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der ÖVP, erzählte Pittermann in London. Gleichzeitig wurde Sorge artikuliert. Für die Sozialisten hieß es, Abschied von einigen Zentren der Macht zu nehmen. Das musste zur Folge haben, dass man die eigene Klientel nicht mehr „bedienen“ konnte und auch jenen Informationsvorsprung verlor, den man als Regierungspartei automatisch hatte. Das ging Hand in Hand mit der Sorge, ob es je möglich sein würde, an die Schalthebel der Macht zurückzukehren. Würden von einer ÖVP-Regierung sozialstaatliche Ziele aufgegeben werden, würde es bei der Vollbeschäftigung bleiben, würden die Kontrollmechanismen funktionieren? Würde es wieder gewaltsam werden in einem an sich friedlichen Österreich?

Am 14. März begannen die Regierungsverhandlungen. Etwas mehr als einen Monat später waren sie beendet – und gescheitert. Außenminister Bruno Kreisky war der Letzte gewesen, der für die Fortsetzung der Großen Koalition eintrat. Bald darauf begann ein hässliches Schlagwort die Runden zu machen: „Austro-Provinzialismus“.

Der neue/alte Kanzler Klaus wusste natürlich um die anstehenden Probleme und suchte schon im Entwurf seiner Regierungserklärung zu beruhigen. Denn auch für die ÖVP gab es nicht zu beantwortende Fragen: Würden die Sozialisten den Wechsel hinnehmen, würde es zu Streiks und womöglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen? Würde die Sozialpartnerschaft halten? Klaus wusste, dass man nicht zuletzt im Ausland gespannt war, wie er den weiteren österreichischen Weg beschreiben würde – und er konnte beruhigen: Es würde Änderungen, aber keine Revolution geben.

Er hatte sich viel vorgenommen: ein Endedes Proporzes, Objektivität bei Postenbesetzungen, die Rundfunkreform, den Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EWG, die Lösung der Südtirol-Frage, wirtschaftspolitische und strukturelle Reformen, die Reorganisation der Verstaatlichten Industrie und vieles andere mehr. Der „Staatsvermesser“ Josef K. wusste mittlerweile nur zu gut, dass die Mühen der Ebene durchaus geeignet waren, intellektuelle Spitzen abzutragen. Auf dem Zugang zu seinem „Schloss“ gab es wie bei Kafka viele Hindernisse. Vielleicht war der Kanzler auch zu optimistisch, was seine eigene Akzeptanz anlangte. Er bewegte sich nämlich auf sehr dünnem Eis und hatte nicht nur mit einer Opposition zu rechnen, die um ihre Bedeutung als Regierungspartei trauerte, sondern auch mit einigem innerparteilichem Widerstand. Er sollte ihn rasch zu spüren bekommen.

Klaus beließ es dabei, die meisten der noch aus der Zeit der Großen Koalition stammenden Minister weitermachen zu lassen, und ersetzte nur den Wegfall der SPÖ-Regierungsmitglieder. Er verzichtete darauf, sich eine neue und auf ihn eingeschworene Riege zu bilden. Und gerade einige der älteren und durchaus erfahrenen Kollegen,voran der Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie, Fritz Bock, zeigten offen Gegnerschaft.

Am Abend des 18. Aprilstellte Klaus Bundespräsident Franz Jonas sein Kabinett vor. Das mochte zwar ein Formalakt sein, ließ aber eine weitere Facette der Persönlichkeit von Josef Klaus deutlich werden: Er zeigte nicht nur, sondern hatte tatsächlich Respekt vor dem Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident gehörte zu einer Hierarchie, die beim lieben Gott anfing und sich, ein wenig wie „zu Kaisers Zeiten“, über den Bundespräsidenten nach unten fortsetzte. Erst später schlich sich Kritik ein. Er hätte sich mehr Unterstützung durch Jonas erwartet. Doch letztlich wäre das ohne nachhaltigen Einfluss auf seine Arbeit geblieben.

So vieles sollte schnell, manches fast gleichzeitig erledigt werden. Klaus forderte seinen Ministerkollegen viel ab. Und er machte deutlich, dass er alles kontrollieren, in alles Einblick nehmen wollte. Sein Arbeitsstil machte zu schaffen. Ganztägige Ministerklausuren, die Forderung nach möglichst rascher Behandlung von Materien, die zweifellos kompliziert genug waren, um nichtohne längere Beratungen und die Einbindung des Parlaments, aber auch der Sozialpartner einer Erledigung zugeführt zu werden, schufen immer wieder Probleme. Der Kanzler irritierte wohl auch dadurch, dass er immer wieder in seine Notizhefte schaute, Gedanken, oft auch nur Gedankensplitter, Zitate und Namen vorlas, mit denen die Mitglieder seines Kabinetts nichts anzufangen wussten.

Bei den Ministerratssitzungen gab esheftige Wortmeldungen, Streit und alles andere denn die anzustreben gewesene Harmonie. Die Landeshauptleute der von der ÖVP geführten Bundesländer, die sogenannten Parteigranden, vor allem die Führer der ÖVP-Bünde machten dem Kanzler das Regieren schwer. Er selbst gehörtekeinem der Bünde an, und die mangelnde Harmonie blieb natürlich nicht verborgen. Die Medien, unter denen der mittels desRundfunkgesetzes vom Juli 1966 regelrecht entfesselte Österreichische Rundfunkeine immer wichtigere Rolle zu spielen begann, stürzten sich darauf. Klaus selbst zeigte sichschweigsam. Er hatte eine „lähmende Scheu vor dem Interviewer, vor dem Mikrofon und der Fernsehkamera“. Und im Fernsehenwirkte er häufig „abwehrend und leicht beleidigt“, meinte ein deutscher Politikwissenschaftler.

Spätestens nach einem Jahr Alleinregierung musste sich Josef Klaus eingestehen, dass die Schwierigkeiten überhandnahmen und ihm aus seiner eigenen Partei ein immer schärferer Wind entgegenblies. Nicht von ungefähr gab er seinen Erinnerungen den beziehungsvollen Titel „Macht und Ohnmacht in Österreich“. „Es war kein brillantes Jahr für Österreich“, resümierte auch der britische Botschafter das Geschehene in seinem Bericht über das Jahr 1967. Die Alleinregierung hätte nichts erreicht, was sie als Nutznießer der neuen Regierungsform eigentlich hätte erreichen sollen. Man habe zwar keine regelrechten Fehler gemacht, doch auch nichts großartig verändert. Der Regierungschef sei wohl ein ehrenwerter Mann, ihm fehle aber die nötige Härte.

Die Begehrlichkeiten der meisten Ressortminister wurden von Klaus regelmäßig abgeblockt. Immer wieder führte er ins Treffen, dass man eben haushalten müsse. Schulden machen war dem aus einfachen Verhältnissen kommenden und lediglich mit dem eigenen Geld zu wirtschaften gewohnten Bäckersohn Josef K. ein Gräuel. Da aber zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung und zur Sicherung der notwendigen Investitionen ein zusätzlicher Finanzbedarf gegeben war, der die Finanzschuld des Bundes auf 30 Milliarden Schilling ansteigen ließ, erklärte Finanzminister Wolfgang Schmitz, es müssten Mindereinnahmen durch sicherlich unpopuläre Maßnahmen kompensiert werden. Das hieß: Steuererhöhungen.

Die Führer aller drei ÖVP-Bünde, des Arbeiter- und Angestelltenbundes, Alfred Maleta, des Wirtschaftsbundes, Rudolf Sallinger, und des Bauernbundes, Josef Wallner, drängten auf die Ablöse von Klaus. Der aber dachte noch nicht daran, klein beizugeben, und empfand die Kritiknicht so sehr als Zweifel anseiner eigenen Führungsfähigkeit, sondern als Ausdruck dessen, dass einige Mitglieder seines Regierungsteams nicht das brachten, was von ihnenbilligerweise zu erwarten gewesen war. Infolgedessen plante Klaus für 1968 eine größere Regierungsumbildung, bei der buchstäblich kein Stein auf dem anderen bleiben sollte. Schließlich sollte ein neuer Staatssekretär, Karl Pisa, die Informationstätigkeit neu gestalten. Lieber hätte Klaus den Chefredakteur der Zeitung „Kurier“, Hugo Portisch, gehabt, doch der hatte sich verweigert.

Die Kritik wollte nicht verstummen. Klausaber war nun empfindlich genug, um in den Raum zu stellen, auch er könnte gehen und würde zu einer „Hofübergabe“ bereit sein. Vielleicht war er überinterpretiert worden, doch die Andeutung, der Kanzler würde seinen Verbleib in der Politik zur Disposition stellen, ließ nicht nur die Spekulationen blühen, sondern war auch Wasser auf die Mühlen der – wie es so schön heißt – politischen Mitbewerber. Es war ein Teufelskreis. – Der Kanzler nahm sich Zeit, um nachzudenken. Schon wenige Tage nach seinem Wahlerfolg im März 1966 hatte er sich für drei Tage zurückgezogen und wollte mit sich selbst ins Reine kommen. Und eigentlich hätte er für die eingeforderten Leitsätze politischen Handelns, für die Umsetzung der Erkenntnisse der Naturwissenschaften, vornehmlich der Kybernetik, der ideale Regierungschef sein sollen. Er beschäftigte sich auch intensiv mit Philosophie, doch zumindest in seinen Tagesaufzeichnungen gibt es so gut wie keine Hinweise auf Kunst, Literatur oder Musik.

Er hatte wohl keinen Konflikt mit der Jugend oder wurde gar von einem seiner Söhneöffentlich infrage gestellt, wie es seinem Nachfolger Bruno Kreisky passierensollte. Aber er konnte auchnicht deutlich machen, dass er an den gesellschaftlichen Strömungenseiner Zeit, am Aufbegehren einer nachwachsenden Generation und an dem Anteil nahm, was man dann die „68er-Bewegung“ nannte. Anderesschien ihm wichtiger. – Der Bundeskanzler merkte es vielleicht zu spät, dass er drauf und dran war, die ihm ohnedies nie sichere Unterstützung in seiner Partei und in der Bevölkerung zu verlieren. Sein „Schloss“ blieb in weiter Ferne. Immer wieder trug er in seineberühmt-berüchtigten Notizhefte ein, was ihm als bedenkenswert, aber auch zukunftsfähig schien, vorrangig die wissenschaftliche Forschung, Innovation, Verwaltungsreform, Freiheit und Demokratie.

Die Wirtschaftsleistung des Landes war zwischen 5,5 und 6 Prozent gestiegen. Die Industrieproduktion hatte eine Steigerung von 11 Prozent erfahren. Die Exporte hatten um 15 Prozent zugenommen, die Löhne waren schneller gewachsen als die Preise, und die Pensionen waren um 5 Prozent angehoben worden. Die Gespräche mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren zumindest ansatzweise vorangekommen. In Seibersdorf südlich von Wien entstand ein Atomforschungsinstitut. Zwei Atomkraftwerke waren geplant, der Bau des einen in Zwentendorf wurde vom Ministerrat am 11. November1969 genehmigt. Eine ganze Reihe jüngerer Politiker hatte die erste Nachkriegs-Politikergeneration abzulösen begonnen, und von einem Mann wie dem erst 35-jährigen Alois Mock erwartete man, dass er einmal Kanzler werden würde. Außenminister Kurt Waldheim hatte nicht nur die Südtirolverhandlungen zu einem guten Ende gebracht, sondern auch sehr diskret das Anliegen des Warschauer Pakts nach Abhaltung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa transportiert. Man rechnete mit ihm als nächstem UN-Generalsekretär. Für April 1970 waren Gespräche von Amerikanern undSowjets über den Abbau strategischer Waffenin Wien vereinbart worden.

Doch was zumindest für den Botschafter Ihrer britischen Majestät in Wien mehr zählte, war die geringe Ausstrahlung des Kanzlers, waren der zunehmende Provinzialismusund die Selbstgenügsamkeit der Österreicher generell. Vom Kanzler gingen keine positiven Signale aus, berichtete er nach London. Klaus sei ein „scheinheiliger Langweiler“. John Pilcher gehörte sicher nicht zu seinen Schmeichlern.

Noch während der Wahlkampf für die nächsten Nationalratswahlen anlief, verbreitete sich in der Kanzlerpartei das Gefühl, abgeschlagen zu sein. Man rechnete mit dem Verlust der absoluten Mehrheit, war jedoch zuversichtlich, eine relative zu schaffen. Kaum jemand zweifelte daran. Doch bei den Nationalratswahlen am 1. März 1970 erreichte die SPÖ die relative Mehrheit. Theoretisch hätten ÖVP und FPÖ, die beiden Verlierer, eine Kleine Koalition bilden können. Für Klaus kam das nicht infrage. Er hatte schon vor der Wahl verkündet, in keine Koalitionsregierung eintreten zu wollen. Dabei hatte er wohl nur an eine Neuauflage einer Großen Koalition gedacht. Eine Kleine Koalition war ein Experiment, das er erst recht nicht machen wollte. Und eine Minderheitsregierung schien ihm absurd. „Er war kein politischer Spieler“, meinte einer seiner „Jungen“, Leo Wallner. Stattdessen fasste Klaus noch am Wahlabend den Entschluss, sich aus der Politik zurückzuziehen. Er beendete seine Aufzeichnungen und setzte an den Schluss den für ihn, den tiefgläubigen Katholiken, charakteristischen Satz: „Deo Solis Sit Gloria.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2016)

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