„Ich habe gezielt. Gott hat getroffen.“

Arzt, Zionist, Islamexperte von Rang – und Korrespondent der „Neuen Freien Presse“: mein Großvater Wolfgang von Weisl, 1896 bis 1974. Erinnerung an einen Vergessenen.

Am Morgen des 12.März 1938 überschritten deutsche Soldaten in Panzern und Kampfwagen die Grenze nach Österreich. Sie trafen auf keinerlei Widerstand. Am nächsten Morgen pochten die Offiziere der Gestapo an die Tür im Haus Kirchengasse 48, Wien, und suchten nach Dr. Wolfgang von Weisl. Am Tag davor hatte von Weisl Österreich verlassen – sein Geburtsland und seit 300 Jahren die Heimat seiner Vorfahren. Mit ihm fuhren seine Frau und seine beiden kleinen Kinder. Im Verlauf der zehn Jahre, die diesem Tag vorangegangen waren, hatte er in 24 verschiedenen Ländern mehr als 2000 Reden gehalten, in denen er seine Brüder aufrief: „Steht auf! Lasst alles zurück! Und wandert in das Land eurer Väter ein. Legal oder illegal, rettet euch, bevor es zu spät ist!“

Um drei Uhr morgens des 27. März 1896, weniger als einen Monat nach der Veröffentlichung des Buches „Der Judenstaat“, wurde Wolfgang Johannes Zeev Binyamin von Weisl in einer sehr engen Straße namens Breite Gasse geboren. Einige Monate zuvor hatte sein Vater, Ernst Weisl, einer Gewohnheit entsprechend, im Kaffeehaus an der Mariahilfer Straße gesessen und die Zeitung gelesen. Am Nebentisch saß sein Freund, der Feuilletonredakteur der „Neuen Freien Presse“, Theodor Herzl. Wie immer genau um 7.30 Uhr legte Weisl die Zeitung zusammen und stand auf, um zu gehen. Vielleicht war es jetzt, vielleicht war es schon vorher gewesen, dass sich Herzl an ihn wandte und ihm sagte, er habe eine Idee, die ihn interessieren könnte. Die Idee begeisterte Weisl und er forderte Herzl auf, in seinem Haus im Kreise seiner Freunde einen Vortrag zu halten. Ernst war unter den ersten, die sich Herzl anschlossen, und für seinen Sohn Wolfgang, war dies ein Ruf zur Fahne. Er sah im Zionismus nur eines: das Leben im Lande Israel, die Beteiligung am Aufbau des Landes und an den dortigen Kämpfen und beim Kampf um die Sicherung der Unabhängigkeit zum Wohle des größten aller historischen Projekte der modernen Geschichte: die Rückkehr nach Zion.

Obwohl Wolfgang von Weisl bereits an der Universität Medizin studierte, bestand er im Jahre 1914 darauf, zu einer militärischen Kampfeinheit eingezogen zu werden, um sich auf das vorzubereiten, was in seinen Augen unvermeidlich war: auf den Kampf um das Land Israel. Hierin besteht der Kern seiner Ideologie: Von Weisl war der Ansicht, dass Israel nur bestehen könne, wenn es stark sei, sich auf eine starke Armee stützte und es verstünde, die historischen Grenzen aufrecht zu erhalten, die allein sichere Grenzen seien.

Nach dem Abschluss seines Studiums im Jahre 1922 wanderte von Weisl nach Palästina ein und bildete die ersten Offiziere der „Arbeiterdivision“ aus, dies auf der Grundlage eines Trainingsprogramms, das er aus seinen Tagen in der k. u. k. Armee kannte. Jahre später wurde er vom österreichischen Botschafter gefragt, warum er nach dem Krieg nicht nach Wien zurückgekehrt sei. Von Weisl antwortete: „Als ich Student in Wien war, gab es an den Wänden und Türen der Toiletten Aufschriften ,Juden raus!‘, und ich nehme die Literatur auf Toiletten ernst.“

1924, als Vertreter der „Neuen Freien Presse“ und des Ullstein Verlages im Nahen Osten und den Ländern des Islams, begann von Weisl eine glänzende Karriere als Journalist; seine Artikel erschienen auf der ganzen Welt und wurden sogar ins Chinesische übersetzt. Er wurde beim „Kalifen aller Rechtgläubigen“ empfangen, von Hussein, dem König des Hedschas, als dieser noch König war, und er war der einzige Europäer, der mit dem König das letzte königliche Mahl vor dessen Reise ins Exil einnahm. Er war bei König Ibn Saud zu Gast und ebenso im Hause von Sultan al Altrash, dem Führer des Aufstandes der Drusen, war im Palast des Emirs in Transjordanien, Abdallah, wie zu Hause und dessen persönlicher Arzt. Er begleitete Fuad, den König von Ägypten, auf seinem Staatsbesuch nach Deutschland und diente als sein offizieller Begleiter und Dolmetscher.

Tagung des Völkerbundes in Genf, 21. August 1925. Der Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, Georg Bernard, wird zu einem Gespräch zu Aristide Briand – damals Außenminister Frankreichs – gerufen. Briand schäumt vor Wut: „Wie können Sie in Ihrem Blatt solche Lügen über Syrien drucken? Sie schreiben von einer schweren Niederlage der Franzosen im Kampf gegen die aufständischen Drusen – von abgeschossenen Flugzeugen, verlorenen Tanks und Kanonen. Alles Lügen. Mein Haut-Commissaire, General Sarrail, meldet, die Unruhen seien praktisch zu Ende.“ Bernard hatte noch nicht die „Vossische“ erhalten und fragte: „Wer hat die Nachricht gesandt?“ Briand las: „Ein Wolfgang von Weisl.“ „Dann“, sagte Bernard, „tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihr Haut-Commissaire gelogen hat. Das, was Weisl schreibt, ist immer glaubhaft.“

Im Jemen, im Hedschas, in Singapur, Ceylon und Indien: Von Weisl denkt immer und überall an den Zionismus, und er nutzt seine Stellung und seinen Zugang zu den Höfen der arabischen Könige zum Wohl des zionistischen Unterfangens. Er glaubte, er sei in der Lage, die arabischen Führer davon zu überzeugen, den Zionismus anzuerkennen. Zum Purimfest 1929 wird von Weisl zu einem Flug im Zeppelin über den Nahen Osten eingeladen. Unter den Fluggästen: fünf deutsche Minister und die Witwe des Grafen Zeppelin. Über dem Toten Meer zieht von Weisl eine Flasche Wein hervor und stößt mit den Fluggästen „auf das Wohl Israels und unseres Staates“ an.

Einige Monate später, im Verlauf des blutigen Aufstandes des Jahres 1929, wird er durch einen arabischen Dolch schwer verletzt und gilt als tot. Auf der ganzen Welt werden Nachrufe veröffentlicht, Postkarten mit Bildern seines Krankenbetts werden verkauft. Er überlebt.

Parallel zu seinen vielen sonstigen Aktivitäten und Reisen gründete er mit vier Freunden, unter ihnen Arthur Köstler, die revisionistische Partei im Lande Israel (1925). Er war Herausgeber der Zeitung „Doar Hayom“ („Tägliche Post“), zu dieser Zeit die zweitgrößte Tageszeitung des Landes. Und als diese geschlossen wurde, gab er eine neue Zeitung heraus – „HaAm“ („Das Volk“), die eine harte aktivistische Linie vertrat; er bekleidete eine Vielzahl hoher Ämter in der Partei der Revisionisten, seine Originalität jedoch und seine unabhängigen Ansichten stellten eine unerschöpfliche Quelle für Meinungsverschiedenheiten dar.

Regelmäßig hielt von Weisl Reden und Vorträge in den Ländern West- und Osteuropas und propagierte die Masseneinwanderung ins Land Israel, zog die Jugend mit sich und rief zur Vorbereitung auf den Weltkrieg auf. Schon im Jahre 1931 sagte er den Aufstieg Hitlers an die Macht voraus. Seine Kassandrarufe waren völlig umsonst. Im März 1938 floh er mit seiner Familie ohne Gepäck und blieb zunächst in Paris zur Fortsetzung seiner Aktivitäten. Im Sommer desselben Jahres erreichte er ein Abkommen mit dem polnischen Außenminister bezüglich der Massenauswanderung von Juden. Der Vertrag umfasste auch den Kauf von Waffen, einschließlich Kanonen – und sogar eine Eskorte vonseiten der polnischen Regierung. Im Juni 1940 brachte er seine Familie auf dem letzten Schiff, das Marseille verließ, nach Palästina.

Am 1. September 1946 schreibt von Weisl aus seiner Haft in der britischen Festung in Latrun an den Hochkommissar der britischen Mandatsregierung: „Ich habe die Ehre, Sie darüber zu informieren, dass ich für den Verlauf von 28 Tagen mich der Einnahme von Nahrung enthalten werde. Ich bin mir der Tatsache sehr wohl bewusst, dass weder mein Fasten noch das Fasten anderer die Einstellung oder Entscheidungen der Männer beeinflussen wird, die heute in Palästina herrschen und die, so scheint es, es als ihre Pflicht betrachten, die Rückkehr des Volkes Israel in sein Heimatland mit allen Mitteln zu verhindern . . .“ Und so wird er von einer außergewöhnlichen und umstrittenen Führungspersönlichkeit (dies auch in seiner eigenen Partei) zu einem Helden der Nation. Briefe aus allen Teilen des Landes und der Welt aller politischen Richtungen erreichen ihn, ein Wald wird ihm zu Ehren angepflanzt, und um sein Wohlergehen wird gebetet.

Im Jahr 1948, mit dem Angriff der arabischen Armeen auf einen Staat, der gerade zuvor erst ins Leben gerufen worden ist, meldet er sich zur Artillerie und erhält das Kommando über Kanonen aus dem Jahre 1908, gegen die Ägypter an der Front im Süden des Landes. Er klettert auf einen Baum, in der Hand ein Fernglas aus seinen Tagen als Offizier der kaiserlichen Armee, gibt Anweisungen zum Vormarsch und Feuern und schreibt hernach an seine Frau Naomi, geborene Zuckermann: „Ich habe gezielt. Gott hat getroffen.“ Die Reihen der ägyptischen Panzer ziehen sich zurück.

Am 25. Februar 1974, einen Tag nach seinem Tod, und im März 1974, erschienen die letzten Artikel von Wolfgang von Weisl, seligen Andenkens. Diese Artikel schlossen von Weisls intellektuelle Aktivitäten ab, die Tausende von Essays und Vorträge sowie etliche Bücher zu verschiedenen Themen umfassten: Politik, Militär, Medizin, Religion, Philosophie, Psychologie, Reiseberichte und sogar Astrologie. Seine Artikelserie über „Therese Neumann von Konnersreuth“ erschien in einer Sonderausgabe und verkaufte innerhalb von wenigen Tagen 800.000 Exemplare.

„Eine der interessantesten und schillerndsten Persönlichkeiten“, „Seine Lebensgeschichte und Abenteuer können ganze Bände füllen“, „Legendär“, „Der Mann mit der goldenen Schreibfeder“, „Genie“, und „Prophet“, aber auch „Scharlatan“, „Don Quijote“, „Abenteurer“ und „Faschist“. 1979 fasste die Zeitung „HaOlam Haseh“ („Diese Welt“) die lange Reihe der Beinamen zusammen: „Es gibt nur einen Beinamen, der auf Dr. Wolfgang von Weisl passt: Von-Weislismus.“ Und so war Wolfgang von Weisl in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, einer Zeit voller Abenteurer, Revolutionäre, Orientalisten und einfacher Romantiker, ein Mann wie kein anderer.

Im Verlauf seiner Besuche in Berlin und Paris wurde er als „Weisl von Zion“ vorgestellt, als Orientalist, als ständiger Gast an den Höfen der Könige und Fürsten Arabiens und als Islamexperte von Weltrang. Er war ein extremer zionistischer Nationalist, und unter seinen Kameraden im Kampf für den Zionismus war er der Adelige aus Österreich, ein seltsamer Vogel, mit Halsbinde und einem Buch in jeder Tasche. Er kam in einem assimilierten jüdischen Haus zur Welt, doch gingen die frommen Schüler der Thoraschulen in Jerusalem am Schabbat bis zum anderen Ende der Stadt, um seine Reden über die Bedeutung eben dieses jüdischen Ruhetages zu hören.

Er war ein Offizier der Artillerie in der kaiserlichen Armee während des Ersten Weltkriegs, der nicht auf die ringsum niedergehenden Geschosse achtete, da er in philosophische Überlegungen über die drei Ebenen der Wahrheit im Buddhismus versunken war. Er war Schriftsteller und Journalist, Arzt und medizinischer Forscher und gleichzeitig Offizier und origineller Stratege, Abenteurer, Schauspieler in einer umherziehenden Theatertruppe auf einer historischen Bühne – und ein Mann der Tradition; was in den Augen der meisten als unmöglich, ja geradezu fantastisch erschien, war für ihn selbstverständlich.

In einer autobiografischen Skizze, „Fremd im eigenen Land“, die in Fortsetzungen in der Wochenzeitung „Chaijeh Schaah“ („Leben zur Stunde“) veröffentlicht wurde, schrieb er: „Im Jahre 1918 legte ich die Uniform ab, und es vergingen 30 Jahre, bis ich die Erfüllung meiner Jugendträume erlebte. Dies waren 30 Jahre, in denen ich in den Reihen meines eigenen Volkes ein Fremder blieb, das mich für einen ,Goi‘ hielt, weil ich versuchte, in den Herzen meiner Brüder den einfachen Gedanken zu pflanzen: ,Ihr braucht einen Staat – einen wirklichen Staat –, und ihr braucht Soldaten, um ihn zu errichten und zu verteidigen.‘ 30 Jahre predigte ich diese deutliche Wahrheit, und man verstand nicht, was ich meinte. Bis das Jahr 1948 eintraf, das gesegnete Jahr, das glückliche und geheiligte Jahr der Unabhängigkeit. Es brachte mir das, was ich vom Leben wollte: das Recht, als jüdischer Soldat für einen jüdischen Staat zu kämpfen.“

Und weiter: „Es war dies ein langer, langer Weg. Er führte von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in Galizien und Italien in die Vorlesungssäle an der Universität und in die Labors ausgezeichneter Ärzte, die sich bereit gefunden hatten, mich als Assistenten zu empfangen, durch Kongresshallen und Parteiversammlungen, durch die arabische Wüste an die Höfe von Königen und in Ballsäle, in die Klöster Indiens und nach Ceylon, wo ich Weisheit und Akzeptanz erlernte, und in die Vortragsräume Hunderter von Dörfern und Städten, von denen ich erfuhr, was ich wusste. Ich war Pionier, Bauarbeiter im Jerusalemer Stadtteil Talpiot, Buchführer der jüdischen Organisation ,Joint‘, der erste militärische Ausbilder in einem Kurs für Offiziere der ,Haganah‘; heute in Haft als Spion in persischen Gefängnissen und morgen im Zeppelin über Tel Aviv, und einige Zeit später im Hungerstreik im Haftlager in Latrun; verletzt im Verlauf einer Straßenschlacht mit Arabern, von Juden mit Steinen beworfen, Parteiführer im jüdischen Nationalrat seligen Andenkens, Redakteur in Berlin, Wien und Jerusalem – interessiert an allem, sei es eine indische Silbermünze, Spiritismus oder Therese von Konnersreuth. Aber all diese waren nur Meilensteine auf meinem Weg zu einem einzigen Ziel: dem Judenstaat. Es war dies ein langer Weg, den ich zum großen Teil allein zurücklegte, fremd in den Reihen meines eigenen Volkes. Doch eines kann ich versprechen: Langweilig war er nie, dieser mein Weg nach Zion.“

Mein Großvater, Dr. Wolfgang Binyamin Zeev von Weisl, ist ein Opfer des Vergessens. In Wien geboren, Sonderkorrespondent im Nahen Osten für die „Neue Freie Presse“ und die „Vossische Zeitung“, international anerkannter Experte für den Nahen Osten und eine der schillerndsten und unberechenbarsten Persönlichkeiten in der Geschichte der zionistischen Bewegung, hinterließ er ein reiches, faszinierendes und relevantes Erbe, das bis heute nicht erforscht ist. Seine Lebensgeschichte und sein Werk wurden nie erzählt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2009)

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