Der Platz, an dem ich lese

Einer traute sich nicht über den Dorfplatz zu gehen, durch die Blicke der anderen, durch die er hindurchmusste wie durch eine Beichte, damit fing es an.

Einer traute sich nicht über den Dorfplatz zu gehen, durch die Blicke der anderen, durch die er hindurchmusste wie durch eine Beichte, damit fing es an. Die Geschichte dieses Mannes lockte mich in ein Buch. In die Bücher, die ich seither nicht mehr verließ.

Sein Dorfplatz war auch mein Platz, wusste ich. Die Blicke der anderen waren mir bekannt. Und vertraut. Dieser Mann war ich selbst. Und auch nicht.

Ich folgte dem Mann und las mich vonDorfplatz zu Dorfplatz, von einem Ort, den ich kannte, zum nächsten, von einer Geschichte, die ich mir war und nicht war,zur nächsten und zu mir zurück.

Das Gelesene ließ mich verändert zurück, merkte ich. Auch der Ort, an dem ich las, war nicht mehr derselbe danach, von da an. So machte ich mich auf den Weg in die Bücher und hielt mich dort auf und kam verändert aus ihnen heraus jedes Mal, und war doch angelangt, endlich, bei mir, und auch nicht.

Mit den Büchern wechselten die Orte, an denen ich las. Wohin immer ich kam, jeder Ort hielt eine Geschichte bereit, die gelesen sein wollte. Ich las. Im Buch und darüber hinaus. Denn was zu sehen ist, ist auch außerhalb der Bücher zu sehen.

Seither lese ich Menschen. Der Ort, an dem ich lese, sind die anderen. Der Ort, an dem ich lese, bin ich selbst.

Seitdem ist es mir eine Lust, überPlätze zu gehen und mich dort aufzuhalten und zu warten, was kommt, um zu sehen, was war und was ist und was hätte gewesen sein können, und um davon zu erzählen, auch mir selbst, und immer von Neuem komme ich dabei an den Ort, an dem meine Geschichte durch den Bericht eines anderen für mich erst beginnt.

Wir machen die Augen auf und erkennen uns in den Blicken der anderen und in deren Geschichten, die wir uns sind, die wir uns auch sind. Wir gehen über Plätze, allein und in Gruppen, getrennt, und begegnen uns in den Sätzen, die an den jeweiligen Orten schon auf uns warten, Sätze von anderen und von uns selbst. Diese Sätze machen Licht und leuchten den Ort aus und machen aufmerksam auf Hindernisse am Weg. Indem wir erzählen,legen wir Karten an. Diese Karten sind lesbar und berichten von der Schönheit und vom Schrecken der Plätze, über die wir zu gehen haben in uns. ■


Birgit Müller-Wieland Besuch in Salzburg


Für M. und H. und U.

Wie das kommt weiß ich nicht
aber in Salzburg sind die Toten so frei

Sie finden mich immer
schnell und erstaunlich wie Spürhunde

Zum Beispiel am Tisch im Bazar
Raschelt die Zeitung da
lächelt einer scheu

Und nickt mir zu wo ich doch weiß:
Du gehst nie wieder
den Mönchsberg hinauf


Und der in der Steingasse der konnte Derrida
im Schlaf und Baudrillard und
irgendwann die Flaschen nicht mehr zählen

Eine radelt mir immer entgegen
in der Hellbrunner Allee
(dort traf ich sie in ihrem Leben nie)

Schon ist sie vorbei
mit ihrem surrenden Rad
dem Tritt ihrer berggestählten Beine

Ich seh ihr nach
unter den wachsenden Schatten
der Bäume

Schau rauf und höre über mir
als hingen zarte Kabel drin
Gespräche

gespinstfeine Nadelstiche im Grün
zwischen Dort und Hier

So bin ich in Salzburg
nie alleine

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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