Justiz in Angst

Wachebeamte, die schwarze Masken tragen; Richter und Staatsanwälte, die ihre Namen geheim halten – Österreichs Justiz in Zeiten des Terrors. Wie aus einer offenen Institution allmählich ein Geheimapparat wird. Ein Anstoß.

Zur Zeit der Renaissance waren Reiter und Rösser im Harnisch beliebte Bildmotive. So mancher Meister schuf eine schaurige Maskerade. Helme waren Drachenköpfen mit aufgerissenen Mäulern nachempfunden. Die Panzerungen der Pferde sahen aus wie die Schuppen der Ungeheuer, die es den Sagen nach zu bekämpfen galt. Die Mächte des Guten imitierten die Mächte des Bösen.

Landesgericht Graz, 22. Februar. Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen beginnt der Terrorprozess gegen den salafistischen Prediger Mirsad Omerovic und einen seiner Gefolgsleute. Die Anklage lautet auf Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), insbesondere auf mehrfachen Terrormord, begangen an syrischen Zivilisten.

Der Prediger, früher als islamischer Religionslehrer in Wien tätig, soll in Brandreden seine Zuhörer dazu angestachelt haben, in den Dschihad zu ziehen. Der Mitangeklagte, ein Tschetschenien-Flüchtling, soll im syrischen Kampfgebiet Menschen enthauptet haben. Beide Beschuldigte bekennen sich nicht schuldig.

Gräueltaten, wie in der Anklage dargelegt, werden von der Terrormiliz auch auf Videos festgehalten. Propagandisten stellen diese Schreckensbilder ins Internet. Man sieht schwarz maskierte Schergen, die kniende Opfer massakrieren.

Schwenk ins Gerichtssaal-Publikum. Ein Prozesskiebitz raunt einem anderen zu, was viele denken: „Die schauen ja aus wie die Kopfabschneider.“ Nein, gemeint sind nicht die Angeklagten, sondern ihre Bewacher. Diese, vier bewaffnete Justizwachebeamte, offizielle Vertreter der Republik Österreich, sind schwarz maskiert. Flankiert werden die Beamten des Justizministeriums von solchen des Innenministeriums – von zwei ebenso schwarz maskierten Männern der Eliteeinheit Cobra. Der Auftritt irritiert.

Mehr noch. Ein im Zeugenschutzprogramm befindlicher Kronzeuge tritt auf. Schwarz maskiert, versteht sich. Der Mannwird von nicht weniger als fünf ihrerseits schwarz maskierten Polizeibeamten (in Zivil!) abgeschirmt. So verwandelt sich eine öffentliche Verhandlung in einen bizarren Aufmarsch gesichtsloser Staatsorgane.

Ist die Gefahr, zur Zielscheibe terroristischer (Rache-)Akte zu werden, so groß? Odermuss sich Österreichs Justiz vor unberechenbaren Trittbrettfahrern fürchten? Wenn ja (und hier soll nichts verharmlost werden), dann wäre es – folgt man dem eingeschlagenen Weg – nur konsequent, nicht nur die, Pardon, kleinsten Rädchen im Getriebe zu tarnen – eben die Justizbeamten, die die Angeklagten von ihren U-Haft-Zellen in den Gerichtssaal führen. Dringender geboten wäre es dann, die Entscheidungsträger unkenntlich zu machen. Die Staatsanwälte. Sie sind es doch, die (mutmaßliche) Terroristen vor Gericht bringen. Und die Richter, natürlich auch die Laienrichter (Geschworene, Schöffen). Sie sind es doch, die Beschuldigte – manchmal für viele Jahre – hinter Gitter schicken.

Schwarz maskierte Richter? Das gibt die österreichische Strafprozessordnung nicht her. Aber die lässt sich ändern. Wollen wir das? Soll im aufgeklärten Abendland des21. Jahrhunderts wieder das Gute in Gestalt des Bösen in den Kampf ziehen?

Derzeit setzt Österreichs Justiz – vom Ministerium abwärts – auf Anonymisierung ihrer Angehörigen. Das Einigeln soll auch ohne Masken funktionieren. Bei Terror- und Mafiaprozessen ersuchen hohe Justizvertreter die Medien, auf die Nennung der Namen der Richter und der Staatsanwälte zu verzichten. Wenngleich sich die Presse wohl ihrer verfassungsrechtlich verankerten Freiheit bewusst ist, folgt sie derzeit weitgehend dem Anonymisierungsaufruf.

Wenn nicht, kann das schnell als „Kriegserklärung“ aufgefasst werden. Dieses Wording stammtlaut Zeitungsberichten von der Staatsanwaltschaft Krems. Ein Journalist hat es gewagt, in einem Bericht über einen – mittlerweile ohne Zwischenfälle zu Ende gegangenen – Terrorprozess den Namen der Staatsanwältin, also der öffentlichen Anklägerin, zu nennen.

Rekapitulieren wir: Der justizielle Selbstschutz gegen mögliche Aggressionen aller Art lautet in Zeiten wie diesen: Anonymität. Doch kann es diese überhaupt geben? De legesind Verhandlungen (nach Durchlaufen von Eingangskontrollen) für jedermann zugänglich. Alle Interessierten, auch ungute Zeitgenossen, können sich die Prozessbeteiligten live und aus der Nähe ansehen. Es sei denn, man ist Kameramann oder Fotograf. Dann hat man in Sachen Terror de facto Saalverbot; kurioserweise sind bei vielen Terrorprozessen nicht einmal Symbolfotos von menschenleeren Gerichtssälen erlaubt. Davon abgesehen gilt: Wer rein will, darf rein. Es sei denn, die Öffentlichkeit wird aus Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgeschlossen; in dem Fall lässt Kafka grüßen, dadie Öffentlichkeit vor sich selbst geschützt wird. Trotzdem: Prinzipiell dürfen alle rein. Es sei denn, man findet keinen Sitzplatz. BeimWiener Neustädter Tierschützer-Prozess sindPolizeischüler in den Saal gestopft worden, um den Sympathisanten der Angeklagten nicht das Feld zu überlassen.

Es sei denn, es sei denn, es sei denn – ja, der Öffentlichkeitsgrundsatz hat es derzeit schwerer denn je. Aber er existiert.

Bemerkenswert ist: Das Beispiel mit der erbetenen medialen Anonymisierung macht Schule. Es entwickelt sich sogar hin zur erzwungenen Weglassung der Identitäten.

Landesgericht Wiener Neustadt, 27. Jänner. Ein 18-jähriger Asylwerber aus Afghanistan, der eine 72-jährige Niederösterreicherin vergewaltigt und erheblich verletzt hat, bekommt 20 Monate Haft (die Tochter des Opfers ist übrigens Flüchtlingshelferin). Nur 20 Monate. Auch der Staatsanwalt akzeptiert die Strafe. Er könnte berufen. Tut es aber nicht. Danach langen per Mail Morddrohungen bei der Richterin ein. In sozialen Netzwerken fegt wegen der milden Strafe ein Shitstorm über die Frau Rat hinweg. Der Volkszorn bricht sich Bann.

Konsequenz des Gerichts, das verständlicherweise seine eigenen Leute irgendwie schützen muss: Die öffentlich aushängenden Verhandlungspläne enthalten keine Richternamen mehr. Die Pläne, die von der Pressestelle exklusiv an die Medien gehen, aber auch nicht. Sind dieMedien schuld (und müssen diese bestraft werden),wenn ein Urteil derartmassive, teils bedrohliche Kritik hervorruft? Oder sind die Medien „nur“ daran schuld, dass ihre Konsumenten nun wissen, wer das Urteil gesprochen hat? Letzteres zweifellos. Belädt man sich mit Schuld, wenn man die Öffentlichkeit lückenlos informiert? – Das Rezept verdichtet sich. Keine Namen mehr (inkonsequent ist, dass in einem Einzelfall zuletzt doch ein Richtername per Aussendung „verraten“ worden ist). Die Justiz als anonymer Apparat. Ihre Vertreter heben ihre Schilde und bilden einen Schildkrötenpanzer gegen die Gefahr von außen.

Kritik an einem Urteil und damit logischerweise am Richter, der es gefällt hat, darf, ja soll aber sein. Sie ist Ausfluss der Meinungsfreiheit. Kritik an einem Urteil ist nicht Kritik an einer hermetischen Institution namens Justiz, einer Institution, die in Österreich im Großen und Ganzen gut funktioniert, weshalb sie auch nicht jedesmal Pauschalkritik verdient. Kritik an einem Urteil ist vielmehr das Kundgeben eines konkreten und begründeten Tadels. Nicht mehr und nicht weniger.

Ein Blick ins echte Leben: Eine Staatsanwältin fragt den Autor dieses Beitrags:„Wer war denn der Richter?“ Die Anklägerin hat einen Bericht über eine interessante Verhandlung in der „Presse“ gelesen. Darin bleibt der Name des Richters unerwähnt (dieser ist dem Autor bekannt). Gewiss: Immer wieder werden „namenlose“ Berichte verfasst. Diesem Umstand sollte aber eine freie redaktionelle Entscheidung zugrunde liegen.

Zurück zu der Staatsanwältin. Die „Der-Name-tut-nichts-zur-Sache“-Fraktion ahnt schon, worauf das Beispiel hinausläuft.(Apropos: Wenn es angeblich gleichgültig ist, ob in Artikeln die Namen vorkommen, können sie ja ruhig vorkommen.) Also: Ein echter Mensch (nicht „die Staatsanwaltschaft“) interessiert sich für einen anderen echten Menschen. Nun mag genannte Fraktion einwenden: „Eine Staatsanwältin kennt natürlich viele Richter, das ist etwas anderes.“ Nein, ist es nicht. Zeitungen schreiben, um möglichst viele Berufsgruppen umfassend zu bedienen. Angemerkt sei, dass es auchschon Richter und Staatsanwälte gegeben haben soll, die wegen ihrer (ihnen selbst gar nicht unangenehmen) Medienpräsenz Karrieresprünge machten.

Gehen wir es durch. Schreiben wir statt Richter Max Mustermann einfach: „der Richter“, oder noch vager, weil das Geschlecht verdeckend: „das Gericht“. Und seien wir ehrlich: Ist es wirklich so wichtig, ob „das Gericht“ in Krems oder in Korneuburg steht? Eben. Einfach: „das Gericht“ (irgendwo in Österreich). Bezirksgericht? Landesgericht? Auch egal. Konsequenterweise müssen derartige Abstraktionen auch für die Damen undHerren Staatsanwälte gelten („die Staatsanwaltschaft“). Für Beschuldigte und Zeugenerst recht. Diese beide Gruppen genießen in unterschiedlichen Ausprägungen den Schutz des Medienrechts. Lässt man nun (wer will sich schon mit Medienrecht abmühen?) „sicherheitshalber“ und weil es ohnedies nichts zur Sache tut, sämtliche Spezifizierungen weg, steht am Ende kein Zeitungsartikel, sondern ein aus Textbausteinen zusammengesetztes, formularhaftes Etwas fernab jener Details, die eine Geschichte zu einer Geschichte machen.

Und bekanntlich gehört es zum journalistischen Handwerk, dass man den Lesern bei Zitierungen (Beispiel: Passagen einer guten Urteilsbegründung) auch die Quelle des Zitats verrät. Andernfalls mit „Wer-war-denn-der-Richter?“-Fragen zu rechnen ist.

Es ist einzusehen, dass auch die Gerichtsbarkeit ihre Schutzmechanismen weiterentwickeln muss. Ein Anfang wäre gemacht, wenn etwa die ihrerseits anonymen Social-Media-Aktivisten und deren Hasspostings eingedämmt werden könnten. Wenn aber die Strafjustiz Verstecken spielt, statt durch beeindruckende Persönlichkeiten und packende Plädoyers zu glänzen – wenn ihre Wachleute wie die Klon-Krieger in „Star Wars“ auftreten, dann entsteht eine Kluft zwischen der – auch medialen – Öffentlichkeit und besagtem Apparat. Kritik trifft nicht mehr ins Schwarze, sondern wird vom Apparat absorbiert. Einige mögen darüber ganz froh sein. Aber ein Rechtsstaat sollte es sich nicht nehmen lassen, gerade in Zeiten des Terrors mutig aufzutreten.

„Not only must justice be done; it must also be seen to be done“ lautet ein altes englisches Diktum. Es besagt: Justiz lebt auch vom äußeren Anschein. Wenn sie Recht produziert, tut sie dies vor den Augen der Öffentlichkeit. Wenn sie sich für Gerechtigkeit einsetzt, ist sie vom Empfinden der Menschen abhängig. Schiefe Optik ist Gift. Je größer die Dosis, desto kleiner das Vertrauen.

Passende Maßnahmen gegen Angriffe auf die Rechtsprechung und ihre Organe mögen schwer zu finden sein. Dennoch spricht alles für eine offene, selbstbewusste Justiz. Schemenhaft zeigt sich dieser Tage aber das Bild einer Justiz in Angst. Diese trägt am liebsten Harnisch. Wie die Drachenreiter aus der Zeit der Renaissance. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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