Raus aus dem Korsett

Nach der Flucht vor dem Nationalsozialismus war sie in Amerika als Komponistin und Musiktherapeutin erfolgreich. Hierzulande kann man nun erst ihre Verdienste entdecken. Stationen aus Vally Weigls Leben.

Kürzlich wurde der Film „Käthe Leichter – Eine Frau wie diese“ über die österreichische Pionierin der Frauenforschung gezeigt. Dieser würdigt die Verdienste einer der ersten studierten Ökonominnen Österreichs, die in den 1920er-Jahren das Frauenreferat in der Arbeiterkammer aufbaute. Als Sozialdemokratin und Widerstandskämpferin war sie durch ihre brutale Ermordung durch das NS-Regime nur Insiderkreisen bekannt. Nun ist sie in eine breite Öffentlichkeit zurückgekehrt. Das Gleiche gilt für ihre Schwester Vally Weigl. Ihr Leben und Werk werden als Teil einer musikalischen, verbalen und visuellen Präsentation mit sechs anderen Komponistinnen im September 2016 folgen. Im Rahmen des diesjährigen Festivals von EntArteOpera soll sie die ihr gebührende Resonanz finden.

Valerie, genannt Vally, war die Erstgeborene in der Familie Pick. Sie kam am 11. September 1894 zur Welt. Nur elf Monate danach folgte ihre Schwester Käthe. Der Vater Josef war Gerichtsadvokat. Seine um 22 Jahre jüngere Ehefrau Charlotte Rubinstein galt als kunstliebende, fünf Sprachen sprechende Frau und brillierte als exzellente Pianistin. Die ersten Prägungen der beiden entsprangen dem typischen intellektuell und künstlerisch anregenden Milieu assimilierter Bürgertumsfamilien der Wiener Jahrhundertwende. Man lebte in einer geräumigen Wohnung im Zentrum Wiens, verfügte über Personal und zog im Sommer in die unbeschwerte Sommerfrische nach Baden.

Die Eltern boten den zwei Töchtern nichtnur ein inspirierendes Milieu, sondern auch eine gute Ausbildung, was in der Monarchie für Mädchen unüblich war. Sie diente vielen assimilierten jüdischen Familien aber als zusätzliche Möglichkeit der Integration, des sozialen Aufstiegs und des Prestiges. Die Vorstellung einer dem Manne dienenden Ehefrau war bereits brüchig geworden, entsprachallerdings dem von der Mutter gewünschten Ideal, das sie selbst lebte. Trotz dieser Widersprüche beeinflusste sie Vally mit ihren Charaktereigenschaften von Energie, Zielbewusstheit und Zähigkeit im Erringen großer Leistungen.

Obwohl oft wie Zwillinge gekleidet, unterschieden sich die Schwestern: Käthe galt als die „Kluge“, Vally als die „Schöne“. Sie war vielseitig begabt und widmete sich bereits als Kind der Malerei und Musik. Zwischen beiden Schwestern bestand jedoch eine permanente Rivalität. Trotz der Gegensätze glichen sie sich in der Revolte gegen das vorgegebene Frauenbild. Vally opponierte gegen das auf Grazie und Anmut reduzierte Weiblichkeitsideal und entwickelte sich zum „schwarzen Schaf“ der Familie. Bereits mit 17 Jahren gab sie selbst Klavierunterricht, was von der Mutter keineswegs gewünscht war, da die Tätigkeit nicht der Tochter eines angesehenen Gerichtsadvokaten entsprach.

Dem Kampf um ihre Emanzipation diente auch ihre Leidenschaft zum Bergsteigen und Skifahren. Bei derartigen Betätigungen konnte sie das einengende Korsett gegen bereits selbst verdiente Sportkleidung tauschen und darin neue Unabhängigkeit genießen. Nach der Matura war sie mitten im Ersten Weltkrieg Schülerin und Assistentin des Komponisten und Professors für Klavier, Richard Robert, der auch die Wunderkinder Rudolf Serkin und George Szell unterrichtete.

Liebste Freundin des Herrn Professor

Ebenso absolvierte sie in dieser Zeit ein musikwissenschaftliches Studium bei Guido Adler. Ab 1914 belegte sie bei dem renommierten Karl Weigl die Fächer für Kontrapunkt und Komposition. Er galt als geschätzter Musikpädagoge und Komponist der Spätromantik. Bereits 1917 war aus der talentierten Schülerin und „liebsten Freundin“ des Herrn Professors sein „Liebling“ geworden. Das Paar verbanden die Musik und fachliche Fragen zur Komposition sowie die Liebe zur Natur, zum Wandern und Bergsteigen.

Im Wien der Ersten Republik fand Vally als Musikerin kein finanzielles Auskommen. So nahm sie 1920 für 15 Monate eine Arbeit bei der International Transport Workers Union in Amsterdam an. Hier betätigte sie sich als Sekretärin und Übersetzerin für vier Sprachen. Die lokale Distanz zum familiären Umfeld diente ihr als weiterer Befreiungsschlag. Die Arbeit war aus der ökonomischen Notwendigkeit geboren, behinderte sie aber in ihrem künstlerischen Schaffen. 1921 kehrte sie nach Wien zurück und heiratete ihren um 13 Jahre älteren und geschiedenen Professor Karl Weigl. 1926 kam der gemeinsame Sohn Wolfgang Johannes zur Welt, benannt nach den Kulturgrößen aus Literatur und Musik: Mozart und Goethe. Ende der 1920er-Jahre war Karl Weigl ein gefragter Pädagoge, geschätzter Komponist und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Vally unterrichtete an der Volkshochschule und gab Privatstunden. Mit ihrem Mann trat sie als Klavierduo auf und unterstützte ihn in seinem Schaffen.

Als Hitler 1933 die Macht in Deutschland übernahm, bedeutete das in der Folge das Ende der Karriere von Karl Weigl. Seine Werke kamen auf die Verbotsliste. Auch in Österreich wuchs der Antisemitismus, und die Weigls verloren zunehmend ihre Schüler. 1938 waren sie wegen ihrer jüdischen Abstammung zudem in Lebensgefahr. Während er Österreich nicht wirklich verlassen wollte, trieb sie die Entscheidung zur Flucht voran. Die bürokratische Odyssee einer legalen Ausreise kostete beide viel Zeit und Nerven. Mithilfe der Quäker gelang ihnen schließlich mit ihrem zwölfjährigen Sohn die Reise in die USA. Zu diesem Zeitpunkt war Karl 57 und Vally 44 Jahre alt. Die große Wohnung im Zentrum Wiens musste einer kleinen Behausung im Exil weichen; der Sohn fand in mehreren Quäker-Pflegefamilien Unterkunft und Betreuung.

Das Paar bemühte sich in New York um Arbeit, gab privaten Klavierunterricht, bot Stunden in Komposition und Musiktheorie an und trat vierhändig Klavier spielend bei Veranstaltungen auf. Es kämpfte um die ökonomische Existenzsicherung. Gleichzeitig waren Flüchtlinge aus Europa auch in den Staaten nicht immer willkommen und bekamen den amerikanischen Antisemitismus zu spüren. Vallys Mutter befand sich in einem Sanatorium, weil sie aus Verzweiflung Selbstmordversuche unternommen hatte. Ihr letzter führte schließlich 1939 zum Tod der gequälten Frau. Sie stürzte sich in einem Stiegenhaus in die Tiefe, auch um nicht als Erpressungspfand für ihre inhaftierte Tochter Käthe zu dienen. Obwohl Karl Weigl trotz seiner seelischen Instabilität weiterhin komponierte, misslang ihm eine Integration. Vally hingegen konnte durch ihre Sprachkenntnisse und ihr Engagement in der Gemeinschaft der Quäker bald Fuß fassen. So unterrichtete sie in einer ihrer Schulen in Pennsylvania und begann regelmäßig zu komponieren. Ihre zwischen 1941 und 1949 entstandenen Chorkompositionen dokumentieren eine spirituelle Ausrichtung, die sie mit der Quäker-Gemeinschaft teilte. 1943 erhielt das Ehepaar die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Der Tod ihres Mannes im Jahr 1949 und eine Schulterverletzung, die ihr das Klavierspielen unmöglich machte, markieren eine erstaunliche Wende der Mittfünfzigerin. Durch die Verletzung sensibilisiert, erkannte sie, dass Musik den Heilprozess verbessern konnte. Mit der dazugehörigen Ausbildung und dem akademischem Abschluss eröffnete sich ihr mithilfe der Musiktherapie ein vollkommen neues Betätigungsfeld. Während andere mit 60 in den Ruhestand treten, glich ihr beruflicher Wechsel einem fulminanten Neustart. Zwischen 1955 und 1965 etablierte sie als Chefmusiktherapeutin an der New York Medical Research Clinic die Tanztherapie, übernahm 1963/64 am Mount Sinai Hospital in New York die Leitung eines Forschungsprojekts zur Klärung des Einflusses von Musik auf die Krankheitsdauer und gab ihre Kenntnisse in zahlreichen Kursen und einschlägigen Publikationen weiter.

Ihre Vorträge führten sie von Canada nach Hawaii und zurück nach Europa. Hier analysierte sie Ende der 1950er-Jahre in zahlreichen Ländern den Entwicklungsstand der Musiktherapie. Im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte der Musiktherapie wird von einer wechselseitigen Transferleistung zwischen Europa und Amerika vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ausgegangen, bei der Vally Weigl eine wichtige Rolle spielte. In ihrem Verständnis von Therapie aber erhielt die Musik selbst eine wesentlicheVermittlungsfunktion zwischen den Kranken und ihrem Umfeld. Als überzeugte Pazifistin verstand sie Musik zudem als bestes Mittel, um Verbindungen zwischen Nationen und Menschen herzustellen.

Neben ihren beachteten Fachpublikationen konzentrierte sich Weigl erst jetzt auf ihr kompositorisches Schaffen. Oft präsentierte sie ihre Werke im Rahmen der von ihr organisierten Kulturveranstaltungen. Ihr Œuvre spiegelt ihre politische und pazifistische Einstellung wider, ihre Kompositionen zeigen einen geistlichen und weltlichen Schwerpunkt von Vokalwerken, der insgesamt um die 190 Titel umfasst und an die Spätromantik ihrer Wiener Herkunft angelehnt ist.

Alterslose Aktivistin

Ihr unermüdlicher Aktivismus kannte kein Alter. Die betagte Dame engagierte sich in zahlreichen Frauen- und Friedensvereinen. Gleichzeitig widmete sie sich der Verwaltung und Promotion des Nachlasses und damit dem Lebenswerk ihres Mannes. 1967 wurde durch ihre Initiative der Karl Weigl Memorial Fund gegründet. So machte sie sich mit anderen um die musikalische Präsenz seines Werkes verdient. Tatsächlich ist sein musikalisches Vermächtnis aufgrund ihrer Aktivitäten deutlich besser dokumentiert und stärker integriert in der Musikwissenschaft und im allgemeinen Spielrepertoire als ihr eigenes.

Vally Weigl starb 1982 mit 88 Jahren. Sie hatte die Hälfte ihres Lebens in Amerika verbracht und ihren Mann um über 30 Jahre überlebt. Wenn eine junge Kompositionsschülerin ihren Jahre älteren Professor heiratet, ist ein Ungleichgewicht von Können und Erfahrung integraler Bestandteil der daraus entstehenden Beziehung. Müssen beide zudem im fortgeschrittenen Alter vor Verfolgung fliehen, entwickelt sich das erzwungene Exil zu einer neuen Herausforderung. Sicher nicht zufällig startete Vally in Amerika erst nach dem Tod ihres Mannes als Komponistin und Pionierin der Musiktherapie mit 60 Jahren eine eigenständige Karriere. Betrachtet man ihren Lebenslauf, so erscheinen die Jahrzehnte als Witwe als ihre produktivsten und eigenständigsten.

In ihrer neuen Heimat fanden die Verdienste von Vally Weigl als Komponistin und Musiktherapeutin durch zahlreiche Auszeichnungen Anerkennung. In ihrer Geburtsstadt Wien blieben ihr Name und Werk dagegen weitgehend unbekannt. Erst 2001 wurden einzelne kammermusikalische Stücke in einer Kooperation zwischen dem Orpheus Trust und dem Herbert von Karajan Centrum in Wien einem österreichischen Publikum präsentiert, 2009 wurde im 10. Wiener Gemeindebezirk eine Gasse nach ihr benannt. Im September 2016 kehrt sie durch das Engagement von Susanne Thomasberger im Rahmen ihres EntArteOpera Festivals erneut nach Wien zurück. So sind beide Schwestern im selben Jahr zumindest im historischen Gedächtnis wiedervereint. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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