Ein Gespenst geht durch Amerika

Wer verliert, den schalten die Networks einfach ab. Den Verlierer gibt's gar nicht mehr. Trump, Clinton, Palin, Sanders und das flache, flache Land: Notizen aus dem US-amerikanischen Vorwahlkampf.

Unlängst schrieb ich einem Freund: „Vormittags gegen zehn sitze ich mit einem Freund an der Main Street, wir trinken Kaffee. Ein älterer, ein wenig heruntergekommen wirkender Mensch tritt an unseren Tisch und fragt: ,Was sitzt ihr hier herum und trinkt Kaffee, anstatt zu arbeiten?‘ Worauf ich zurückgebe: ,We just need a break!‘ Worauf er, kurz angebunden, anmerkt: ,There was a time I earned 10.000 bucks an hour, guys!‘ – was angesichts seiner Klamotten, seiner fettigen Haare doch einigermaßen unwahrscheinlich klingt. Abgehend flüstert er uns noch zu, dass Chrysler Corporation, die Autofirma, kurz vor einer feindlichen Übernahme stehe – die Spatzen pfiffen es bereits von den Dächern. Kaum ist der Mann fort, kommt mir vor, als hätte ich da den amerikanischen Traum gesehen, freilich als Gespenst.“


Beim Treffen der örtlichen
Demokraten finde ich in einem dieser kahlen Meetingrooms aus Plastik und Spanplatten bis auf zwei oder drei junge Leute lauter Greise vor. Der Bezirksparteisekretär ist mittelalterlich. Zu Beginn erfolgt – stehend – eine Art Einschwörungsformel mit aufs Herz gelegter Hand: Ich kenne das vom Football her, vom Absingen der Hymne. Die Diskussion verläuft dann ernsthaft, aber humorvoll. Die Leute sind engagiert, dabei aber, in gleichsam familiärer Runde, gut aufgelegt. Sie sind motiviert, einsatzbereit und opferwillig. Sie stellen ihre Zeit, ihre Häuser und auch etwas Geld zur Verfügung. Hier werden nicht nur die Kampagnen für die Vorwahlen, für die Präsidentschaftswahl im Herbst vorbereitet, zugleich läuft etwa zudem die Kampagne für den Sheriff, für den örtlichen Friedensrichter, aber auch für einen Platz im Senat oder Repräsentantenhaus.

Für gewöhnlich gibt nur etwa ein Drittel der Amerikaner bei Wahlen die Stimme ab. Man kann sagen: Die Mehrheit einer Minderheit bestimmt die Geschicke des Landes.

Bill Clinton, höre ich später, soll bei seiner Wahlkampfreise seinerzeit im Städtchen gewesen sein, Barack Obama gar zweimal in der nahe gelegenen größeren Stadt. Also, vielleicht wird Hillary es auch schaffen?

Wieder fahre ich
durch die hier herum vollkommen flache und wie ausgeräumt wirkende Landschaft. Ziel meiner Fahrt ist ein Friedhof. Dort kann ich herumspazieren, eine der raren Gelegenheiten, sich im Freien ein wenig die Füße zu vertreten. In der offenen Landschaft draußen wäre das gefährlich: Man könnte sich leicht eine Kugel einfangen, ein Hund könnte auf einen gehetzt werden. No trespassing, eines der häufigsten Schilder hier.

Der Friedhof zieht sich einen Hügel hinauf, der abgetrennt und für sich in der Ebene steht. Auf vielen Grabmälern sind neben den Namen der Toten auch Sinnsprüche eingemeißelt, etwa „Death is Freedom“ oder „The Lord is my shepherd“, in jedem Fall eine lohnende Lektüre. Wie immer bin ich der einzige Besucher. Die nächste Siedlung, sie liegt ein Stück weit ab, hat wohl bessere Zeiten gesehen. Eine in Pseudogotik aufgeführte Kirche steht jetzt überdimensioniert und vereinsamt zwischen Trailern, die an der Durchgangsstraße aufgereiht sind.

Immerzu Richtung Westen
fahrend, kommen mir Jack Kerouac und sein Freund Dean in den Sinn. Schon früh wurde gespöttelt, die letzte Freiheit, die den Amerikanern geblieben sei, sei die, von Osten nach Westen zu fahren – und wenn man in Kalifornien angelangt ist, eben wieder zurück. Roadmovies haben den Topos dieser Autofahrerei ausgeschlachtet. Und doch: Wieder einmal fahre ich so dahin, ohne Ziel und einfach der Nase nach. Und wieder funktioniert es: Bald bin ich erfüllt von der Vorstellung, in meinem Auto unangreifbar und obenauf zu sein. Die ganze, große Welt da draußen, sie ist einfach nur dazu da, dass ich sie anschaue. Sie rollt sich vor mir aus. Immer gibt's da etwas zu sehen, immerfort etwas Neues. Wer wollte da, abgelenkt von aller peinlichen Eigentlichkeit, nicht guter Dinge sein?


Als Sarah Palin in Iowa,
irgendwo in der Prärie, auf die Bühne kommt um für Donald Trump zu werben – er selbst steht neben ihr und sieht, wie er so dasteht, ganz unwahrscheinlich aus, wie eine Replik seiner selbst, ein Dummy, eine dieser Figuren aus Madame Tussauds Kabinett –, als Palin die Verdienste Trumps vollmundig preist, ihn gar zum Märtyrer für die gute Sache erhebt – er opfert sein Geld und all sein Prestige! –, da vergisst sie das Wohl der Kinder, der Mütter und Väter, der families, wie sie immer wieder betont, keineswegs, im Gegenteil, gerade das hat sie vor allem im Auge (Trump wirkt jetzt bereits wie ein gütiger Übervater, eine Art Halbgott, der, aus überfließender Menschenliebe, tatsächlich alles und jedes richten wird: Weshalb denn gerade ein Milliardär der Richtige für die Probleme der Underdogs sein soll, bleibt unklar . . .). Trump jedenfalls nickt, etwas geniert und doch wieder geschmeichelt, zu den Ausführungen Palins. Für mich beginnen sich befremdliche Geräusche und Zwischentöne in diese Rede zu mischen – wo kommt der Lärm denn nur her? Ich höre Blech zerreißen, da und dort schon Geschrei, wilde Schreie, irres Geheul – oder ist es das Sausen von Granaten, das Pfeifen von Raketen, sind es Bombeneinschläge, das Aufrauschen und Krachen von Feuersbrünsten, ist es Fluchtgetrampel? Mit Trump als Präsidenten würde es bald Krieg geben, und das wäre nicht ohne uns.

„Make America safe and great again“, hämmert Palin vom Podium herunter ihren Zuhörern ein, die immer wieder in aufrauschender Zustimmung applaudieren oder ihre Werbetafeln schwenken, dass es aussieht wie eine aufgewühlte See.Mit „safe“ meint sie ohne Mexikaner, Moslems, Juden et cetera. Unter „great“ versteht sie, was Hitler unter Weltherrschaft verstand.

Heute ist Vorwahltag
in New Hampshire. Eine Vorwahl nach der anderen. Man ist sich unter Fachleuten einig: Wer hier in der Vergangenheit nicht Erster oder zumindest Zweiter wurde, schaffte es nicht weiter voran. Ein Hoch der Statistik! Also für Trump könnte das hier schon das Aus bedeuten. – Hier ist der Wunsch der Vater des Gedanken. Wie man sich doch irren kann. – Weiter geht's dann nach South Carolina, nach Nevada und so weiter, und dann kommt der Super Tuesday, die ganze Ochsentour. Dann Florida, Ohio – und das ist längst nicht alles. Morgen ist auch noch ein Tag: Payday. Judgement Day. Day of Reckoning. – Was für ein Geschäft!


Trump hat,
in selbstmörderischer Aufrichtigkeit oder getrieben bloß von maßloser Selbstüberschätzung, die Lügen von George W. Bush und seiner Administration in Sachen Irak-Krieg nicht nur angesprochen, nein, er hat die Leuten vom konservativen Establishment brüskiert: Wo waren denn, bitte, die berühmten Massenvernichtungswaffen im Irak, die doch den Grund zum Krieg seinerzeit abgegeben haben? „They turned the whole country upside down – they found nothing!“ Was hat uns dieser Krieg denn gebracht? „Nothing!“ Die Flüchtlinge jetzt, die Destabilisierung der ganzen Region: Seltsam, ausgerechnet aus dem Mund von Trump diese Dinge zu hören. Von einer Aufnahme von Flüchtlingen will er freilich nichts wissen: Da sei Gott vor (oder, wer weiß, der Teufel).


Wer verliert,
den schalten die Networks einfach ab. Den Verlierer gibt's gar nicht mehr.

Bei gutem Wetter
überquere ich die Main Street, die Sonne steht hoch, die Schatten liegen fast schon zärtlich auf dem Asphalt, nun, was will ich erzählen? Ist es auch Alltag, krudester Alltag hier um mich herum, mit Geschäftsschildern, Passanten, vorüberrollenden Autos und Lastautos, die von Kentucky, Texas oder von noch weiter her anfahren: Zugleich kommt mir diese ganz alltägliche Szene filmreif vor, wie aus einem dieser Hollywood-Produkte herauskopiert, und weshalb ist das so?

Die Medien mit ihrer Bildmacht und globalen Präsenz prägen die Wirklichkeit zum Versatzstück um. Und überquerst du jetzt auch tatsächlich die Main Street, und alles ist echt und real, und du grüßt zu einem Bekannten hinüber, der in Begleitung einer jungen Frau eben den Gehsteig herunterkommt, grün lackierte Lampenkandelaber, gusseiserne Sitzbänke, Blumenkisten am Gehsteigrand. Die Ampeln über der Kreuzung vorn schwanken leicht im Wind, blauer, leer geblasener Himmel – alles nur Kino.

Senator Sanders,
ein weißhaariger, alter Herr, sehr europäisch der Aufmachung nach, man merkt ihm an, dass ihn die Kampagne hernimmt. Der Mann rechnet bestimmt nicht damit, Präsident zu werden. Er hat sich aber vorgenommen, all seine Kräfte, und wenn's die letzten sein sollten, in den Dienst der Sache zu stellen. Ein Weltverbesserer? Ein Idealist? Nun, Sanders spricht von Revolution, von einer Bewegung, die von weit her kommt und langsam im Volk aufzulaufen beginnt: Es muss doch möglich sein, für alle einen Gesundheitsdienst zu schaffen, die Bildung wieder für alle erschwinglich zu machen, gut bezahlte Jobs zu kreieren. Bis auf das Wort Revolution kommt mir das alles bekannt vor. Ein europäischer Politiker würde das Wort Revolution niemals in den Mund nehmen, ein Sozialdemokrat schon gar nicht. Ein europäischer Politiker, gleich welcher Couleur, würde auch nicht, wie Sanders es tut, klipp und klar benennen, woher das Geld für diese Reformen denn kommen soll. Sanders sagt: Es geht nicht an, dass drei oder vier Prozent der Bevölkerung über mehr als die Hälfte des nationalen Reichtums verfügen. Das ist nicht okay. Das sagt Senator Sanders, da nimmt er sich kein Blatt vor den Mund, da bleibt er hart.


Indes rückt Trump
mehr und mehr mit seinen „Überzeugungen“ heraus: Folter, wie jetzt von den Geheimdiensten geübt, ist ihm zu lasch – härtere Bandagen gehören her. Den Einwand, das wäre gesetzeswidrig, wischt er vom Tisch: „Man wird sehen! Man wird schon sehen!“, sagt er drohend. Frauen und Kinder von Terroristen gehören ebenfalls getötet. Auf den Einwand „Aber die sind doch unschuldig!“ reagiert Trump mit der Ansage: „Damit kann ich leben!“ Ich frage mich, was er noch an derlei Ungeheuerlichem verlautbaren muss, bis die Leute vor ihm davonlaufen. „Seit wie vielen Jahren bemühen wir uns um die Arbeiterschaft“, gibt ein republikanischer Senator zu bedenken. „Jetzt bringt Trump sie uns daher – und das passt uns auch nicht.“ Trump – the unifier?Mir kommt das alles bekannt vor. Das war doch, ein Weilchen ist es her, schon einmal zu hören.


Letztens, nachts,
komme ich vom Weg ab, verfahre mich in der offenen Landschaft. Ein Netz von Lokalstraßen, die zwar Namen tragen, aber keinerlei Orientierungstafeln. In der Finsternis treiben die einsam stehenden Farmhäuser wie losgerissene Schiffe. Ich fahre – immer in der Hoffnung, auf eine der großen, überregionalen Straßen zu stoßen. Und während ich so fahre, steigt allmählich eine Art Panik in mir auf. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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