Eine Brille für die Zukunft

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THEMENBILD: ASYL / FLUeCHTLINGE / ASYLWERBERAPA/HERBERT NEUBAUER
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Die Sehnsucht nach Normalität ist ebenso groß wie jene nach Dazugehörigkeit, egal ob man sie über Pommes frites, Bowling oder Fußball erreicht.

Es wird viel gelächelt, weil noch großteils die Sprache fehlt. Der Augenkontakt ist direkt und vielsagend. Die ausladende Gestik nimmt viel Platz ein. Aber davon gibt es hier genug im geräumigen Phoenix Bowling Park an der Prater Hauptallee. Geht man auf die 20-köpfige Gruppe der Jugendlichen zu, die sich zum Bowling bereit machen, fällt es schwer, die jungen Leute auseinanderzuhalten. Haarfarben, T-Shirts, Jeans und Sneakers, alles ist austauschbar, verwechselbar. Erst als man sie sprechen, lachen hört, ist es klar: Hier treffen sich jüdische Österreicher mit muslimischen Asylwerbern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan.

Es herrscht aufgekratzte Stimmung, alle sind neugierig auf das, was hier geschieht – und aufeinander. „Woher kommst du?“ ist die am häufigsten gestellte Frage – auch Thomas möchte das vom zehnjährigen Amir wissen. „Aus Syrien“, antwortet der ältere Bruder für den Kleinen. Mehmet ist 17 Jahre alt und lernt schon fleißig Deutsch. Er wünscht sich eine Freundin: „Das geht dann schneller“, lacht er. Seine Schwester bittet um eine Übersetzung dieser offensichtlich lustigen Konversation. Motaz, der schon länger in Wien ist und Medizin studiert, kommt in seiner Freizeit hierher, um zu übersetzen. Warum macht er das? „Ihr helft meinen Leuten – ich mache alles für euch.“

Bini und Sammy, Schüler aus Wien, zeigen ihren neuen Spielpartnern, wie die Computereingabe für den Start funktioniert. Die ungewohnt-unbekannten Vornamen tippen die Jungen und Mädchen selbst ein. An den vier Bahnen sitzen jeweils gemischte Teams, und alle greifen ungeniert in die duftenden Schalen auf den Tischen. Alle kennen und mögen dieses internationale Futter: Pommes frites mit Ketchup und zwei schärferen Saucen. Einer der Sponsoren von „Shalom Alaikum“ hat die Kosten für den Bowling-Abend inklusive Getränke und Snacks übernommen. Den Transport hierher haben die jüdischen Jugendlichen individuell organisiert, in Privatautos oder als Begleiter in U-Bahn und Straßenbahn. „Ich mache da mit, denn ich finde das eine tolle Initiative“, sagt Tamar aus Wien und greift nach der schweren Kugel.

„Shalom Alaikum! Willkommen in Österreich! Wir sind eine jüdisch-österreichische Gruppe von Freiwilligen. Wir möchten Sie gerne begleiten, während Sie hier in Österreich ein neues Leben beginnen. Wir bieten Beratung, Trost und Unterstützung. Vor 70 Jahren haben wir Juden und Jüdinnen uns in einer ähnlichen Situation befunden wie Sie jetzt: Unsere Großeltern und Eltern mussten aus Österreich fliehen. Wir sind die Kinder und Enkelkinder dieser Generation jüdischer Flüchtlinge. Wir wissen, wie dankbar unsere Großeltern und Eltern all den Menschen waren, die ihnen beim Überleben geholfen haben.“ So lautet der deutsche Textabschnitt des Infoblattes, das auf Farsi, Arabisch und Englisch verteilt wurde: unter 19 Familien, etwa 100 Personen, davon die Hälfte Kinder, in einer Unterkunft im zweiten Bezirk.

Mehr als nur essen und schlafen

„Dieses Wohnhaus wird vom Fonds Soziales Wien vorbildlich verwaltet. Hier sind Asylwerber in der Grundversorgung, also während ihres Asylverfahrens untergebracht“, erzählt Miriam, eine der Gründerinnen des Vereins „Shalom Alaikum“. „Es geht uns darum, nachhaltig zu helfen, und um jene individuellen Bedürfnisse, die über das Essen und Schlafen hinausgehen“, erklärt Miriam, die erst kürzlich über ihre „Beziehungen“ – sie ist mit einem Kinderarzt verheiratet – drei schwangere Frauen an Ärzte vermitteln konnte, als sie noch keinen Zugang zur Versorgung hatten. Miriam, Unternehmensberaterin, verbringt täglich mehrere Stunden mit der Organisation solcher und anderer Hilfestellungen. Erst kürzlich hat der Verein sieben Schützlinge in privaten Kindergärten untergebracht. „Ein Junge konnte dem Deutschunterricht nicht folgen, weil er kurzsichtig war. Verena hat einen Augenarzt gefunden und ich einen Optiker, der die Brille kostenlos hergegeben hat“, freut sich Miriam. „Eine Apotheke hat uns Medikamente kostenlos gegeben, bis dann alle versichert waren.“

Die Vorgeschichte des Vereins beginnt – wie vieles im vergangenen Sommer – am Wiener Westbahnhof. Ronni, hauptberuflich Trainer und Jugendcoach, arbeitete wochenlang im Kids Corner. Miriam, Sonia, Verena und Judith waren überall dort, wo Hände und Zuspruch gebraucht wurden. „Mir ist aufgefallen, dass viele jüdische Menschen hier einzeln geholfen haben. Auch außerhalb des Bahnhofeinsatzes betreuten sie Ankommende, die ihnen ans Herz gewachsen waren“, erzählt Golda, die junge Ärztin. Jede Helferin, zumeist waren es Frauen, hatte dann einen oder mehrere Schützlinge, doch keiner dieser Moslems habe geahnt, geschweige denn gewusst, dass ihm von Juden geholfen wird.

„Ich dachte, das ist schade, denn wenn wir uns offen deklarieren, können wir etwas zur besseren Verständigung beitragen – und vielleicht sogar Vorurteile abbauen“, so die Mutter eines zweieinhalbjährigen Buben. Golda startete einen Facebook-Aufruf, und viele jüdische Freiwillige aus unterschiedlichsten Berufen und sozialen Schichten freuten sich darauf, gemeinsam aufzutreten. Das Verbindende besteht in ihrer Bereitschaft, fremden Menschen Zuwendung und Zeit zu schenken und, wenn nötig, auch die Geldbörse zu öffnen. Acht Personen bilden heute den Vorstand des Vereins. „Um effektiver zu sein, wollten wir uns auf ein größeres Projekt konzentrieren“, berichtet Miriam. Über ihr gutes Netzwerk erfuhr sie von jenem Haus im zweiten Bezirk, um dessen Bewohner sich jetzt „Shalom Alaikum“ laufend kümmert.

Das Chanukkah-Fest im vergangenen Dezember bestimmte Golda für die erste „Begegnungsaktion“, denn sie wollte die Familien bei dieser Gelegenheit auch gleich beschenken. Sonia, die ehemalige PR-Beraterin und Zeitungsredakteurin, gestaltete eine Liste von Piktogrammen, darauf konnten die Familien ihre Wunschobjekte ankreuzen. „Dazu zählte alles vom Bügeleisen über Kochgeschirr bis zur Topfpflanze“, erinnert sich Sonia, die im Namen des Vereins jeder Familie die gewünschten Sachen gleich in praktische Rollkoffer packte. Dazu gab es ein großes gemeinsames Essen, zu dem alle etwas beisteuerten: selbst gekochte Speisen und selbst gebackene Süßigkeiten, sowohl aus den Herkunftsländern der Flüchtlinge als auch aus den Wiener und osteuropäischen Küchen der Enkel von Flüchtlingen. „Da haben wir die viersprachigen Flugblätter verteilt. Dass wir Juden sind, hat nur positive Reaktionen ausgelöst“, so Miriam. „Murat erzählte von den jüdischen Nachbarn in Aleppo, mit denen sie bis zu ihrer Flucht befreundet gewesen waren; Mehmet rief nur aus: ,Ihr seid ja unsere Cousins!‘“

„Wie bekommt er da Luft?“ Staunend zeigt Mayla auf die silber-glänzende Rüstung im Wien Museum. So etwas habe sie noch nie gesehen, übersetzt Ahmad, der Arabisch sprechende Guide. Mayla, ihre jüngere Schwester und weitere acht Besucher machen sich mit der Geschichte Wiens vertraut: anhand von alten Landkarten und maßstabgerechten Modellen. „Ahmad ist Palästinenser und bei uns schon länger als Aufseher beschäftigt“, erzählt Matti Bunzl, Direktor des Wien Museums. „Eines Tages hat er mich gefragt, ob er nicht auch als Arabisch-Übersetzer und Führer im Museum arbeiten könnte.“ Ahmad absolvierte eine Ausbildung und führte nun auch die kleine Gruppe durch das Museum.

Ronni hat sich Zeit genommen und die Asylwerber zum Karlsplatz begleitet. Zwei haben schon Fahrscheine, den anderen bezahlt er diese aus eigener Tasche. Zurück müssten sie alleine fahren. Sie wirken nicht geschreckt, der achtjährige Kazem hat am wenigsten Scheu vor dem Kartenautomat. Mahmoud kommt aus Bagdad und fährt mit seinem kleinen Jungen ins Museum. Er war Sanitäter und Ambulanzfahrer und konnte die vielen Toten in seiner Heimatstadt nicht mehr ertragen. Sein Bruder ist neben ihm auf der Straße von einer Bombe getötet worden. Das Wien Museum schenkt den Eintritt und die Führungen: Direktor Bunzl, ein Kurator und Isabel Termini, Leiterin für Bildung und Vermittlung, haben sich im Vorraum zur Begrüßung der Asylwerber aufgestellt. Eine Geste des Willkommens.

Beschneidungen an Mädchen

Goldas Mutter hat das Babysitten heute Mittag übernommen, damit ihre Tochter ins „Haus“ fahren kann, um einer jungen Familie Kleiderspenden zu übergeben. Auch ein Besuch bei Mohammed, dem plastischen Chirurgen aus Mossul, ist wieder fällig. Der Facharzt ist nach einer mehrwöchigen Flucht mit Schiff, Zug, Bus und Taxi von Syrien über die Türkei nach Griechenland, Serbien, Kroatien und Ungarn Ende September in Wien eingetroffen. Mit seiner Frau Helia und der 12-jährigen Tochter Haja bewohnt der 48-Jährige ein sauberes, kleines Zimmer mit Stockbetten.

Während Haja ungefragt Tee zubereitet und auf dem niedrigen Hocker Kekse dazu anbietet, wischt die Mutter mit dem Finger über das I-Pad und zeigt auf zwei verschleierte, in schwarzen Kluften steckende Gestalten. „Aus Angst vor IS sind die beiden so gekleidet gewesen“, schüttelt Mohammed den Kopf. „Haja ist seit einem Jahr nicht mehr in die Schule gegangen, weil der IS auch Beschneidungen an Mädchen erzwingt.“ Dann springt der kräftige, rundliche Arzt auf und zeigt stolz sein Zeugnis: eine Bestätigung, dass er einen Deutschkurs erfolgreich absolviert hat. Jetzt besucht er noch zwei weitere Deutschkurse, „damit ich schnell wieder arbeiten, also meine Nostrifizierung an der Universität erhalten kann“. Golda gegenüber äußert er nur einen Wunsch: „Ich möchte in einem Wiener Spital Kollegen zuschauen, ichwill nur beobachten – auch mitten in der Nacht.“ Dann fügt er hinzu: „Meine Familie freut sich, von jüdischen Menschen betreut zu werden, denn sie wissen sich dann in guten Händen. Die offizielle Politik verfolgt ihreInteressen, aber wir sehen das anders.“

Mohammed bedauert so wie der 17-jährige Mehmet beim Bowling, wenig Gelegenheit zum Deutschsprechen zu haben. Im Haus werde zumeist Arabisch gesprochen, und so könnten sie die neue Sprache nicht üben. Die Sehnsucht nach Normalität ist ebenso groß wie jene nach Dazugehörigkeit, egal ob man sie über Pommes frites, Bowling oder Fußball erreicht. Wie das gehen könnte, zeigt die jüngste Initiative von „Shalom Alaikum“: Nach dem Bowling-Abend ging es wenige Tage später mit den neuen Freunden gemeinsam zum Derby Rapid gegen Austria. Auf dem Gruppenfoto sind die neuen und alten Fans von Grün und Violett nicht zu unterscheiden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)

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