Die Verzwergung Österreichs

(c) Clemens Fabry
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„Was hat denn die Nachwelt für mich getan? Nichts! Gut, das Nämliche tu ich für sie!“ Jetzt machen wir aber Ernst mit Nestroy: Bildungsstillstand, Technikfeindlichkeit, Regulierungswahn, Entsolidarisierung, Subventionitis,Überbürokratisierung, Rekordsteuerbelastung. Über die aktuelle Verzwergung Österreichs.

Ich gehöre der Generation an, die zwar einerseits noch bewusst den Krieg und seine Folgen, den Mangel der Nachkriegszeit und die zehnjährige Besetzung unseres Landes erleben musste, also den negativen Teil jener Zeit, die derHistoriker Eric Hobsbawm das „Zeitalter der Extreme“ genannt hat, dann aber das Glück hatte, den Lebensweg in Sicherheit, Frieden und Stabilität, in Freiheit, zunehmendem Wohlstand sowie steigender Wohlfahrt zu beschreiten und damit den größten Teil des Lebensweges im positiven Abschnitt des Zeitalters der Extreme zu erleben.

Diese Zeit war gekennzeichnet durch den Kalten Krieg, den wir in nächster Nähezum Eisernen Vorhang erlebt haben – wenngleich auf der freien und demokratischen Seite –, sowie durch die Entkolonialisierung, aber gleichzeitig überwölbt vom Sicherheitsschirm der Amerikaner, die als wohlwollender Hegemon geholfen haben, dass derwestliche Teil Europas sich wie Phönix ausder Asche wiedererheben konnte und zu einem wirtschaftlichen Riesen wurde, der heute bei einem Anteil von sieben Prozent an der Weltbevölkerung einen Anteil von 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung generiert, gleichzeitig jedochrund 50 Prozent der globalen Sozialausgaben konsumiert. Die Sozialquote beträgt hier im Durchschnitt 25 Prozent, während es in vielen Teilen der Welt unter 20 und mancherorts sogar unter zehn Prozent sind, beispielsweise in China. In Österreich hingegen sind es sogar fast 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, die für das Sozialsystem aufgewendet werden, ohne dass dies eine zunehmend weniger gerechte Gesellschaft verhindert hätte.

Zu der äußerst positiven Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg hat wesentlich die zunehmende europäische Integration – sowohl als Friedensprojekt als auch als erfolgreiches Wirtschaftsprojekt – beigetragen. Und als im Jahr 1989, dem von nahezu allen damals so empfundenen Annus mirabilis, die „Ordnung von Jalta“ und der damit verbundene Kalte Krieg friedlich zu einem Ende kamen und wir nur wenige Jahre später, 1995, nach einem Referendum mit nahezu Zweidrittelmehrheit Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden konnten, was uns bis dahin realpolitisch verwehrt gewesen war, war dies der Beginn für eine äußerst positive Entwicklung Österreichs, nicht zuletzt weil man nun hierzulande gezwungen war, einige längst überfällige Reformen durchzuführen.

Allerdings – und darüber kann die grundsätzlich positive Bilanz des europäischen Integrationsprozesses nicht hinwegtäuschen – ist die EU ein unfertiges Projekt geblieben. Egon Bahr, der Architekt der deutschen „Ostpolitik“ unter Willy Brandt, meinte einst, Europa sei „wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg und militärisch ein Wurm“. Dies hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass wir uns bisher nicht von den USA emanzipieren konnten oder wollten, was Präsident Obama jüngst zu der Feststellung veranlasste, dass wir, die Europäer, „Freerider“, also Trittbrettfahrer, seien, was im Übrigen in ganz besonderem Ausmaß wohl auf unser Land zutrifft.

Angesichts der Tatsache, dass das europäische Projekt auf halbem Wegstecken blieb, ist die nun entstandene Situation umso schmerzlicher und besorgniserregender. Diese besteht inzwischen aus einer Abfolge von Krisen, die zu überwinden nicht gelingen will und von denen monothematisierend alle anderen, vorallem die zukunftsorientierten Themen wie zum Beispiel eine zeitgemäße und längst überfällige Bildungsreform, verdrängt werden. Es begann 2007/08 mit der Bankenkrise, ging über in eine Krise der Staatsfinanzen und führte zur großen Rezession, mit immer weiter steigender Arbeitslosigkeit und wachsenden Schuldenbergen, in deren Folge wir von der Schuldenfalle in die Austeritätsfalle tappten. Dazu kamen noch die nach wie vor ungelöste Griechenlandkrise (Stichwort „Grexit“) und der drohende EU-Austritt Großbritanniens (Stichwort „Brexit“)sowie eine – trotz Öl-Überangebot – deutlicheingetrübte Weltwirtschaft, die sich vor allem – von wenigen Ausnahmen wie Deutschland oder der Schweiz abgesehen – in Europa und mittlerweile auch speziell in Österreich, zunehmend aber auch in noch vor Kurzem so wachstumsstarken Ländern wie China zeigt. Wir sind von der Überholspur auf dem Pannenstreifen gelandet. Da bleibt in der Folge kein Spielraum mehr für die großen globalen Herausforderungen, wie etwa die Bekämpfung von Armut oder die Sicherstellung von Bildung für alle, wie sie in den Millenniumszielen beziehungsweise in den Zielen nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen oder in der Europa-2020-Strategie festgehalten sind.

Dabei könnte gerade die Umsetzung des Bildungszieles vieles zum Besseren wenden, findet doch derzeit tatsächlich weniger ein „Kampf der Kulturen“ als vielmehr ein Kampfder Bildungskulturen statt. Bildung fördert die Demokratisierung, umgekehrt ist aber auch das Funktionieren der Demokratie – jener „Herrschaft des Volkes“ oder, wie Abraham Lincoln sagte, der „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ – auf ein gewisses Maß an Bildung der Bürger angewiesen.

Menschen von Bildung auszuschließen ist daher ein altes politisches Instrument, mit dem sich autoritäre Regime und Diktaturen zu stabilisieren versuchen, und auch alle fundamentalistischen Strömungen zeichnen sich letztlich dadurch aus, dass sie bildungsfeindlich sind. Dies reicht von den christlichen Fundamentalisten und ihrer Forderung nach Streichung naturwissenschaftlicher Fächer in den Schulen zugunsten des Religionsunterrichts bis zur islamistischen Boko Haram – übersetzt: „Bildung ist Sünde“ oder „Bücher sind Sünde“ –, zu den Taliban, zu al- Quaida oder dem IS.

Vor rund tausend Jahren war das intellektuelle Zentrum der Welt noch Bagdad, unddie arabische Welt dominierte die Bildung. Doch zwei Innovationen – die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (um 1440), die sogenannte Gutenberg-Presse,und die Reformation Martin Luthers mit der Forderung, dass jede Frau und jeder Mann lesen können sollte, um durch das Studium der Bibel eine direkte Beziehung zu Gott zu haben – führten langfristig zu einer Bildungsrevolution in Europa und legten, wie der Demograf Wolfgang Lutz jüngst aufzeigte, den Grundstein für Säkularisierung, Individualisierung und Demokratisierung.

Im Gegensatz dazu verbot Sultan Bayezid II. mit dem Beinamen „der Fromme“ im Jahr 1485 den Buchdruck für das gesamte Osmanische Reich unter Androhung der Todesstrafe – aus Angst, dass jedes gedruckte Buch eine Konkurrenz für das heilige Buch, den Koran, bedeuten würde. Der Buchdruck blieb in den nächsten rund 300 Jahren in der islamischen Welt ein absolutes Tabu; die durch den Buchdruck in Europa ausgelöste Bildungsrevolution ging an der islamischen Welt komplett vorbei – mit Folgen, die bis heute nachwirken.

Die weltweite Durchsetzung von Bildung für alle – im Sinne von Primärbildung: also Lesen, Schreiben, Rechnen – wäre ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und damit auch zur mittel- und langfristigen Lösung vieler Probleme, mit denen wir aktuell so sehr zu kämpfen haben. Bildung hat enorme Bedeutung für viele menschliche Lebensbereiche – ja sogar für das Überleben der Menschheit selbst. Bildung reduziert Armut, hilft Krankheit zu vermeiden, erhöht die Lebenserwartung, begünstigt Demokratisierungsprozesse und hilft bei der Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte, wie Lutz betont. Für ihn lautet die Devise daher auch: „Bildung ist nicht alles, aber ohne Bildung ist alles nichts.“ Und dennoch besteht derzeit laut Unesco eine Finanzierungslücke von rund 22 Milliarden US-Dollar für die weltweit notwendigen Investitionen in Bildung, wobei dies allerdings nur ein verschwindend geringer Betrag ist im Vergleich zu jenen 1776 Milliarden Dollar, die beispielsweise im Jahr 2014 global für Rüstung ausgegeben wurden.

Doch wie immer, „wenn zwei Krisen sich kreuzen, so frisst die stärkere die schwächere auf“ (Jacob Burckhardt), und so wird gegenwärtig alles überlagert durch die nicht und wahrscheinlich noch länger nicht gelöste Flüchtlingskrise sowie die lähmende Bedrohung durch islamistische Terroranschläge als Folge der ungelösten Probleme im Nahen Osten und nördlichen Afrika, wenngleich darauf hingewiesen werden muss, dass – bei aller Notwendigkeit, ihn zu bekämpfen – der Terrorismus nicht jenes Maß an Bedrohung darstellt wie das Ausmaß der Angst, das er erzeugt.

Die Anerkennung unseres geistigen Erbes aus dem Vorderen Orient und die Rückbesinnung auf unsere Wurzeln wären umso wichtiger, als zu all den genannten Krisen der vergangenen Jahre – Banken, Griechenland, Ukraine, Russland – uns vor allem der Staatszerfall in Afghanistan, Libyen, Syrien und im Irak die Flüchtlingskrise und die Hilflosigkeit, mit ihr gesamteuropäisch fertigzuwerden, beschert und auch das Fehlen der Solidarität aufgezeigt hat. Aber eine „Festung Europa“ und innerhalb Europas jedes Land als nationalstaatliche Wagenburg werden angesichts des uns umgebenden „Ring of Fire“, wie der ehemalige PremierministerSingapurs, Lee Kuan Yew, schon vor mehr als20 Jahren die tektonische Eruptionszone vom Kaukasus bis nach Nordafrika genannt hat, nichts helfen.

Noch ist die Europäische Union mit ihren mehrals 500 Millionen Einwohnern die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Im Jahr 1900 lag der Anteil Europas an der Weltbevölkerung noch bei 20 Prozent, heute sind es nurnoch sieben, 2050 werden es voraussichtlich nur mehr vier Prozent sein. Und nicht zu vergessen: Kein einziger europäischer Staat, auch nicht Deutschland, wird auch nur ein Prozent der Menschheit ausmachen. Und dennoch driftet die EU wieder auseinander und läuft Gefahr, zurückzufallen in eine renationalisierte Kleinstaaterei.

Doch damit sind wir schlecht für die Herausforderungen – für die bereits skizzierten ebenso wie die noch hinzukommenden des Klimawandels und des digitalen Wandels – gerüstet. So hat Europa beispielsweise die vor allem nach der Wende von 1989 verstärkte Globalisierung nutzen können, ist aber dennoch deutlich hinter der Innovationskraft der USA zurückgeblieben. Wir sind eine WLAN-Wüste und digitales Kolonialgebiet, wie Peter Sloterdijk jüngst feststellte. Jedenfalls hat Amerika die neuen Industrien und das Silicon Valley, und Europa hat die alten Kohle- und Stahlwerke – um es zugespitzt zu formulieren.

Vor allem aber haben wir die geopolitischen Veränderungen nicht hinreichend berücksichtigt, etwa die Ambitionen Putins bezüglich Restauration des russischen Einflussbereichs und den daraus resultierenden Krieg in der Ost-Ukraine, der zu einem „neuen Kalten Krieg“ geführt hat, oder die wieder aufflammende Rivalität zwischen Russland und der Türkei. Russland schwankt erneut zwischen Bedrohungsängsten, Expansionsträumen und Großmachtstreben. Gleiches gilt für die Türkei unter Erdogan. Kein europäisches Land ist allein in der Lage, diesen Herausforderungen zu begegnen. Ich erlaube mir, an Mark Twain zu erinnern: „Eitherwe hang together or we'll hang separately.“ – Also: Mitspieler oder Spielballauf der Bühne des geopolitischen Geschehens sein.

Ebenso ist uns zu wenig bewusst, welche wirtschaftlichen Entwicklungen stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon hat jüngst in seinem Werk „The Rise and Fall of American Growth“ eindrucksvoll beschrieben, dass wirtschaftliches Wachstum ein relativ junges Phänomen in der Menschheitsgeschichte ist, welches zudem möglicherweise seinen Zenit auch schon wieder überschritten hat. Seinen Höhepunkt hatte das Produktivitätswachstum Gordons Darstellung zufolge in den hundert Jahren zwischen 1870 und 1970. Es brachte den Menschen – aufbauend auf den vorangegangenen drei großen Innovationen Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Telegraf – neue Erfindungen und Entdeckungen, die das Leben komplett veränderten, etwa die Elektrizität, das Erdöl und die Petrochemie, das Auto, das Flugzeug, aber auch das Telefon, das Radio und das Fernsehen, die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der Antibiotikaund der Impfungen, die Nuklearenergie und die Quantenmechanik sowie – nicht zu vergessen – fließendes Wasser und damit auch die Toilettenspülung.

Im Vergleich zu all diesen Innovationen nehmen sich nach Gordons Ansicht die Erfindungen des Computerzeitalters nicht mehr besonders beeindruckend aus. Und auch das durch sie generierte Wirtschaftswachstum fällt vergleichsweise gering aus. Und so geht Gordon davon aus, dass der scharfe Wachstumsrückgang der vergangenen 15 Jahre keine vorübergehende Krise, sondern ein Dauerphänomen ist, auf welches wir uns einstellen müssen.

Erkennbar sind die Auswirkungen bereits am sinkenden Lebensstandard, den breite Bevölkerungsschichten seit einigen Jahren erfahren. Was seither in Fachkreisen unter dem Begriff „The Great Gatsby Curve“ diskutiert wird, spürt die Mehrzahl der Menschen im alltäglichen Leben: die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung, die auch die soziale Mobilität und damit die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs beeinträchtigt. Jedenfalls befürchten viele Experten, dass wir – so wie Japan schon seit über 30 Jahren – eine säkulare Stagnation erleben werden: mit hoher Arbeitslosigkeit, mit wachsenden Schulden und mit einem Zinsniveau, bei dem die Zinsen ihre Steuerungsfunktion verloren haben. – Im Rahmen dieser Entwicklungen sind wir in Österreich nach den großen Erfolgen, mit denen wir zu einem der wohlhabendsten Länder mit bedeutenden sozialstaatlichen Einrichtungen geworden sind, zurückgefallen. Wir versuchen, uns in ein neokonservatives Biedermeier von raunzend-ängstlicher Provinzialität zurückzuziehen, wir versuchen,damit Problemen auszuweichen, die uns dann mit umso härterer Wucht treffen. Das Ergebnis ist eine traurige Isolierung und der Verlust wirkungsvoller Nachbarschaftsbeziehungen, ohne Gestaltungsmöglichkeiten in der EU und ohne gepflegte Beziehungen zu den Großmächten. Ein Land, das lange eine erfolgreiche aufholende Wirtschaftsentwicklung erzielte, ist nun „abgesandelt“ (ChristophLeitl) und verliert weiter und weiter an Boden. Zunehmend verprovinzialisieren wir.

Es ist dies die Folge einer systemerhaltenden und privilegienverteidigenden Klientelpolitik mit dem Ergebnis des totalen Stillstands. Veränderungsaversion, intellektuelle Lähmung, Bildungsferne, Wissenschaftsdesinteresse und Technikfeindlichkeit, der ungezügelte und strangulierende Regulierungswahn, die Überbürokratisierung, die intransparente, wettbewerbsverzerrende und enormbudgetbelastende, nahezu epidemische Subventionitis, die exorbitanten Lohnnebenkosten, der Mangel an qualifiziertem Personal bei Rekordarbeitslosigkeit, schwächelnder Produktivitätszuwachs, die Ineffizienz und die Schieflage der öffentlichen Haushalte samt wachsender Schuldenberge trotz Rekordsteuerbelastung beigleichzeitiger Vernachlässigung der Zukunftsausgaben – dies alles ersticktden Forschungs-, Innovations-, Unternehmergeist, gefährdet immer stärkerunsere Wettbewerbsfähigkeit und damit unseren Wirtschaftsstandort. Um esan einem Beispiel zu illustrieren: Österreich, angeblich atomstromfrei, importiert solchen und vor allem für rund zwölf Milliarden Euro – das sind rund vier Prozent der Wirtschaftsleistung – fossile Energieträger, um in der Folge jede Menge Feinstaub zuproduzieren. Wir haben ringsum den niedrigsten Treibstoffpreis – mit einem Steuerentgang von gut einer Milliarde Euro – und eine verkehrs- und umweltpolitisch falsche Pendlerpauschale für gehobene Einkommensbezieher mit einem weiteren Steuerausfall von 600 Millionen. Dazu passt das sogenannte Gegenfinanzierungspaket, das weitmehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet, als es fiskalisch Nutzen bringt. Diese steuerpolitische Meisterleistung hätte dem Teufel im Zorn nicht einfallen können. Sie hat nun auch das Registrierkassensyndrom ausgelöst,mit dem Ergebnis eines massenhaften Wirtesterbens.

Dennoch meinen wir: „Uns geht's gut – und morgen?“, wie der Titel einer Veranstaltung im Kleinen Walsertal treffend lautete. Sarkastisch hat schon Johann Nestroy darauf die Antwort gegeben: „Was hat denn die Nachwelt für mich getan? Nichts! Gut, das Nämliche tu ich für sie!“

Die Menschen spüren zwar den mit den aktuellen Umbrüchen, tektonischen Verschiebungen und Umwälzungen verbundenen Veränderungsdruck, wollen aber gleichzeitig, dass alles so bleibt, wie es ist. So entsteht Orientierungslosigkeit, umso mehr, als auch die Politik wie gelähmt sich in punktuellen populistischen Opportunismus flüchtet und damit nicht den Eindruck der Kompetenz, sondern der Hilflosigkeit hinterlässt. Wir wollen Festungen statt Brücken bauen, Routen schließen statt Pfade öffnen und meinen, aus unserem Land eine stacheldrahtumzäunte Wagenburg, somit eine „Alpenfestung“, errichten zu können. Und auch wenn tatsächlich die Gewährleistung von Sicherheit zu den wichtigsten Aufgaben des Staates zählt, so besteht diese doch gleichzeitig auch in der Sicherung der persönlichen Freiheit. Wer Freiheit und Sicherheit gegeneinander ausspielt, wer also – in Benjamin Franklins Worten – „die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren“.

Im Verständnis von Willy Brandt und Helmut Schmidt, wonach Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Eigenvorsorge gepaart sein müssen mit einem öffentlichen Raum der Solidarität, Humanität und des Gemeinwohls, braucht es jetzt Festigkeit in unseren Grundsätzen, Flexibilität in der Umsetzung unserer Ziele, geschmeidige Anpassungsfähigkeit an neue Situationen.

Gelassenheit und Geduld einerseits bei gleichzeitig zäher Hartnäckigkeit und mutigerEntschlossenheit andererseits – diese Eigenschaften unterscheiden den jetzt so dringend notwendigen Pragmatismus von dem leider derzeit dominierenden boulevardistischen Populismus, dem punktuellen Aktionismus, dem wetterwendigen Opportunismus. Diese bringen weder bei der Wahlbeteiligung noch beim Wahlergebnis den gewünschten Erfolg. Schließlich ist rechts überholen laut Straßenverkehrsordnung nichtgestattet.

So will ich schließen mit den Worten des Staatskanzlers Maria Theresias, Graf Kaunitz-Rietberg: „Vieles wird nicht gewagt, weil es schwer scheint; weit mehr ist es nur darum schwer, weil es nicht gewagt wird.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2016)

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