„Ich war eine Punkerin“

Unterwürfig? „So bin ich nicht erzogen worden. Das erklärt sicher manche meiner Probleme im Musikbetrieb.“ Olga Neuwirth über steirische Vergangenheit, ihre Gegenwart als Komponistin und warum sie doch kein weiblicher Miles Davis wurde.

Olga Neuwirth, einem Ihrer großen Komponistenkollegen vergangener Tage, Gustav Mahler, wird der Satz zugeschrieben: „Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.“ Können Sie dem als Komponistin zustimmen?

Ich bin seiner Meinung. Es gibt keine perfekte Notation, es ist immer eine „fuzzy logic“ dabei, auch wenn man noch so genau versucht zu notieren. Es bleibt immer etwas offen, das Unsagbare, das Unbekannte schwingt immer mit – die Vorstellung der Musiker, des Dirigenten, des gesamten Klangkörpers.

Sie hatten vor, Trompeterin zu werden; warum ist es dazu nicht gekommen?

Als Punk in der österreichischen Provinz der 1980er-Jahre hat mich eher das harte Pflaster der Großstadt angezogen als die Almwiesen, und daher habe ich Schlagzeug und Trompete gelernt und habe aufgrund eines unverschuldeten Unfalls und einer Kieferzertrümmerung keine Möglichkeit mehr gehabt, weiterhin Trompete zu spielen. Ich bin mit Jazz aufgewachsen und hatte sogar das Glück, einmal Miles Davis live zu hören. Ich war hin und weg von seinem Trompetenton. Es klingt vielleicht anmaßend, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ein weiblicher Miles Davis zu werden . . . Jazz war für mich etwas Befreiendes. Die hermetischen Strukturen und die meist noch hegemonial agierenden Entscheidungsträger im klassischen Musikbetrieb fühlen sich für mich einengend an. Ich ecke bestimmt deswegen oft an, weil viele Leute nichts so sehr hassen wie nichtkonforme Individualität und eigenständiges Denken. Und als Frau geht das in unseren Breiten schon gar nicht.

Gab es einen konkreten Anstoß, sich dem Komponieren zuzuwenden?

Genau in dieser Phase, als ich durch diesen Unfall als Heranwachsende völlig irritiert war, ich konnte ja lange Zeit nicht einmal in die Schule gehen, kam Hans Werner Henze in unsere Musikschule nach Deutschlandsberg. Was spannend war: Wie Bruno Maderna ging es Henze um die musikalische Umsetzung von Bildern, von Geschichten, um mit uns Jugendlichen zu arbeiten. Damals schlug ein heftiger Frost in den gerade begonnenen Frühling ein und zerstörte alle Knospen und Triebe. Wir sollten diese Zerstörung in ein kleines Madrigal umsetzen. Wahrscheinlich als Folge des Unfalls empfand ich es angenehm, am Schreibtisch als Schutzort allein zu sitzen und mich auf etwas konzentrieren zu können. Was es genau war, weiß ich aber nicht. Vielleicht konnte ich endlich allein mit meinen Fantasien sein. Mich mit kodifizierten Mikrokalligrafien davonschreiben aus der Realität . . .

Hat auch die Person Henze eine Rolle gespielt?

Natürlich, er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, aber ich hatte später auch negative Erfahrungen mit ihm, vermutlich weil ich musikalisch bald in Richtung der Klang- und Gedankenwelt von Luigi Nono gegangen bin. Durch den Privatunterricht bei Adriana Hölszky in Stuttgart habe ich viele unterschiedliche Partituren kennengelernt, das war sehr wichtig.

Sie haben eine interessante Magisterarbeit geschrieben.

Vor dem Studium in Wien hatte ich mich in San Francisco in die Film- und Malereiklasse am „San Francisco Art College“ (an dem übrigens auch Michael Glawogger einige Jahre vor mir war) eingeschrieben und am „Conservatory of Music“, um in alle drei Bereiche einzutauchen. Und daher wollte ich auch über Bernhard Herrmann und besonders über Franz Waxman meine Magisterarbeit schreiben, durfte aber nicht. Die beiden wurden anscheinend nicht als seriös angesehen in den frühen 1990er-Jahren. Ich liebe zum Beispiels Waxmans Variationen über „Ein Hund kam in die Küche“ in „Rear Window“. Zu komisch! Mein Thema, „Über den Einsatz von Filmmusik in „L'amour à mort“ von Alain Resnais mit Filmmusik von Hans Werner Henze wurde dann akzeptiert.

Wann haben Sie gespürt, dass Komponieren Ihr Leben wird?

Ich glaube, da war ich ein wenig naiv. Zuerst war das Komponieren an sich für mich ein wunderbarer Schutz- und Imaginationsort, ohne zu verstehen, dass man als Komponist völlig abhängig vom Goodwill anderer ist. Völlige Abhängigkeit, genau das Gegenteil meiner Freiheitsliebe. Spielt keiner, singt keiner, dann hört man auch nichts. Es hatte vielleicht auch mit den Comic-artigen Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek bei den Wiener Festwochen zu tun. Da war ich 22. Da ist man zu jung, um abzuschätzen, was das wirklich bedeutet für die eigene Zukunft. Ich lebe von Auftragswerken, das heißt, ich muss immer nur funktionieren. Es gibt immer nur Deadlines. Und das seit mehr als 25 Jahren. Kreativität auf Knopfdruck. Sehr ermüdend, weil es ja so ein langwieriges, altes Handwerk ist. Völlig gegen unsere schnelllebige Zeit gerichtet.

Komponieren Sie nur auf Auftrag?

Ich bin eine der wenigen, die keine Professur hat. Anscheinend traut man mir als Frau trotz all meiner Erfahrungen in unterschiedlichen Bereichen nicht zu, dass ich Wissen weitergeben kann.

Wie würden Sie Ihre persönliche Handschrift definieren? Man sagt, es gehe Ihnen darum, verschiedenste Klang-, Bild- und Sprachmaterialien miteinander zu verbinden.

Es stimmt, dass mich heterogenes Material interessiert. Als ich in den 1980ern zu komponieren begonnen habe, habe ich unter anderem gleichzeitig Purcell und Popmusik eingesetzt, aber nicht so wie Schnittke, sondern auf eine andere Weise, und auch schon Videos. Es war ganz natürlich für mich. So bin ich aufgewachsen. Ich würde meine Musik aber nicht darauf reduzieren wollen. Mir geht es um die Vermischung von Klangfarben, Klangwirkungen, Klangsprachen zu einem Hyper-Klang. Das wird bei mir so verwoben, dass man mitunter gar nicht weiß, welches Instrument was spielt. Bevor ich mich hinsetze, habe ich immer ein klares Konzept, ich weiß immer schon vorher genau, was ich will. Die Kompositionsdauer hängt davon ab, ob mich etwas mehr oder weniger interessiert.

Ein Beispiel?

Das Schlagzeugkonzert für Martin Grubinger, da habe ich lange herumgetan, um einen Weg für mich zu finden. Es ist ja nicht ein Instrument wie zum Beispiel die Violine, es gibt nicht das Schlagzeug, es gibt verschiedenste Instrumente und Möglichkeiten. Was heißt Schlagzeug überhaupt, was ist ein Schlagzeugkonzert, was will ich damit?

Stimmen Sie der Ansicht zu, dass jede Musik autobiografisch ist, dass es per se keine von der Person losgelöste absolute Musik gibt?

Das wird es nie geben, man kann sich nicht völlig ausschalten. Auch in der Zeit strengster Kompositionssysteme haben Boulez, Stockhausen, Nono unterschiedlich geklungen, ihre Individualität ist hörbar, auch wenn sich das nicht wirklich erklären lässt. Es ist im Grunde unsagbar, warum jemand so klingt und der andere eben anders. Sogar beim Zurückgreifen auf ähnliche Kompositionstechniken. Und das ist gut so.

Frau Neuwirth, wie wichtig war Pierre Boulez für Sie, über den Sie einen Nachruf in der „Zeit“ verfasst haben?

Besonders wichtig waren mir die Gespräche mit ihm, und bei seinen Proben zuhören zu dürfen. Aber auch sein so unprätentiös vermitteltes Wissen, und dass ihm kein Stein aus der Krone fiel, wenn er einmal etwas nicht wusste. Dann fragte er nach. Er blieb bis zuletzt neugierig und konnte einem immer wieder andere, neue Perspektiven eröffnen. Noch dazu hatte er einen spitzbübischen Humor, den ich sehr mochte. Sein Tod hat ein großes Loch gerissen. Ich bin überzeugt, dass sich jetzt der Umgang, die Haltung dieser Art von Musik gegenüber wieder verändert ohne ihn. Alles wird wieder konservativer. Er hat für die Integration der zeitgenössischen Musik ins klassische Repertoire gekämpft und war eine unprätentiöse musikalische Autorität.

Neuer Musik wird wiederholt der Vorwurf gemacht, sie sei Zufall, man könne sie formal nicht erklären.

Ich habe aufgegeben, darüber zu reden, ich bin schon fast 50 und sehe keinen Grund, mich immer rechtfertigen zu müssen. Es wird ja auch der Feuerwehrmann nicht ständig gefragt, ob er den Löschhahn richtig hält.

Aber es gibt doch Kriterien?

Die hört man auch, aber die legt man sich heute selber fest. Ob ich zum Beispiel einen Kanon einbauen will oder nicht, das mache ich mit mir aus, ob das einer inneren Logik einer Komposition folgt und was ich mit dieser ausdrücken will. Ob es der Hörer wahrnimmt und erkennt, ist etwas anderes. Es darf aus meiner Sicht aber kein reines Konstrukt sein. Auch glaube ich, wenn man diese Art von Musik öfter hört, dass der Hörer spürt, der eine macht es besser, der andere nicht ganz so gut oder eben anders. Ohne Handwerk, egal, wie man es handhabt, geht es in dieser Musik nicht wirklich, es klingt dann einfach nicht. Man sollte diese Art Musik mehrmals hören und die Vorurteile im Kopf wegschieben, dann hört man bestimmt auch Kriterien, wenn man unbedingt welche finden will und das von Außen gefordert wird.

Musik und Gesellschaftskritik, das ist für Sie doch ein wichtiges Thema?

Ja, schon. Interessanterweise ist es nun wieder in, politisch zu sein, das war lange Zeit verpönt in unserer „klassischen neuen Musik“. Ich bekomme öfters Anfragen zu Symposien über „politische Opern“. Ich sage dann, ich sei keine Sprecherin, sondern Komponistin, und alle meine Opern seien politisch, man hätte sie nur in diesem Sinne realisieren müssen, was nie geschehen ist. Alle Opern wurden immer eher verniedlicht, verharmlost, klein gemacht oder von vornherein unmöglich gemacht. So etwa die geplante große Oper mit einem Libretto von Elfriede Jelinek, da wurden wir von so vielen Opernhäusern angefragt, um nur wieder hinausgeworfen zu werden. Dabei war es überall schon groß angekündigt. Kindesmissbrauch war eben damals, 2002, noch ein Tabuthema, jetzt wurde mit diesem Thema sogar der Oscar gewonnen. Wir waren zu früh.

Sehen Sie bei uns noch die Problematik Mann-Frau?

Bei uns? Meinen Sie Österreich oder den klassischen Musikbetrieb? Der ist sicherlich eine der letzten Männerbastionen, nicht nur in Österreich, sondern weltweit. Es gibt viele jüngere Komponistinnen, und das ist gut so, aber es hat sich die Einstellung Komponistinnen gegenüber nicht geändert. Anscheinend überlegt man sich zuerst, welcher Mann den Auftrag bekommt, das gilt besonders für große Festivals und Opernhäuser. Man braucht nur international auf die Programme zu sehen, das sagt doch alles. Anscheinend wird, wie das ein Kollege kürzlich einforderte, nach „submissiven Frauen“ verlangt. So bin ich nicht erzogen worden. Das erklärt aber sicherlich so manche meiner Probleme, die ich in diesem Betrieb hatte. Ich war eine Punkerin, da sagt man seines, auch als Frau. Habe vor einem Monat in New York die Bassistin der New-Wave-Band „Talking Heads“ kennengelernt. Von da komme ich: mit provokativ sozialpolitischen Songs, die nach Beton riechen, die miefige Umgebung ironisch-laut zu verunsichern. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2016)

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