Simon lernt leben

Wolkenhimmel
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Auch wenn zuerst die Welt unterzugehen droht, tut sie das dann doch nicht, ganz sicher nicht. Wie es ist, Mutter eines behinderten Kindes zu sein.

In den ersten Jännertagen des heurigen Jahres laufen wir vor der Haustür den Heiligen Drei Königen in die Arme. Wir lassen uns sowohl ansingen als auch mit guten Sprüchen versehen, und die gesamten vier oder fünf Minuten, die das dauert, starren die Kinder auf Simon. Simon ist behindert, aber auf den ersten Blick sieht man das nicht so. Nur wenn er sich freut, so wie jetzt, dann reißt es seinen Kopf nach hinten oder auf die Seite, und das sieht ungewöhnlich aus. Die Heiligen Drei Könige singen und starren, und ich spüre einen altbekannten Ärger in mir aufsteigen. „Habt ihr noch nie einen Behinderten gesehen?“, würde ich sie gerne anmotzen, sowohl den Kindern gegenüber als auch der erwachsenen Betreuerin, die etwas sagen müsste, einschreiten, uns aus diesem Angestarrtwerden befreien müsste. Stattdessen starrt sie insgeheim mit und glaubt, ich würde es nicht merken. Simon freut sich indes ungestört weiter, weil er Gesang sehr gerne hat. Endlich ist es vorüber, ich setze ein falsches Lächeln auf und kompensiere meine misanthropischen Gedanken mit einem Geldschein. Das ist Simon, er ist behindert, und ich bin seine Mutter.

Ich habe in den vergangenen 20 Jahren nur einmal darüber geschrieben, wie es ist, Mutter eines behinderten Kindes zu sein. Der Text hatte eine ähnliche Grundstimmung wie dieser hier, ich packte all meine Wut gegenüber der mit Blicken aufdringlichen Außenwelt in einen sarkastischen Text und beschloss ihn mit einem Ausdruck meiner Liebe meinem Sohn gegenüber. Seitdem habe ich nicht mehr über Simon geschrieben, über Behinderung schon, aber immer auf Distanz. Weil ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, aus einem anderen Menschen Kapital schlagen zu wollen, nur weil er zufälligerweise mein Sohn ist und seine Mutter Schriftstellerin.

Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass dieser Vorwurf nicht tragfähig ist. Ganz im Gegenteil dazu wurde mir erst langsam und über viele Jahre bewusst, dass man gerade, wenn man eine öffentliche Stimme hat, und sei es auch nur eine kleine, diese einsetzen muss für die Dinge, die einem am Herzen liegen. Es ist wichtig, dass behinderten Menschen mehr Stimme im öffentlichen Diskurs gegeben wird, und wenn sie das nicht selbst tun können, ist für sie einzuspringen die Pflicht derer, die das können.

In einigen Monaten, im kommenden August, wird Simon 20 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie oft ich in diesen Jahren gefragt worden bin, ob man „das“ denn nicht hätte verhindern können. Gerne erkundigt man sich auch, wer von den Eltern denn das verderbliche Gen in sich trug – also wer an der Misere schuld ist. Merklich enttäuschte Gesichtszüge bewirkt die Antwort, dass beide Elternteile es in sich trugen. Wenn ich hinzufüge, dass jeder Mensch bis zu sieben fehlerhafte Gene in sich herumträgt, dann sind sie entrüstet. Das hat ihnen, den Fragenden, keiner gesagt, dass der Mensch so ein verflixt fehlerhaftes Wesen ist. Zukünftige Eltern behinderter Kinder werden vielleicht gefragt werden, wieso man denn diesenFehler nicht im Gen-Labor ausgemerzt hat. Vielleicht wird es aber in Zukunft auch nur mehr durch Unfälle behinderte Menschen geben, wer weiß. Denn der Druck auf Eltern, die durch die vielen pränatalen Untersuchungenverunsichert werden und Embryos abtreiben lassen, die vielleicht behindert geworden wären, steigt.

Ich hatte immer das Gefühl, dass wir es gut getroffen haben. Simon ist geistig und körperlich behindert, aber von allem nur ein bisschen. Genauer möchte ich auf seine Behinderung nicht eingehen, damit würde ich ja doch wieder nur den Voyeurismus bedienen, der mir den letzten Nerv raubt. Ich habe durch Simon keine Einschränkungen erfahren müssen, hingegen viele Dinge erlebt, die ich mit einem ganz normalen Sohn nicht hätte erleben können. Ich sehe viele Dinge durch Simons Augen. Wenn er glücklich ist, dann zeigt er das auf auffällige Art und Weise und steckt alle, die dabeistehen und halbwegs weitherzig sind, mit seinem Glück an. Nebenbei ist er der beste Mitbewohner der Welt.

Zusätzlich führte und führe ich ein ausgeglichenes Liebesleben. Simon und seine Behinderung waren für keinen meiner Partner jemals ein Grund, nicht mit mir zusammensein zu wollen. Manchmal war es nicht so einfach, Zeit für mich oder die Beziehung zu haben, das unterscheidet mich aber nicht von anderen Eltern. Heute bin ich mit einem Mann verheiratet, der Simon genauso als Bereicherung sieht wie ich. Wobei ich dieses Wort gleich wieder vergessen machen möchte, denn es ist nicht nur wichtig, dass man stets betont, dass ein Leben mit Behinderung nicht per se eine Herausforderung sein muss, ein Blick durch die rosarote Brille ist meiner Meinung nach ebenso kontraproduktiv. Es ist halt ganz normal, dieses Leben und Miteinanderleben. Das Schiff des Alltags gehtnicht unter, wenn man ein Kind mit Behinderung auf die Welt bringt.

Simon und ich frühstücken in einer Bäckerei, und auffallend freundlich lächelt uns die Frau vom Nebentisch zu. Ich nehme an, sie ist selbst Mutter eines behinderten Kindes, denn so ungefähr (so „wissend“) versuche ich auch immer die anderen Eltern behinderter Kinder anzulächeln, weil ich es noch blöder finde, auffällig unauffällig wegzuschauen. Die Frau kommt dann bald an unseren Tisch und sagt: „Diese Menschen geben uns so viel.“ Sie meint Simon. Und egal, wie gut sie es meint, sie grenzt ihn schon wieder aus, allein, dass sie ihn nicht direkt anspricht, allein durch den Gebrauch eines Demonstrativpronomens.

Als Simon noch ein Kleinkind war, vielleicht höchstens ein Jahr alt, da sagte ein unsensibler Arzt, ich müsse diese und jene Therapien mit ihm machen, intensiv und beschleunigt, sonst „würde daraus nix mehr“. Mit „daraus“ meinte er das liebenswerte, entwicklungsverzögerte, aber immer fröhliche Bündel Mensch vor sich. Wir haben viele Therapien gemacht und mit zunehmender Lebenserfahrung viele Therapien nicht gemacht (oder nicht mehr so häufig). Es gibt so etwas wie die Gefahr des Übertherapierens, und ich glaube, die tritt ein, wenn Eltern vermeinen, dass eine bestimmte, für das Kind manchmal sogar schmerzhafte Methode Wunder bewirken kann. Wunder gibt es nicht. Simon lernte gegen alle Voraussagen und obwohl er zwischendurch einen Rollstuhl benutzte, zu stehen und zu gehen. Heute geht er, langsam, aber sicheren Schrittes, mit unserem Hund Gassi. Simon lernte zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, und das alles sehr gut. Simon lernt immer noch zu sprechen. Wenn manpartout nicht versteht, was er sagt, dann schreibt er es halt auf. Es ist eigentlich doch ein Wunder. Aber eines, für das er nicht gequält werden musste.

Was mir so auf dem Herzen liegt: dass es nichts Schlimmes sein muss, ein behindertes Kind zu gebären. Auch wenn zuerst die Welt unterzugehen droht, tut sie das dann doch nicht, ganz sicher nicht. Die Anverwandten, Großeltern, Tanten, Onkel, der ganze eben noch so freudige Anhang, alle reagieren oft erst nicht sehr hilfreich (zum Beispiel brechen sie inTränen aus, was so ziemlich die unproduktivste Reaktion ist, die eine soeben geboren habende Mutter brauchen kann). Oder sie reden sich ein, dass das Kind, wenn es einmal erwachsen ist, ganz sicher „normal“ sein wird. In unserem Fall hatten und haben wir eine liebevolle und hilfsbereite Großmutter, die seit Simons Geburt Betreuungsaufgaben übernimmt oder auch einmal schnell mit ihm in den Urlaub fährt. Mein mittlerweile verstorbener Vater, der, aus einer anderen Generation stammend, mit behinderten Menschen absolut nichts anfangen konnte, hat durch Simon definitiv seinen Horizont erweitert.

Auch ich selber habe meinen Horizontin Bezug auf Menschen mit Behinderung erweitert – Behinderung ist ja nicht Behinderung. Simon selbst hat mir beigebracht, ruhiger und vorurteilsbefreiter zu werden. Nur manchen Ärzten gegenüber fällt mir das nicht immer leicht – oder SternsingerInnen, seien sie auch noch so klein, die uns anglotzen, als entstammten wir einer völlig anderen Welt.

Es ist ein lauer und schöner Spätnachmittag, als wir beim Haubenrestaurant ankommen. Wir sind von unserer Frühstückspension zu Fuß hierher spaziert, und wir freuen uns sehr auf das mehrgängige Menü, das wir uns leisten, um das Leben zu feiern. Wir sind: mein Mann, ich – und Simon. Ich habe leichtes Bauchweh und bin nervös, weil ich nicht weiß, was für eine Klientel in diesem Restaurant anwesend sein wird, ob sie uns anstarren wird, ob sie uns das Gefühl vermitteln wird, dass wir hier nicht hergehören oder, noch ärger, dass wir nicht willkommen sind, weil hier eine genormte und vorhersehbare Welt unter sich sein will. Alle unsere Sorgen erweisen sich als unbegründet. Vom Chef angefangen über das Personal bis zu den restlichen Gästen, alle verhalten sich uns gegenüber professionell normal und Simon gegenüber mit liebenswerter Freundlichkeit. Die Umwelt macht das Anderssein für uns nicht stressiger, als es ist. Wir erleben einen wunderschönen und völlig normalen Abend. So kann es also auch gehen. Also bleiben wir lang und feiern das Leben.

Was uns nicht hilft, ist, hinter unseren Rücken zu tuscheln. Was uns nicht hilft, sind Eltern, die ihre kleinen Kinder schnell vorbeizerren, weil die neugierig sind. Man darf das Wort „behindert“ uns gegenüber ruhig in den Mund nehmen, wir halten das aus, auch wenn es wohl schöner ist, von einem „Menschen mit Behinderung“ zu sprechen. Was uns hilft, sind Freundlichkeit und Empathie. Was uns hilft, ist, wenn wir alle behandelt werden als das, was wir sind: ganz normale Menschen. ■

Geboren 1976 in Spielfeld. Lebt in Graz. Studium der Sprachwissenschaft und Germanistik. 2014 im Leykam Verlag: die Erzählung „Auf Watte“, 2015 ebendort Herausgeberin des Bandes „Franziskus unser. Literarische Positionen zum Papst“. Demnächst erscheint im Berliner SuKuLTuR Verlag: „Roh wie romantisch. Ein Reigen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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