Tag der Schande

Vor 70 Jahren, am 8. Mai 1946, amnestierte die Tschechoslowakei die Nachkriegsverbrechen an den Deutschen.

Es gibt Jahrestage, die man nicht feiert. Niemand redet über sie öffentlich. Als wäre nichts geschehen. Ungesühnte Verbrechen. Opfer, die angeblich nie existierten. Nicht bestrafte Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen, Verbrennungen, Tötungen von Säuglingen. Eine Gesellschaft, die will, dass diese massenhaften Verbrechen vergessen bleiben, wird keine Ruhe finden. Bis sich jemand findet, der laut wenigstens einen Satz sagt: „Es tut mir leid.“

Der 8. Mai ist so ein Tag, an dem wir einen Jahrestag nicht begehen. Vor 70 Jahren, am 8. Mai 1946, beschloss die Provisorische Nationalversammlung der Tschechoslowakei das Gesetz 115/1946 „über die Rechtmäßigkeit von Handlungen im Zusammenhang mit dem Kampf für die Neuerwerbung der Freiheit der Tschechen und Slowaken“.

Zwar nahm die Mehrheit der europäischen Länder einmalige, also nur für die Kriegszeit geltende Normen an, um etwa Widerstand oder Partisanenkampf während des schrecklichen Kriegs zu legitimieren. Das Gesetz 115/1946 erweiterte aber zielgerichtet die Amnestie auf alle Nachkriegshandlungen, „die auf die gerechte Vergeltung der Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer“ zielten. Dies galt bis zum 28. Oktober 1945, also bis fünf Monate nach Kriegsende. Ziel war es nach den Worten von Präsident Edvard Beneš, die Deutschen um jeden Preis aus der Tschechoslowakei „herauszuliquidieren“.

„Gerechte“ Vergewaltigungen

Die Armee bekam den Auftrag durchzuführen, was Rafael Lemke schon 1944 als „Genozid“ definierte – einen „koordinierten Plan von verschiedenen Aktionen, um die essenziellen Lebensgrundlagen der deutschen Minderheit auf dem Gebiet der Tschechoslowakei zu zerstören“. Die absolute Mehrheit unterstützte den Regierungskurs.

Noch vor der Potsdamer Konferenz Ende Juli 1945 sollte eine Situation geschaffen werden, die den Alliierten keine andere Entscheidung erlaubte als die Abschiebung jedweder Deutschsprachiger aus der Tschechoslowakei. 700.000 Zivilisten wurden von Mai bis zur Konferenz über die Grenze getrieben. Weitere mehr als eine Million wurden in Konzentrationslagern festgehalten. Und es ging nichtnur um Deutsche oder Magyaren, sondern auch um Juden. Sie wurden oft behördlich als Deutsche eingestuft und aus dem Land vertrieben – ohne ihr Eigentum.

Die offizielle Auslegung lautete, dass die massenhafe Gewalt gegen deutsche Zivilisten nur eine spontane Reaktion der Bevölkerung auf die Okkupation gewesen sei. Diese Unwahrheit hat ihre Wirkung auf Tschechiens Öffentlichkeit auch nach 70 Jahren nicht verloren. Das Gesetz war barbarisch. Wir sollten das bekennen. Es untergrub die Grundlagen der Demokratie und des Rechtsstaates an sich. Zwar wurde 1947 eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt. Sie verschwand aber sofort nach dem Februar 1948, der Machtergreifung der Kommunisten. Und die Justiz schaute weg. Die Staatsanwaltschaft in Nové Jičín zum Beispiel schloss die Akte über dokumentierte Vergewaltigungen, Folter und über sexuelle Versklavung in Hranice na Moravě. Das sei nicht strafbar gewesen, sei doch der „Geschlechtsverkehr mit deutschen Frauen, selbst wenn erzwungen, eine gewisse Form der gerechten Vergeltung nach Paragraf 1 des Gesetzes 115/1946“.

Nur Monate später verurteilten dieselben Richter auf Wunsch der Kommunisten die eigenen Bürger, Tschechen und Slowaken, in konstruierten Prozessen.

Das Gesetz 115/1946 machte dieMöglichkeit eines tschechoslowakischen demokratischen Rechtsstaates als solche zunichte. Dafür zahlen wir bis heute. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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